Der Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat das Leben der Menschen in Europa grundlegend verändert. Für viele hat sich Krieg als ein Teil ihrer Realität unmittelbar realisiert, den sie vorher nur aus dem Fernsehen kannten, auf jeden Fall aber immer weit weg erschien. Diesen Eindruck haben auch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und auf dem Balkan nicht wirklich erschüttern können. Doch plötzlich klopfte ein brutaler Angriffskrieg an Europas Tür. Weniger als 1000 km von der deutschen und weniger als 100km von der polnischen Grenze entfernt, in der Stadt Lwiw im westlichen Teil der Ukraine sind seit März 2022 immer wieder russische Raketen mit tödlichen Folgen eingeschlagen.
Immer wieder ist gefragt worden, warum wir es ‘hier bei uns in Europa‘ nicht vorhergesehen haben, warum man so wenig darauf vorbereitet war. Tatsächlich haben die meisten Experten in den ostwärts gewandten Regionalwissenschaften, in den Politikwissenschaften und in den Internationalen Beziehungen bis zuletzt nicht an das Übertreten der ‘roten Linie‘ durch Vladimir Putin geglaubt, selbst als nach wochenlangen, großangelegten Manövern im Grenzgebiet zur Ukraine die russische Armee in das seit 2014 von Separatisten besetzte, ukrainische Gebiet des Donbass eindrang.
Es wird auch intensiv diskutiert, inwiefern dieser Krieg über die Grenzen eines zwischenstaatlichen Konflikts zweier Länder hinausgeht und eigentlich ein Stellvertreterkrieg ist, der globale, kulturelle und sogar zivilisatorischen Konfliktlinien repräsentiert. Dabei wird immer wieder die Frage gestellt, wie die russische Bevölkerung dazu steht, warum sie diese Katastrophe zulässt und den Machthabern im Kreml nicht Einhalt gebietet? Stimmen tatsächlich 70-80% der Russen dem Angriffskrieg zu und legitimieren Vladimir Putin als Präsident und obersten Befehlshaber?
Meinungsumfragen als politisches Machtinstrument
Um sich diesem Thema nähern zu können, ist man auf sozialwissenschaftliche Meinungsforschung angewiesen. Deren Arbeitsweise und Datenproduktion ist allerdings in Gesellschaften mit autoritären politischen Regimen höchst problematisch. Dabei geht es zwar auch um Aspekte wissenschaftlicher Freiheit, aber vielmehr darum, wie Sozialforschung vom politischen Regime zur Machtsicherung und Manipulation öffentlicher Meinung eingesetzt wird. Damit verbunden ist auch die Frage, wie sich denn Respondenten unter diesen Bedingungen in Befragungssituationen verhalten. Inwieweit können also Ergebnisse von Meinungsumfragen in Russland die tatsächliche Unterstützung des Regimes und des Krieges in der Bevölkerung abbilden?
Seid Vladimir Putins Aufstieg in die Kreml-Führung im Jahre 2000, der von einer anfänglichen hohen Zustimmungsrate (84% im Januar 2000) nach einer Periode der politischen Müdigkeit im Russland unter Boris Yeltsin getragen wurde, war der neue Präsident und die sich unter ihm entwickelnde politische Maschinerie auf Zustimmungswerte fixiert, während Soziolog:innen am ‘politischen Planungsprozess‘ teilnahmen. Ergebnisse von Meinungsumfragen in der Bevölkerung haben seitdem deutlichen Einfluss auf politische Entscheidungen. Für den politischen Philosophen Greg Yudin sind Meinungsumfragen im Putin-Russland also nicht reines window-dressing für ausländische Beobachter:innen, sondern sind integraler Bestandteil des politischen Regimes und seines Verhältnisses mit der Bevölkerung. Yudin argumentiert, dass sich Russland in einem ständigen Plebiszit befindet, der öffentliche Unterstützung für Vladimir Putin reproduziert. Ohne beständige politische Meinungen versteht demnach der Großteil der russischen Bevölkerung Meinungsumfragen als eine Art Zustimmungsspiel oder Loyalitätstest.
