Vom Einander-Verstehen und der Besetzung von Begriffen

Es geht stark auf Weihnachten zu, da wird es Zeit über gegenseitiges Verstehen nachzudenken (das sollte ja eine Kernkompetenz jedes Soziologen sein).

Also: Verstehen wir einander noch? Zunächst: Wie komme ich auf diese Frage? Liest man die bisherigen Papiere aus dem Akademie-Gründungsprozess, dann fallen immer wieder Begriffe auf, die dort einerseits zentral zu sein scheinen, weil sie in schöner Regelmäßigkeit wiederholt werden. Es fällt aber auch auf, dass sie wie selbstverständlich verwendet werden und – mehr noch – so, als sei zweifelsfrei festgestellt, was sie bedeuten. Und zwar für die Soziologie insgesamt. Diesen Sprach-Duktus finden wir auch anderswo: In der Psychologie ist es der naturwissenschaftlich orientierten Test-Psychologie erschreckend gut gelungen, die klinische und kritische Psychologie einschließlich der Sozialpsychologie zu marginalisieren. In der Erziehungswissenschaft beobachten wir gerade die Anfänge einer ähnlichen Bewegung, wenn die Empirische Bildungsforschung mit dem Argument der Evidenzbasiertheit ihrer Befunde immer mehr Raum und Ressourcen im Fach beansprucht. Dort hat man immerhin den Anstand, das eigene Tun mit einem spezifischen Label zu benennen und nicht die Bezeichnung Erziehungswissenschaft engzuführen. Allerdings finden wir auch im Fall „Vom Einander-Verstehen und der Besetzung von Begriffen“ weiterlesen

Organisation und Repräsentation

Die Tatsache, dass die Initiatorinnen der Akademie dieser das Wort „Soziologie“ beigesellen, hat für viel Verdruss gesorgt, selbst bei wohlmeinenden Kollegen, die den umgekehrten Verdruss der Akademie-Gründerinnen über die aktuelle Verfassung der DGS und ihrer Gremien in größeren Teilen nachvollziehen konnten, aber sich und ihre Art Soziologie zu treiben in der Akademie nicht wiederfinden. Hätte sich eine „Akademie für standardisierte Sozialforschung“ gegründet, hätten sich manche vielleicht gefragt: Wofür brauchen wir so etwas? Empörung wäre aber vermutlich nicht aufgekommen.

What’s in a name? Mir fiel dazu kürzlich ein Zitat des Begründers der Tübinger Soziologie, Ralf Dahrendorf, in die Hände:

„Soziologie ist das, was die Leute, die sich Soziologen nennen, tun, wenn sie von sich sagen, daß sie Soziologie betreiben. Mehr nicht. Die Suche nach ‚der Soziologie‘, als sei sie ein Ding, gar ein Ding an sich, ist reine Metaphysik, boden- und hoffnungslos zugleich. … Gewiß ‚darf man fragen, ob eine wissenschaftliche Disziplin ‚im Kern‘ so etwas wie eine ‚innere Einheit‘ darstellt‘; nur eine Antwort auf die Frage darf man nicht erwarten. Es gibt keinen Kern von Fachdisziplin und auch keine innere Einheit, sondern nur deren historisch gewachsene äußere Mehr-oder-minder-Einheit. Alle weiteren Fragen sind empirisch: was verbindet die Leute, die sich zugehörig fühlen, wenn sie ihr Tun mit dem Namen des Faches zieren?“ [1]

 

Es können also, mit Dahrendorf gesprochen, Leute etwas tun, was sie Soziologie nennen, und dann ist es auch Soziologie. Nun würden wir vermutlich „Organisation und Repräsentation“ weiterlesen

Soziologie und Politik: Geht da was?

