Triumph des Szientismus. Ist ein neuer Positivismusstreit fällig?

Vor fünfzig Jahren wurde in der deutschen Soziologie über den Positivismus gestritten. Die Frankfurter Kritiker Adorno und Habermas haben vor der Halbierung der Vernunft durch den Szientismus gewarnt (Adorno et al. 1969). Das ist lange her und scheint uns kaum noch etwas zu sagen. Oder doch? Immerhin können wir in der Gegenwart einen starken Schub einer Umstellung demokratischen Regierens auf ein Regieren durch Zahlen beobachten, zu dem gerade auch sozialwissenschaftliche Forschung einen wachsenden Beitrag leistet. Diese Art des Regierens folgt der Intention, politische Kontroversen in sachlich lösbare Probleme zu transformieren. Expertenwissen soll den politischen Meinungsstreit auf Grundsatzfragen reduzieren. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Siegeszug der Bildungsforschung und der Unterrichtstechnologie im Kielwasser des internationalen PISA-Leistungsvergleichs von 15-jährigen Schülern in Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaft. Man erhofft sich, die bloß „anekdotische“ Evidenz des Erfahrungswissens von Pädagogen durch datenbasierte wissenschaftliche Evidenz ersetzen zu können. Diese Programmatik gerät allerdings genau in diejenigen Fallstricke des Szientismus, die Adorno und Habermas schon vor fünfzig Jahren identifiziert haben. Deshalb erscheint es mir angebracht, daran zu erinnern und die aktuellen Erfolge der Bildungsforschung im Lichte der alten Kontroverse zu betrachten.

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Das internationale Kräftemessen. Neo-Paternalismus als Instrument der Leistungssteigerung im Wettbewerbsstaat

Die Olympischen Spiele in London gehören schon der Vergangenheit an. Die Medaillen sind vergeben, die Rangliste der Nationen im Medaillenspiegel steht endgültig fest. In den Verbänden werden nun Schlüsse gezogen, was gut gemacht wurde und was verbessert werden muss, um beim nächsten Mal besser abzuschneiden. Das Kräftemessen der Nationen beschränkt sich indessen keineswegs mehr auf den Sport. Mit Hilfe globaler Statistiken hat das internationale Kräftemessen inzwischen ein Ausmaß erreicht, dass kaum noch ein Lebensbereich frei vom Leistungswettbewerb um Rangplätze geblieben ist (vgl. Heintz und Werron 2011). Es wird gemessen und gerankt, international und national.

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Mehr Wettbewerb für bessere Bildung und mehr Olympia-Medaillen. Geht diese Rechnung auf?

In Großbritannien hat eine Feststellung des Vorsitzenden der Britischen Olympischen Gesellschaft, Lord Colin Moynihan, eine Debatte über das britische Schulsystem ausgelöst (Catuogno 2012). Er hat festgestellt, dass die Hälfte der britischen Medaillengewinner eine Privatschule besucht hätte, obwohl diese nur sieben Prozent aller Jugendlichen aufnähmen. Für die einen ist das ein Beweis dafür, wie weit die britische Klassengesellschaft in den olympischen Sport hineinwirkt. Sie verweisen darauf, dass die Kommunen massenhaft Schulsportstätten verkauft hätten, sodass die staatlichen Schulen keinen angemessenen Sportunterricht bieten könnten. Für die anderen ist es der Beweis für die mangelnde Leistungsfähigkeit eines nach wie vor von sozialistisch gesinnten Lehrergewerkschaften geprägten leistungsfeindlichen Denkens an den staatlichen Schulen. Für den internationalen Bildungsdiskurs ist das eine überraschende Einschätzung des britischen Schulsystems. Großbritannien gehört nämlich zu den Ländern, die seit den 1980er Jahren mehr Wettbewerb in ihr Schulsystem hineingebracht haben, um mehr Jugendliche zu besserer Bildung zu führen. Margaret Thatcher hat dafür das Startsignal gegeben. Tony Blair hat diese Politik konsequent fortgeführt. Großbritannien ist damit zu einem Vorreiter einer weltweiten Welle von Reformen geworden.

