Soziologische Umfrageforschung als Mittel der Legitimierung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine

Der Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat das Leben der Menschen in Europa grundlegend verändert. Für viele hat sich Krieg als ein Teil ihrer Realität unmittelbar realisiert, den sie vorher nur aus dem Fernsehen kannten, auf jeden Fall aber immer weit weg erschien. Diesen Eindruck haben auch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und auf dem Balkan nicht wirklich erschüttern können. Doch plötzlich klopfte ein brutaler Angriffskrieg an Europas Tür. Weniger als 1000 km von der deutschen und weniger als 100km von der polnischen Grenze entfernt, in der Stadt Lwiw im westlichen Teil der Ukraine sind seit März 2022 immer wieder russische Raketen mit tödlichen Folgen eingeschlagen.

Immer wieder ist gefragt worden, warum wir es ‘hier bei uns in Europa‘ nicht vorhergesehen haben, warum man so wenig darauf vorbereitet war. Tatsächlich haben die meisten Experten in den ostwärts gewandten Regionalwissenschaften, in den Politikwissenschaften und in den Internationalen Beziehungen bis zuletzt nicht an das Übertreten der ‘roten Linie‘ durch Vladimir Putin geglaubt, selbst als nach wochenlangen, großangelegten Manövern im Grenzgebiet zur Ukraine die russische Armee in das seit 2014 von Separatisten besetzte, ukrainische Gebiet des Donbass eindrang.

Es wird auch intensiv diskutiert, inwiefern dieser Krieg über die Grenzen eines zwischenstaatlichen Konflikts zweier Länder hinausgeht und eigentlich ein Stellvertreterkrieg ist, der globale, kulturelle und sogar zivilisatorischen Konfliktlinien repräsentiert. Dabei wird immer wieder die Frage gestellt, wie die russische Bevölkerung dazu steht, warum sie diese Katastrophe zulässt und den Machthabern im Kreml nicht Einhalt gebietet? Stimmen tatsächlich 70-80% der Russen dem Angriffskrieg zu und legitimieren Vladimir Putin als Präsident und obersten Befehlshaber?

Meinungsumfragen als politisches Machtinstrument

Um sich diesem Thema nähern zu können, ist man auf sozialwissenschaftliche Meinungsforschung angewiesen. Deren Arbeitsweise und Datenproduktion ist allerdings in Gesellschaften mit autoritären politischen Regimen höchst problematisch. Dabei geht es zwar auch um Aspekte wissenschaftlicher Freiheit, aber vielmehr darum, wie Sozialforschung vom politischen Regime zur Machtsicherung und Manipulation öffentlicher Meinung eingesetzt wird. Damit verbunden ist auch die Frage, wie sich denn Respondenten unter diesen Bedingungen in Befragungssituationen verhalten. Inwieweit können also Ergebnisse von Meinungsumfragen in Russland die tatsächliche Unterstützung des Regimes und des Krieges in der Bevölkerung abbilden?

Seid Vladimir Putins Aufstieg in die Kreml-Führung im Jahre 2000, der von einer anfänglichen hohen Zustimmungsrate (84% im Januar 2000) nach einer Periode der politischen Müdigkeit im Russland unter Boris Yeltsin getragen wurde, war der neue Präsident und die sich unter ihm entwickelnde politische Maschinerie auf Zustimmungswerte fixiert, während Soziolog:innen am ‘politischen Planungsprozess‘ teilnahmen. Ergebnisse von Meinungsumfragen in der Bevölkerung haben seitdem deutlichen Einfluss auf politische Entscheidungen. Für den politischen Philosophen Greg Yudin sind Meinungsumfragen im Putin-Russland also nicht reines window-dressing für ausländische Beobachter:innen, sondern sind integraler Bestandteil des politischen Regimes und seines Verhältnisses mit der Bevölkerung. Yudin argumentiert, dass sich Russland in einem ständigen Plebiszit befindet, der öffentliche Unterstützung für Vladimir Putin reproduziert. Ohne beständige politische Meinungen versteht demnach der Großteil der russischen Bevölkerung Meinungsumfragen als eine Art Zustimmungsspiel oder Loyalitätstest.