 

Rund um die Akademie-Gründung wurde immer wieder einmal mit negativen Konnotationen auf Phänomene der Politisierung der Soziologie verwiesen und dabei gelegentlich mit dem Finger auf den DGS-Vorstand gezeigt. Hier muss aber sorgsam differenziert werden, welche Dimension des Politischen gemeint ist, denn sie sind unterschiedlich zu bewerten:

Der Anspruch der Soziologie, kritische Wegbegleiterin von Gesellschaft(en) zu sein, erscheint mir unverzichtbar. Kritische „Gesellschaftsbeobachtung“ ist eine politisch verantwortliche wissenschaftliche Aufgabe der Soziologie. Eine allerdings, die nicht von der Notwendigkeit entbindet, „Soziologie und Politik: Geht da was?“ weiterlesen

Big Data, Big Misunderstanding?

Andreas Diekmann hat in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung [1] kurz vor dem letzten Soziologiekongress die provokante These aufgestellt, die Soziologie müsse sich ganz neu erfinden. Nanu, möchte man sagen, hundertzwanzig Jahre Soziologie einfach in die Tonne treten und neu starten? Was steckt dahinter? Als wichtigstes Argument führt Diekmann die technologische Entwicklung an, die inzwischen zu informatischen Strukturen geführt hat, in denen nahezu alle menschlichen Aktivitäten in Echtzeit Datenspuren erzeugen. Die Medien, die Wirtschaft und zunehmend auch die Wissenschaft sprechen dann von Big Data – eine wohl nicht ganz zufällige Anähnelung an die alte Dystopie vom Big Brother. Freizeitsportlerinnen messen ihre Leistungen und körperlichen Zustände, Kunden ergattern mit Payback-Karten geringfügige Rabatte und zahlen dafür mit ihren Konsumdaten, Strom- und Heizenergiezähler sammeln zunehmend auf digitalen Wegen Verbrauchsinformationen etc. So kommen „Big Data, Big Misunderstanding?“ weiterlesen

Was für eine Wissenschaft soll die Soziologie sein?

Die sogenannte „Akademie für Soziologie“ verpflichtet sich der Gesellschaft gegenüber vor allem darauf, eine bestimmte Leistung zu erbringen: Sie will dem steigenden Bedarf nach „verlässlichen Informationen sowie praktischen Handlungsempfehlungen“ [1] nachkommen. Und sie will das unter „Anwendung kontrollierter wissenschaftlicher Methoden“, basierend auf „klar und präzise formulierten Theorien“ und unter Einsatz von „Replikationen“ erreichen. Doch soll das der Kern der Wissenschaftlichkeit unseres Faches sein? Wirklich? Was macht Forschen zu wissenschaftlichem Forschen? Es sind nicht Daten, nicht Gesetze, nicht Normen, die wissenschaftlichen Fortschritt hervorbringen. Nein, es ist das Argument. Es geht um „Was für eine Wissenschaft soll die Soziologie sein?“ weiterlesen

Mit einem Auge ist man halb blind: Von Einheit und Uneinigkeit der Soziologie

Prolog

Ich habe ein durchaus emphatisches Verhältnis zu meinem Fach, der Soziologie. Meines Erachtens ist sie –  neben der Sozialanthropologie – die Grundlagenwissenschaft für alle mit Sozialität oder Gesellschaftlichkeit verbundenen Fragen und informiert damit auch viele unserer Nachbarfächer, wie Politologie, Erziehungswissenschaft oder empirische Kulturwissenschaft. Zugleich liefert sie differenzierte und reflektierte Diagnosen der Gegenwartsgesellschaften und ihrer Probleme. Daher lässt es mich nicht unberührt, wenn eine Gruppe von Vertreterinnen und Vertretern unseres Faches den Begriff für sich reklamieren und ihn dabei inhaltlich so ausdünnen, dass – wie ich behaupten möchte – wesentliche Leistungen und zentrale Funktionsweisen der Soziologie als akademischer Disziplin verloren zu gehen drohen. Um Schaden vom Fach Soziologie in Deutschland abzuwenden, bedarf es dringend einer gründlichen Debatte über einige inhaltliche Grundfragen, aber auch über professionspolitische Strategien. Eine Debatte, die ich mit diesem Blog anstoßen möchte, von der ich mir aber wünsche, dass viele „Mit einem Auge ist man halb blind: Von Einheit und Uneinigkeit der Soziologie“ weiterlesen