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Lernen für den Test: Wie der Wettbewerb um Olympia-Medaillen und PISA-Rangplätze das paternalistische Bildungsregime in Asien zum Vorbild macht

Bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking konnte alle Welt mit Staunen beobachten, zu welchen Spitzenleistungen die chinesischen Sportler fähig sind. Bei den zur Zeit in London stattfindenden Spielen bestätigen die chinesischen Sportler ihre Leistungsstärke auf eindrucksvolle Weise. China führte nach 207 von 302 Entscheidungen vor den USA, Großbritannien und Südkorea den Medaillenspiegel an. Für das ganz große Erstaunen sorgte die erst 16 Jahre alte Schwimmerin Ye Shiwen, als sie die 400 Meter Lagen in neuer Weltrekordzeit gewann und dabei die letzten 50 Meter schneller schwamm als der kurz zuvor gekürte Olympiasieger der Männer über 400 Meter Lagen, Ryan Lochte. Wie üblich in solchen Fällen kam der Verdacht auf Doping auf, zumal chinesischen Schwimmern schon Ende der 1990er Jahre und noch einmal 2009 Doping nachgewiesen wurde. Die Schwimmerin selbst meinte in der anschließenden Pressekonferenz nur, dass sie in China ein sehr gutes Training hätten.

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Der Kampf um die Autonomie der Wissenschaft. Wie Rankings die Wissenschaft für externe Interessen instrumentalisieren und die wissenschaftlichen Fachgesellschaften herausfordern

Zur Empfehlung des DGS-Vorstandes, aus dem CHE-Ranking auszusteigen 4

Im Oktober des vergangenen Jahres habe ich an einem Workshop über University Rankings an der Universität Helsinki teilgenommen. Der Workshop war geprägt von kritischen Beiträgen, die sich mit den methodischen Mängeln und den fatalen Effekten von Rankings für Forschung und Lehre an den Universitäten beschäftigten. Am Abend gab es einen Empfang beim Vizerektor für Forschung, der die international bedeutende Position der Universität Helsinki in Forschung und Lehre herausgehoben hat und darüber berichtete, dass die Universität alle Anstrengungen unternehmen wird, um im Shanghai-Ranking der 500 sichtbarsten Universitäten der Welt von gegenwärtig Platz 68 auf einen Platz unter den ersten 50 aufzusteigen. Über Sinn und Zweck globaler und nationaler Universitätsrankings hat der Vizerektor kein Wort verloren, methodische Mängel waren nicht im Fokus seiner Ansprache. Vielmehr erhoffte er sich, dass wir in unserem Workshop die richtigen Strategien für einen solchen Aufstieg herausfinden würden. Beim anschließenden Gespräch sagte ich ihm, das sei gar nicht so schwierig. Die sicherste Strategie sei doch, wenn die Regierung den anderen finnischen Universitäten ein Viertel ihrer Grundausstattung wegnähme und der Universität Helsinki das eingesammelte Kapital übergäbe, damit sie die weltweit reputiertesten, im Web of Science sichtbarsten Forscher berufen könne. Er meinte, dass sich die anderen Universitäten natürlich dagegen wehren würden und dieser Weg für seine Universität verschlossen sei. Stattdessen wolle man auf Schwerpunkte der Forschung setzen und für sie mehr Drittmittel einwerben, wodurch sich natürlich langfristig doch eine verstärkte Konzentration von Ressourcen auf die Universität Helsinki ergäbe.

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Die akademische Kastenordnung. Wie Rankings Bildung und Forschung hierarchisieren

Zur Empfehlung des DGS-Vorstandes, aus dem CHE-Ranking auszusteigen 3

In meinen beiden vorausgegangenen Blogs habe ich den Effekt der Reduktion von Diversität durch Rankings bearbeitet. Heute soll der Blick auf einen zweiten Effekt gerichtet werden, auf den stratifikatorischen Effekt von Rankings. Sie bilden nicht einfach Leistungsdifferenzen ab, sondern sind selbst ein wesentlicher Teil eines Systems der Produktion und fortlaufenden Reproduktion von sozialer Ungleichheit.