Die Produktion von ‘richtigen‘ Antworten

Aber welche Instrumente stellen die ‚richtigen‘ Resultate her, die den politischen Willen unterstützen und eine öffentliche, das politische Handeln legitimierende Meinung repräsentieren? Die zwei großen, staatsnahen Meinungsforschungsinstitute WTCIOM und FOM haben die Aufgabe übernommen, Zustimmung zur produzieren – wohlgemerkt, ohne offensichtliche Fälschungen. Vielmehr wird bestimmtes Antwortverhalten stimuliert, in dem man die ‘richtigen‘ Fragen stellt. So werden Studienteilnehmer:innen in der Fragestellung auf die richtige Antwort hingewiesen, zum Beispiel, durch die Klarstellung, welche Antwortoption denn mit dem Gesetz vereinbar oder moralisch-normativ legitimiert ist. Auch wird die Varianz der Antwortoptionen stark reduziert, so dass nur noch politisch wünschenswerte Möglichkeiten bleiben, z.B. werden verschiedene staatliche Medien bei der Mediennutzungsbefragung gelistet, aber keine unabhängigen Kanäle. Dazu passt, dass seit einigen Jahren offene Fragen aus den Interviewleitfäden verschwunden sind. Weiterhin spielt die Befragungssituation eine wichtige Rolle, denn stabile Zustimmungswerte für Putin und dem Fortgang des Krieges sind in Okkupationsgebieten zu beobachten, die abhängig von russischer humanitärer Hilfe sind. Ein eingesetztes Mittel ist auch immer wieder das Unterverschlusshalten von Umfrageergebnissen. Während der Kreml die staatsnahen Umfrageinstitute in dieser Hinsicht gut kontrolliert und ein bis zwei Drittel ihrer Ergebnisse gar nicht erst publiziert werden, gelingt das beim einzigen noch unabhängigen großen Umfrageinstitut Levada Center weniger. Allerdings ist es allen staatlichen Medien, also der absoluten Mehrheit, verboten, Levada-Daten in ihrer Berichterstattung zu benutzen.

Fluide und unterrepräsentierte Meinungen

Erfahrene Analysten mahnen noch aus anderen Gründen zur Vorsicht bei der Interpretation von Meinungsumfragen bezüglich der Unterstützung des Krieges. Kiril Rogov hat erst kürzlich auf Basis von Daten aus drei unterschiedlichen Studien russischer Umfrageinstitute argumentiert, dass Menschen, die dem Regime loyal gegenüberstehen und den Krieg unterstützen, unter den Respondenten überrepräsentiert sind. Dagegen geben Kritiker überproportional an, dass sie sich „ängstlich oder unwohl fühlen”, wenn sie über ihre Meinung reden. Hinzukommt, dass aufgrund von Gesetzen, die direkt nach dem Beginn des Krieges in Russland verabschiedet wurden und welche die Verunglimpfung der russischen Armee und Kritik an der „militärischen Operation“ (wozu auch die Benutzung des Wortes ‘Krieg‘ zählt) unter Strafe stellen, eine negative Antwort auf die Frage, ob man den russischen Militäreinsatz unterstützt, quasi einer Straftat gleichkommt. Direkte Opposition ist also kostspielig und in jeder Umfrage gibt es nur eine kleine Gruppe Teilnehmer:innen mit diesem Antwortverhalten (ca. 10%). Allerdings stellt die Gruppe der bedingungslosen Befürworter:innen auch nicht die Mehrheit. Je nachdem, welche Studie man liest, sind es 30-40%. Der Großteil der Befragten ist in der Regel unentschieden, hat Reservierungen oder möchte nicht antworten. In diesem Zusammenhang haben weitere russische Kolleg:innen auf Basis intensiver Interviewforschung im Land argumentiert, dass die Mehrheit der Russen eine sehr “fließende“ und unsichere Wahrnehmung vom Krieg gegen die Ukraine haben, in der sich viele Muster des Für und Wieder vermischen.

