Progressive Soziolog*innen haben längst „festgehalten, dass eine postkoloniale Rahmung der deutschsprachigen Soziologie […] zur (Selbst-)Reflexion über die materiell-strukturelle wie symbolisch-kulturelle und metaphorische Ver-Ortung der eigenen soziologischen Praxis zwingt.“[1] Für die Antisemitismusforschung lässt sich nur allzu oft das Gegenteil feststellen: An die Stelle einer eigenen Verortung tritt die Identifikation des Antisemitismus als Problem der anderen. Als besonders wirksam erweist sich dabei der Topos israelbezogener Antisemitismus, der jüngst ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist.[2] Hier sind die Zahlen am eindrücklichsten: Aussagen zu israelbezogenen Antisemitismus (z. B.: „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.“) stimmten 2020 über 40 Prozent der befragten Muslim*innen zu, während unter evangelischen, katholischen und konfessionslosen Befragten nur fünf bis zehn Prozent der Befragten zustimmten.[3]
Schlagwort: Antisemitismus
Institutioneller Antisemitismus als Analyseperspektive
In Deutschland als einer postnationalsozialistischen Gesellschaft ist Antisemitismus ein medial, pädagogisch, politisch und wissenschaftlich viel diskutiertes gesellschaftliches Verhältnis. In Deutschland als einer postmigrantischen Gesellschaft verfügt die Mehrzahl der hier lebenden Juden:Jüdinnen über einen Migrationshintergrund.[1] Umso erstaunlicher ist es, dass die konkreten Alltagserfahrungen, die Juden:Jüdinnen mit gegenwärtigem Antisemitismus machen, bisher nur selten Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung sind – und zwar weder in der Migrations- noch in der Rassismus- oder Antisemitismusmusforschung. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich bisher vor allem mit Antisemitismus als einer Weltanschauung befasst, mit der negative Erscheinungsformen der Moderne auf die Figur „des Juden“ projiziert werden und die damit bestimmte psychologische Funktionen für ihre Träger*innen erfüllt (Kirchhoff 2020). In der welterklärenden Ideologie des Antisemitismus werden Juden:Jüdinnen als übermächtige Feinde imaginiert, die tradierte Ordnungsprinzipien sowie (nationale) Selbstbilder in Frage stellen.[2] Der Fokus dieser Forschung liegt auf dem (richtigen) Verständnis, dass Antisemitismus auf Projektion basiert, nicht auf dem realen Verhalten von Juden:Jüdinnen – er ist, um eine Bezeichnung von Theodor W. Adorno aufzugreifen – »das Gerücht über die Juden«[3]. Dieser Fokus zeigt sich indirekt auch in quantitativen Untersuchungen, die die Verbreitung antisemitischer Einstellungen messen.[4]
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Intersektionalität, Antisemitismus und der 7. Oktober
In feministischen Reaktionen auf die antisemitischen Massaker des 7. Oktober und den darauffolgenden Krieg in Gaza wird häufig ein intersektionales Grundverständnis bemüht, nach dem Feministinnen nicht die Augen vor anderen Unterdrückungsformen verschließen dürften. Auffällig ist dabei, dass der Antisemitismus weitgehend ausgeblendet wird, insbesondere jener der Hamas. Daraus und aus weitreichender Unkenntnis der Geschichte resultiert, dass im Rahmen zahlreicher Kontextualisierungen des 7. Oktober Israel als vorgeblicher Siedlerkolonialstaat delegitimiert und die antisemitisch-misogynen Taten der Hamas als Widerstandshandlung zumindest implizit legitimiert werden.[1] Meine Frage ist nun, was ein intersektional-feministischer Zugang braucht, um die Ereignisse des 7. Oktober angemessen in ihrer antisemitischen und misogynen Dimension zu analysieren und kritisieren.
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Rassismus- und Antisemitismuskritik in den aktuellen Gewaltverhältnissen
Eine Erinnerung an gesellschaftskritische Grundüberzeugungen kann derzeit helfen, sich den Bekenntniszwängen zu widersetzen, die eine „Positionierung“ im Verhältnis zu Israel angesichts der Gewalteskalation im Gaza-Krieg fordern und den diesem zugrunde liegenden Konflikt mit einem binären Schema vereinfachen. Wie könnte es möglich werden, komplexer zu denken und den eigenen historisch-gesellschaftlichen Kontext zu berücksichtigen?
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Für eine ernsthafte Verwissenschaftlichung der Debatte
Es ist mit allem Nachdruck zu begrüßen, dass die DGS auszuloten beginnt, welche Perspektiven die Soziologie zur aktuellen Debatte um den Gaza-Krieg und den darauf bezogenen Protesten, zu dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel und zu den damit zusammenhängenden Deutungsfragen um Antisemitismus, Rassismus usw. beitragen kann. Angesichts antagonistisch strukturierter Debatten ist jede wissenschaftliche Differenzierung und jedes Gegen-den-Strich-Lesen der Debatten durch verschiedene (sub-)disziplinäre Perspektiven ein Gewinn. Der Eröffnungstext von Jürgen Daub ist nicht im engeren Sinne ein Beitrag zur angestrebten Soziologisierung, gleichwohl verdeutlicht er (analytisch wie performativ) einige der Probleme der aktuellen Thematisierungsstrategien im diskursiven Feld Nahostkonflikt/Israel/Palästina/Judentum/Antisemitismus/Rassismus usw.
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