Interessiert sich die Soziologie wirklich für alles und jedes?

Fast vier Wochen ging es hier vor allem um das Bloggen und das Trollen, Themen also, die sicherlich für Soziologen und Soziologen von Bedeutung sind – jedoch nicht zum deren Kerngeschäft gehören. Die nächsten vier Wochen möchte ich nutzen, (wie anfangs angekündigt) über die aktuellen Probleme der Sozialforschung zu schreiben und zu diskutieren. Dabei werde ich versuchen, die begonnene Diskussion weiterzuführen.

„Die Soziologie interessiert sich für alles und jedes.“ Das zumindest sagte (der von mir sehr geschätzte) Kollege Reiner Keller in seiner Antrittsrede an der Universität Augsburg am 10. Mai 2012. In dieser allgemeinen Form ist das sicherlich richtig, obwohl man nicht weiß, ob es sich bei dieser Aussage um einen deskriptiven oder normativen Satz handelt. Interessieren sich Soziologen und Soziologinnen tatsächlich (in Deutschland – um es nicht allzu groß aufzuhängen) für alles und jeden oder sollten sie sich für alles und jeden interessieren.

Als deskriptive Aussage ist der Satz (betrachtet man die alltägliche Praxis der soziologischen Forschung) gewiss nicht zutreffend, ist doch das Interesse der deutschen Soziologen und Soziologinnen gerade nicht zufällig und gleich verteilt, sondern es konzentriert sich deutlich erkennbar auf besondere gesellschaftliche Bereiche – so z.B. auf die Lage der Mittelschicht und hier vor allem auf die Probleme von Menschen (und nicht von Organisationen).

Diese ungleiche Verteilung soziologischer Aufmerksamkeit hat gewiss etwas mit den staatlichen und professionseigenen Mitteln der Aufmerksamkeitslenkung zu tun (Für welche ‚Aufklärung’ welcher Bereiche bekommt man Forschungsgelder, mit welchen Themen kann man sich Ansehen erwerben, also für was bekommt man Drittmittel oder Ansehen?), aber auch mit den persönlichen Vorlieben der Wissenschaftler/innen. Aber sie hat auch mit der Schichtzugehörigkeit und damit einhergehenden Berührungsverboten zu tun. So hat sich die Soziologie in den letzten Jahrzehnten mehrheitlich mit den Problemen der Mittelschicht beschäftigt, also vornehmlich mit sich selbst. Die Unterschicht geriet dagegen sehr selten in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen. Allein das (Privat-)Fernsehen interessiert sich für die, die kein Geld, aber dafür viele Schulden haben, für die, deren Wohnraum klein und (oft auch) unsauber ist, für die, die keine Arbeit, aber viel Zeit um Mediengebrauch haben. Insofern hat das Fernsehen auch Aufgaben übernommen, die früher die Soziologie für sich reklamierte – auch wenn das Fernsehen ein anderes Interesse an der Unterschicht hat als die Wissenschaft.

Dass die Soziologie sich nicht wirklich für alles und jeden interessiert, hat auch damit etwas zu tun, dass viele Menschen und Organisationen nicht nur die Macht und die Mittel haben, sich der soziologischen Neugier zu erwehren, sondern zunehmend auch über das Vermögen verfügen, die wissenschaftliche Beobachtung und vor allem die wissenschaftlichen Publikationen für sich und die eigenen Zwecke zu nutzen (darauf bin ich in einem früheren Blogbeitrag bereits eingegangen).

Die Soziologie sollte sich also vielleicht für alles und jeden interessieren, aber in ihrer Praxis interessiert sich die Soziologie keineswegs für alles und jeden. Statt dessen leuchtet sie und kann sie nur (noch) die gesellschaftlichen Bereiche ausleuchten und damit für die Gesellschaft verstehbar und erklärbar machen, die sich ihr gegenüber öffnen. Das tun jedoch immer weniger – auch weil sie (auch schlechte) Erfahrungen mit der Soziologie gemacht haben oder weil sie (wie z.B. die besprochenen Trolle und viele andere) im Dunklen bleiben wollen. Und die, die sich dann für die Wissenschaft öffnen, tun dies dann oft (auch) mit dem Ziel, die Wissenschaft für ihre Zwecke zu instrumentalisieren – was die Wissenschaft oft übersieht.