Diese Überlegungen demonstrieren eindrücklich, wie wichtig es ist, sozialwissenschaftliche Daten in der öffentlichen Diskussion zu kontextualisieren und in ihrer gesellschaftlichen Konstruiertheit zu klären. Dies gilt insbesondere, wenn diese Daten sowohl die politisch einflussreiche öffentliche Meinung in anderen Ländern, als auch interkulturelle Beziehungen und Einstellungen beeinflussen.

Freude, Frust und Leiden(schaft): Fußball und die Soziologie der Emotionen

David gegen Goliath

Nach dem Einzug der marokkanischen Fußballer ins Halbfinale der WM gingen Bilder von feiernden Fans um die Welt – Fans in Marokko, anderen arabischen Ländern, aber auch in vielen europäischen Großstädten. Dass erstmals ein afrikanisches Team unter die besten vier Mannschaften kommt und sich gegen spielstarke Gegner durchsetzen konnte, ist unerwartet und zählt sicher zu der größten sportlichen Überraschung des Turniers. Wenn David gegen Goliath gewinnt, löst das besonders starke Emotionen aus. Überraschende Erfolge werden intensiver erlebt als Siege, mit denen man fest gerechnet hat. Autokorsos und spontane öffentliche Feiern, nicht nur in Rabat und Casablanca, sondern auch in Paris, Brüssel, New York und anderen Städten, dokumentieren einen Ausbruch von Freude und Stolz unter den marokkanischen Fans, während die Anhänger der französischen „Equipe Tricolore“ wohl erst bei der Titelverteidigung ähnlich enthusiastisch reagieren würden. Was los wäre, sollten die „Löwen vom Atlas“ auch Frankreich schlagen, kann man sich kaum vorstellen.

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“Sport and politics don’t mix”, oder etwa doch?

Die Fußball-WM der politischen Symbolik

Eine bei der Hymne schweigende iranische Mannschaft; englische Fußballer, die sich zum Anpfiff gegen Rassismus niederknien; Dänen, die in schwarzen Shirts trainieren, der Farbe der Trauer; die DFB-Elf, die sich den Mund zuhält; zahlreiche arabische Zuschauer*innen mit „Free Palestine“-Zeichen – so viele politische Gesten wie bei dieser WM gab es selten irgendwo im Spitzensport. Und obwohl bereits die letzte WM in Russland in stärkerem Maße politisiert war, erleben wir aktuell nochmals eine Zuspitzung. Selten zuvor wurde medial so ausgiebig über politische Symbolik berichtet. Der Mythos vom „unpolitischen Sport“ bzw. der Satz „Sport and politics don’t mix“ – aktuell scheint beides nicht mehr zu gelten. Für uns ist das ein Anlass auch hier im Blog die Frage aufzugreifen: Dürfen oder sollen Fußballer die globale Bühne des World Cup für politische Äußerungen benutzen?

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„Sportswashing“: Mit der Fußball-WM zur Imageverbesserung – ein kluger Scha[i]chzug?

Der Spitzensport als „Waschmittel“ für ein sauberes Image

Im Zusammenhang mit der Fußball-WM in Katar fällt immer häufiger der Begriff „Sportswashing“. Ursprünglich nutzten vor allem NGOs wie Amnesty International den Begriff. Inzwischen hat er sich aber auch in den Medien etabliert. In der Sportwissenschaft ist der Begriff ebenfalls angekommen, wird aber im Hinblick auf seine analytische Tragfähigkeit und seine Trennschärfe gegenüber ähnlichen Begriffen kritisch diskutiert.

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Korrupt, aber stabil: Die FIFA als „politische Maschine“

Eine WM in Katar: Wie konnte es dazu kommen?

