Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftstheorie

Ein anderes Beispiel, wie man Soziologie und Historiografie analytisch verbinden kann, um sich über die Gegenwart zu informieren. Es stammt aus meinem letzten Forschungsprojekt über die deutsche Rassenanthropologie, die ein ganz merkwürdiges Phänomen ist. Sie begann im 19. Jahrhundert Menschen zu vermessen, um über anthropologische Merkmale auf die genetische Beschaffenheit bzw. rassische Zugehörigkeit von Individuen schließen zu können. Die Grenzen zur Eugenik und zur Rassenkunde verflossen, die Anthropologie bildete eine enge Symbiose mit dem nationalsozialistischen Regime, konnte aber nach 1945 ihre Arbeit ohne größere personelle und inhaltliche Verluste fortsetzen. Das ist nicht erstaunlich, sondern eine typisch deutsche Geschichte. Irritierend ist vielmehr, dass fast seit Beginn an das Scheitern der Anthropologie beklagt wird — von den Anthropologen selbst. Etwa ein Jahrhundert lang kann man fast wortgleich in allen ihren Texten lesen, dass es zu wenige Daten gebe, um die erbbiologischen und rassenkundlichen Annahmen belegen zu können, gleichwohl aber zu viele Daten, um sie mit den analogen Technologien verarbeiten zu können, dass das grundlegende ABC der Vererbungslehre nicht einmal ansatzweise bekannt sei, dass die unterschiedlichen Studien aus methodischen Gründen kaum vergleichbar waren, oder dass man durch anthropologische Messdaten eben doch nichts über die Gene erfuhr. Alle Texte verkündeten aber: Zukünftig werden wir diese Probleme gelöst haben. Zuletzt verbreitete Ilse Schwidetzky diesen Optimismus in einer großangelegten Bestandsaufnahme der Anthropologie im Jahre 1982 (unter dem Titel „Maus und Schlange“), erst danach ist die Rassenanthropologie endgültig von der Bildfläche verschwunden.

Eine Pseudowissenschaft war sie nicht, und das ist mein Punkt. Sie imitierte nicht wissenschaftliche Verfahren, sondern wendete sie geradezu skrupulös an, bis hin zu einer extensiven Fehlerkritik. Wenn man Hansjörg Rheinbergers Begriff des „Experimentalsystems“ metaphorisch etwas dehnt, hat man ein interessantes Modell, die Anthropologie seit dem 19. Jahrhundert zu beschreiben. Unzählige Bevölkerungsexperten werkelten am „epistemischen Ding“ Bevölkerung, um es in eine eindeutige Entität zu verwandeln. Das Ziel dieser Bemühungen war allerdings die soziale Ordnung, denn Bevölkerungsfrage behandelte vom späten 18. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre die soziale und ethnische Ordnung im biologischen Gewande, sie war dezidiert auf den Erhalt des sozialen Status Quo ausgerichtet.

Trotzdem: Wie gingen sie mit dem Scheitern um? Sie behalfen sich mit einer eigentümlichen Temporalisierung: Früher habe man noch weniger gewusst, heute seien frühere Fehler korrigiert, zukünftig werde man die erforderliche Datendichte erreichen, um die erbbiologischen Theoreme, von deren Richtigkeit man überzeugt war, tatsächlich beweisen zu können. Bis dahin durfte man mit Handlungen nicht warten, im Gegenteil: Gerade weil man heute noch so wenig wisse, müsse man umgehend handeln, um künftige erbbiologisch irreversible Fehlentscheidungen zu vermeiden. Deshalb suchte die Rassenanthropologie (weitgehend vergeblich) das Bündnis mit der Genetik und sah im Nationalsozialismus, anders als Sozialingenieure, durchaus kein Störgeräusch. Durch Abstammungsgutachten und Forschungsarbeit in Vernichtungslagern waren viele der Anthropologen eng in die NS-Vernichtungspolitik involviert.

Hätte das nicht schon damals auffallen müssen? Nicht unbedingt, denn der Anthropologie ist es gelungen, auf eine überzeugende Weise Evidenz zu erzeugen. Die bedrohte soziale Ordnung zu stabilisieren, stieß auf politische Resonanz. Wir haben es also im Sinne Peter Weingarts u.a. mit einer spezifischen Verflechtung des Systems Wissenschaft und einer sozialen Formation zu tun. Die Wissenschaft erhielt mit bürgerlichen Abstiegsängsten Legitimation, während Angehörige der Mittelschicht die Wissenschaft als Waffe in sozialen Auseinandersetzungen nutzen konnten.

Außerdem der streng empirisch-reflektierte Zugriff: aufwendige empirische Erhebungen, Diskussion der Forschungsliteratur, aufwendiger Apparat der Fehlerkorrektur mit mathematischen Formeln, Umrechnungstabellen usw., Schlüsse die oft als nur „provisorisch“ ausgewiesen wurden, die Formalisierung von Rassediagnosen etc. Flankiert wurde das durch graphische Überzeugungsstrategien, d.h. „objektive“ Photographien, Kurven, die redlich mehrere mögliche Prognosen auswiesen, die visuelle Übermächtigungskraft von Piktogrammen oder typographische Mittel, wenn Zweifel in Normalschrift (oder in Klammern), Ergebnisse aber in Sperrschrift gedruckt wurden.