Wo bislang unterschiedliche Forschungs- und Lehrleistungen in Würde nebeneinander existierten und ihren spezifischen Beitrag zum Fortschritt des Wissens und zur Bildung der Studierenden geleistet haben, werden sie jetzt durch Rankings zwangsweise in eine Hierarchie eingestuft. Sachliche Differenzen werden in eine Rangordnung transformiert, bloße Größe und Marktmacht werden durch Rankings symbolisch aufgeladen und in Qualitätsunterschiede transformiert. Nach den von Robert K. Merton (1942/1973) definierten Spielregeln der Wissenschaft handelt es sich dabei um einen illegitimen Akt, der dem genuin wissenschaftlichen Wettbewerb um Erkenntnisfortschritt und Anerkennung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft, in dem es keine Sieger und keine Besiegte gibt, einen Kampf um Distinktion aufoktroyiert, der nur wenige Sieger kennt und viele zu Verlierern stempelt. Diese Usurpation von Forschung und Lehre durch den Kampf um Rangplätze hat schwerwiegende Konsequenzen für die Studierenden, die Fachbereiche, die Lehrenden und Forschenden und die Fachdisziplinen insgesamt. Eine durch Rankings konsekrierte Stratifikation reproduziert sich in aller Regel fortlaufend selbst, weil nach dem von Robert Merton (1968) beschriebenen Matthäus-Prinzip einmal vorhandene Wettbewerbsvorteile in die Akkumulation weiterer Wettbewerbsvorteile umgemünzt werden.

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Die Reaktivität von Rankings. Reduktion von Diversität durch mediale Ereignisproduktion

Zur Empfehlung des DGS-Vorstandes, aus dem CHE-Ranking auszusteigen 2

Thomas Kerstan geht in seinem Kommentar zu meinem Essay über die Kolonisierung von Bildung und Wissenschaft durch Rankings davon aus, dass die Entscheidung für einen Studienort durch das CHE-Ranking objektiviert wird, die Studienanfänger nicht nur auf Papa und Mama angewiesen sind, sofern diese überhaupt studiert haben. Ist das wirklich so? Und welche Evidenzen gibt es für die Reduktion von Diversität durch Rankings? Das soll im Folgenden weiter vertieft werden.

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Die Kolonisierung von Bildung und Wissenschaft durch Rankings: Einschränkung von Diversität und Behinderung des Erkenntnisfortschritts

Zur Empfehlung des DGS-Vorstandes, aus dem CHE-Ranking auszusteigen 1

Die Empfehlung des DGS-Vorstandes, aus dem CHE-Ranking auszusteigen, hat beim CHE Alarm ausgelöst. Das CHE sieht sich unberechtigter Kritik ausgesetzt und verweist auf das Informationsbedürfnis von Studierwilligen, Hochschulleitungen und Ministerien, das durch das CHE-Ranking befriedigt wird. Ich möchte hier aufzeigen, dass die Art, wie Rankings diese Informationsbedürfnisse befriedigen, Forschung und Lehre so tiefgreifend deformieren, dass sie ihre genuine Funktion für die Gesellschaft nicht mehr erfüllen können. Die Empfehlung des DGS-Vorstandes verdient deshalb vorbehaltlose Unterstützung.

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Europa in der Schuldenkrise. Ein mittelfristig zu bewältigender Betriebsunfall oder Ausdruck eines tiefer greifenden Dilemmas der europäischen Integration?

Die Schuldenkrise in den südlichen Ländern des Euro-Raumes sowie in Irland hat einer wesentlichen Triebkraft des europäischen Einigungswerkes einen schweren Schlag versetzt. Es ist der bis dahin ungebrochene Glaube, dass die wirtschaftliche Integration Europas Frieden und Prosperität für alle in gleicher Weise garantiere. Der europäische Binnenmarkt und darüber hinaus das noch ehrgeizigere Projekt der Währungsunion sollten der Garant für diese segensreiche Entwicklung sein. Reiche und arme Länder, reiche und arme Menschen innerhalb der Länder sollten allesamt davon profitieren. Die ökonomische Lehre der komparativen Kostenvorteile weist nach, dass es sich dabei um keine Wunschvorstellung handelt, sondern um eine wissenschaftlich gut abgesicherte Voraussage. Allerdings sagen die Ökonomen auch, dass eine Währungsunion ohne eine Wirtschaftsunion nicht funktionieren kann, weil sonst diejenigen Verwerfungen auftreten, die nun tatsächlich zum Problem geworden sind.

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