„Von uns selber reden wir“ (frei nach M. Kohli)

1981 veröffentlichte der Soziologe Martin Kohli einen Aufsatz zu Wissenschaftler(auto)biografien: „Von uns selber schweigen wir“. Wissenschaftler als Personen kämen in solchen biografischen Texten kaum vor, lautete seine zentrale These. Der Grund: „Es ist für die Selbstdeutung der modernen Wissenschaften zentral, daß es in ihnen um die ‚Sache‘ gehe und nicht um die ‚Person‘. Daraus erwächst für diese — strenggenommen — eine Schweigepflicht; zumindest ist das Reden von sich selber problematisch“. In einem Film des Instituts für den wissenschaftlichen Film in Göttingen kann man dieses Schweigegebot regelrecht sehen. Das Institut hatte mehrere Historiker vor die Kamera gebeten, 1965 unter anderem den alten Gerhard Ritter. Der saß steif vor der Kamera und las hölzern seinen Text vom Papier. Ein Blatt fiel ihm unterdessen auf die Erde. Und sein Credo lautete: „Ein Professor soll durch seine Schriften wirken, die für sich selbst sprechen müssen, nicht aber sich selbst gewissermaßen auf die Bühne stellen und vor unbekannten und unsichtbaren Betrachtern produzieren. Das Persönliche ist unwichtig, das wissenschaftliche Werk allein wichtig“. „„Von uns selber reden wir“ (frei nach M. Kohli)“ weiterlesen

„Arme Irre“ & Pseudowissenschaft — Grenzen der seriösen Wissenschaft?

Wenn man sich mit einem so schrägen Phänomen wie der Rassenanthropologie beschäftigt, stellt sich natürlich sofort die Frage, was ist Wissenschaft, wie ist die Grenze zum Humbug oder zur Ideologie zu ziehen? Es gibt (Wissenschafts-)Historiker, die dazu neigen, Professionen, die im „Dritten Reich“ mitzogen, jede Form von „Modernität“ und „Fortschrittlichkeit“ abzusprechen, weil sie diese Begriffe latent oder explizit als moralische Kategorien verwenden — es gab da in meinem Fach in den späten 1980er Jahren eine heftige Debatte unter dem Titel „Wie modern war der Nationalsozialismus?“ Die Rassenanthropologie kann in dieser Perspektive per se keine Wissenschaft gewesen sein. „„Arme Irre“ & Pseudowissenschaft — Grenzen der seriösen Wissenschaft?“ weiterlesen

Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftstheorie

Ein anderes Beispiel, wie man Soziologie und Historiografie analytisch verbinden kann, um sich über die Gegenwart zu informieren. Es stammt aus meinem letzten Forschungsprojekt über die deutsche Rassenanthropologie, die ein ganz merkwürdiges Phänomen ist. Sie begann im 19. Jahrhundert Menschen zu vermessen, um über anthropologische Merkmale auf die genetische Beschaffenheit bzw. rassische Zugehörigkeit von Individuen schließen zu können. Die Grenzen zur Eugenik und zur Rassenkunde verflossen, die Anthropologie bildete eine enge Symbiose mit dem nationalsozialistischen Regime, konnte aber nach 1945 ihre Arbeit ohne größere personelle und inhaltliche Verluste fortsetzen. Das ist nicht erstaunlich, sondern eine typisch deutsche Geschichte. Irritierend ist vielmehr, dass fast seit Beginn an das Scheitern der Anthropologie beklagt wird — von den Anthropologen selbst. Etwa ein Jahrhundert lang kann man fast wortgleich in allen ihren Texten lesen, dass es zu wenige Daten gebe, um die erbbiologischen und rassenkundlichen Annahmen belegen zu können, gleichwohl aber zu viele Daten, um sie mit den analogen Technologien verarbeiten zu können, dass das grundlegende ABC der Vererbungslehre nicht einmal ansatzweise bekannt sei, dass die unterschiedlichen Studien aus methodischen Gründen kaum vergleichbar waren, oder dass man durch anthropologische Messdaten eben doch nichts über die Gene erfuhr. Alle Texte verkündeten aber: Zukünftig werden wir diese Probleme gelöst haben. Zuletzt verbreitete Ilse Schwidetzky diesen Optimismus in einer großangelegten Bestandsaufnahme der Anthropologie im Jahre 1982 (unter dem Titel „Maus und Schlange“), erst danach ist die Rassenanthropologie endgültig von der Bildfläche verschwunden. „Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftstheorie“ weiterlesen