So sollte den Lesern der Übergang vom nordischen zum osteuropiden Rassentypus visuell eindrücklich vor Augen geführt werden. In den Abbildungen nimmt angeblich von links oben nach rechts unten der ostische Anteil immer stärker zu (Egon Frhr. von Eickstedt: Die Forschung am Menschen, 1940, Bd. 1, S. 558).
So sollte den Lesern der Übergang vom nordischen zum osteuropiden Rassentypus visuell eindrücklich vor Augen geführt werden. In den Abbildungen nimmt angeblich von oben nach unten der ostische Anteil immer stärker zu. Links oben: vier Anteile ostischer, zwei nordischer Rasse, rechts unten: rein ostisch (Egon Frhr. von Eickstedt: Die Forschung am Menschen, 1940, Bd. 1, S. 558).
Eine der visuell-statistischen Kontrollmethoden Ilse Schwidetzkys. Es handelt sich um eine Art Meta-Formalisierung: Empirische Befunde werden in die Grafiken eingetragen, Häufung und Gleichmäßigkeit innerhalb dieser Grafik indizieren eine sauber durchgeführte Erhebungsarbeit (Ilse Schwidetzky: Methoden zur Kontrolle der v. Eickstedtschen Rassenformeln, in: Zeitschrift für Rassenkunde, 1935, H. 2, S. 34).
Eine der visuell-statistischen Kontrollmethoden Ilse Schwidetzkys. Es handelt sich um eine Art Meta-Formalisierung: Empirische Befunde werden in die Grafiken eingetragen, Häufung und Gleichmäßigkeit innerhalb dieser Grafik indizieren eine sauber durchgeführte Erhebungsarbeit (Ilse Schwidetzky: Methoden zur Kontrolle der v. Eickstedtschen Rassenformeln, in: Zeitschrift für Rassenkunde, 1935, H. 2, S. 34).

So wurde ein riesiger begrifflich-methodischer Apparat aufgezogen, der dennoch mit sehr groben Kategorien arbeitete, um viel zu wenige — und fehlerbehaftete — Daten in „vermutlich“ sichere bevölkerungsbiologische Schlüsse umzuwandeln, deren Richtigkeit gleichwohl erst die Zukunft erhärten würde. Eine fluide, heterogene anthropologische Realität war wissenschaftlich so zu homogenisieren und politisch zuzurichten, dass einerseits diese Heterogenität durch die Wissenschaft nicht übermächtigt erschien und die Wissenschaft sich nicht ideologischen Vorgaben unterworfen fühlte, sondern andererseits die empirisch-theoretisch präparierten rassischen Generalisierungen als natürlichen Entitäten entsprechend erschienen und politischen Interventionen sich deshalb ganz offensichtlich aus der Sachlage ergaben. Deshalb auch gab kein Anthropologe in seinen Texten vor, wirklich bewiesen zu haben, was zu beweisen war — aber jeder war sicher, kaum noch widerlegt werden zu können.

Und mit dieser Praxis waren sie erfolgreich, und deshalb ist die Rassenanthropologie nur empirisch gescheitert, politisch aber eine höchst erfolgreiche Disziplin gewesen, die in jeder Beziehung auf die Zukunft zielte: in ihrem gestalterischen Willen, und in der Hoffnung, ihre empirischen Unzulänglichkeiten überwinden zu können. Was bringt uns aber diese Historie? Nun, ein Finger zeigt auf die, drei aber auf uns: für welche Formen der wissenschaftlichen Evidenzerzeugung sind wir eigentlich empfänglich? Welche (auch harmloseren) weltanschaulichen Fragen lassen wir uns durch die Wissenschaft belegen, weil sie uns behagen? Die Rassenanthropologie ist eine Extremform, aber an ihrem Beispiel kann man — gerade wegen ihrer Ambivalenz — Wissenschaftsgeschichte zur Wissen(schaft)ssoziologie wenden, also theoretisieren.

Ein Gedanke zu „Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftstheorie“

  1. Lieber Thomas Etzemüller,

    Wissenschaftsgeschichte im Verhältnis zu Wisssenschaftstheorie (historisch und systematisch), herrliches Thema!

    Ungern unterbreche ich den lebendigen, faszinierenden, fast idealen interdisziplinären Diskurs zweier identitätsstarker Partner.

    Ein wunderbares Vorbild für Habermas‘ Vorstellung vom idealen GESELLSCHAFTLICHEN Diskurs unterschiedlichster Perspektiven, Erkenntnisfähigkeiten und -interessen.

    Aber als Soziologe brennen mir beim Thema „Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie“ zwei Fragen auf der Zunge und auf der soziologischen Seele:

    1.) Wie sehen Sie als Historiker die Wissenschaftsgeschichte der
    SOZIOLOGIE von 1933 – 1945?

    2.) Welche wissenschaftstheoretischen Implikationen hat diese Phase
    der Geschichte der Soziologie für Sie als Historiker und welche
    soziologisch-systematischen Phantasien tauchen eventuell bei
    Ihnen auf in Relation zu dem von Gerhard Wagner zu Recht
    konstatierten und von mir zitierten „Absturz der Soziologie“?

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