Die Produktion von ‘richtigen‘ Antworten
Aber welche Instrumente stellen die ‚richtigen‘ Resultate her, die den politischen Willen unterstützen und eine öffentliche, das politische Handeln legitimierende Meinung repräsentieren? Die zwei großen, staatsnahen Meinungsforschungsinstitute WTCIOM und FOM haben die Aufgabe übernommen, Zustimmung zur produzieren – wohlgemerkt, ohne offensichtliche Fälschungen. Vielmehr wird bestimmtes Antwortverhalten stimuliert, in dem man die ‘richtigen‘ Fragen stellt. So werden Studienteilnehmer:innen in der Fragestellung auf die richtige Antwort hingewiesen, zum Beispiel, durch die Klarstellung, welche Antwortoption denn mit dem Gesetz vereinbar oder moralisch-normativ legitimiert ist. Auch wird die Varianz der Antwortoptionen stark reduziert, so dass nur noch politisch wünschenswerte Möglichkeiten bleiben, z.B. werden verschiedene staatliche Medien bei der Mediennutzungsbefragung gelistet, aber keine unabhängigen Kanäle. Dazu passt, dass seit einigen Jahren offene Fragen aus den Interviewleitfäden verschwunden sind. Weiterhin spielt die Befragungssituation eine wichtige Rolle, denn stabile Zustimmungswerte für Putin und dem Fortgang des Krieges sind in Okkupationsgebieten zu beobachten, die abhängig von russischer humanitärer Hilfe sind. Ein eingesetztes Mittel ist auch immer wieder das Unterverschlusshalten von Umfrageergebnissen. Während der Kreml die staatsnahen Umfrageinstitute in dieser Hinsicht gut kontrolliert und ein bis zwei Drittel ihrer Ergebnisse gar nicht erst publiziert werden, gelingt das beim einzigen noch unabhängigen großen Umfrageinstitut Levada Center weniger. Allerdings ist es allen staatlichen Medien, also der absoluten Mehrheit, verboten, Levada-Daten in ihrer Berichterstattung zu benutzen.
Fluide und unterrepräsentierte Meinungen
Erfahrene Analysten mahnen noch aus anderen Gründen zur Vorsicht bei der Interpretation von Meinungsumfragen bezüglich der Unterstützung des Krieges. Kiril Rogov hat erst kürzlich auf Basis von Daten aus drei unterschiedlichen Studien russischer Umfrageinstitute argumentiert, dass Menschen, die dem Regime loyal gegenüberstehen und den Krieg unterstützen, unter den Respondenten überrepräsentiert sind. Dagegen geben Kritiker überproportional an, dass sie sich „ängstlich oder unwohl fühlen”, wenn sie über ihre Meinung reden. Hinzukommt, dass aufgrund von Gesetzen, die direkt nach dem Beginn des Krieges in Russland verabschiedet wurden und welche die Verunglimpfung der russischen Armee und Kritik an der „militärischen Operation“ (wozu auch die Benutzung des Wortes ‘Krieg‘ zählt) unter Strafe stellen, eine negative Antwort auf die Frage, ob man den russischen Militäreinsatz unterstützt, quasi einer Straftat gleichkommt. Direkte Opposition ist also kostspielig und in jeder Umfrage gibt es nur eine kleine Gruppe Teilnehmer:innen mit diesem Antwortverhalten (ca. 10%). Allerdings stellt die Gruppe der bedingungslosen Befürworter:innen auch nicht die Mehrheit. Je nachdem, welche Studie man liest, sind es 30-40%. Der Großteil der Befragten ist in der Regel unentschieden, hat Reservierungen oder möchte nicht antworten. In diesem Zusammenhang haben weitere russische Kolleg:innen auf Basis intensiver Interviewforschung im Land argumentiert, dass die Mehrheit der Russen eine sehr “fließende“ und unsichere Wahrnehmung vom Krieg gegen die Ukraine haben, in der sich viele Muster des Für und Wieder vermischen.
Diese Überlegungen demonstrieren eindrücklich, wie wichtig es ist, sozialwissenschaftliche Daten in der öffentlichen Diskussion zu kontextualisieren und in ihrer gesellschaftlichen Konstruiertheit zu klären. Dies gilt insbesondere, wenn diese Daten sowohl die politisch einflussreiche öffentliche Meinung in anderen Ländern, als auch interkulturelle Beziehungen und Einstellungen beeinflussen.