Als der Weltfußballverband FIFA die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2022 nach Katar bekanntgab, machte sich bei vielen Beobachter*innen Ungläubigkeit breit. Das kleine Ausrichterland war kaum als Fußballhochburg bekannt, die klimatischen Bedingungen machten ein Großsportereignis während der Sommermonate unmöglich, die FIFA-internen Berichte bewerteten Katar als Gastgeberland ebenfalls vergleichsweise schlecht. Mittlerweile ist gut belegt, dass Katar die WM durch Bestechung und weitere fragwürdige Praktiken erlangt hat. Während die Medien diese Vorgänge ebenso wie die eklatante Verletzung von Menschenrechten berechtigterweise skandalisieren, liefert die FIFA für Sozialwissenschaftler*innen hervorragendes Anschauungsmaterial für die Gültigkeit grundlegender organisationssoziologischer Einsichten. Bereits Philip Selznick hat in seinem Klassiker von 1949 „TVA and the grassroots“ demonstriert, dass interessierte Akteure Organisationen „übernehmen” und sie für ihre Ziele entgegen dem ursprünglichen Organisationszweck instrumentalisieren können. Trotz dysfunktionaler Zielverschiebungen überleben solche Organisationen, solange sie sich auf eine ausreichend große Unterstützerkoalition verlassen können. So stellt die FIFA auch ein Lehrstück für die Dynamik transnationaler Organisationen dar.

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Schauen oder nicht schauen, das ist hier die Frage: Die kontroverseste Fußball-WM aller Zeiten steht uns bevor

Ein globales „Mega-Event“?

Der FIFA World Cup gehört unbestritten zu den wenigen wirklich globalen Ereignissen. Rund 3,2 Milliarden Menschen auf diesem Planeten, so schätzt die FIFA, werden einschalten, wenn ab 20. November in Katar gegen den Ball getreten wird. Diese mediale Reichweite ist beeindruckend. Auch andere Dimensionen der WM sind gewaltig: Einschließlich der Stadionbauten hat Katar knapp 150 Milliarden Euro für die Ausrichtung des Turniers verplant – das ist mehr als die letzten fünf Endrundenturniere gemeinsam gekostet haben. Hinzu kommen dreistellige Milliardenbeträge für Infrastrukturprojekte, wie z.B. ein Autobahnring um Doha oder neue U-Bahnlinien. Bisherige Weltmeisterschaften haben bis zu 3 Millionen ausländische Tourist*innen angezogen. Schätzungen zufolge werden diesmal nur halb so viele Menschen in das kleine Golfemirat reisen. Trotzdem: Nimmt man einen Klassifikationsvorschlag für Großereignisse, den Michael Müller in seinem Beitrag „What makes an event a mega-event?“ macht, als Bezugspunkt, dann ist der FIFA World Cup in Katar gar kein Mega-Event, sondern noch mehr: ein „Giga-Event“. Größer geht es nicht.

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Contrasts and Contradictions

Die #ASA2022 Conference ist vorbei. Es waren aufregende und erkenntnisreiche Tage. Die vielen neuen Bekanntschaften und Eindrücke müssen noch sortiert werden und die letzten Tage voller Kontraste und Gegensätze hallen weiter nach. Ich werde die Tagung und die großartigen Menschen, von denen ich lernen konnte und mit denen ich diskutieren durfte, noch lange in guter Erinnerung behalten bzw. haben sich auch einige spannende Verbindungen für die Zukunft entwickelt.

Hier noch einige wenige Gedanken, die an die vielen vielen Eindrücke anschließend weiterklingen. So zeigte nicht nur Los Angeles selbst an jeder Straßenecke wie nah Wohlstand und Armut beieinander liegen. Auch die Konferenz hat dies immer wieder vor Augen geführt. Die vielen spannenden Veranstaltungen zu sozialen Ungleichheiten, Vulnerabilitäten und intersektionellen Verschränkungen unterschiedlicher Differenzkategorien waren oftmals verbunden mit dem Anspruch nach Verbesserungsmöglichkeiten für Lebensbedingungen. Oder diese zumindest zu suchen.Diese Erkenntnisse – die nicht nur aufgrund der aktuellen Situation – auch immer wieder mit Klimaveränderungen verbunden wurden, wurden beim Verlassen des Convention Centers sofort kontrastiert. Das durch die Klimaanlage heruntergekühlte, komplett verglaste Gebäude entließ die Gehenden in die trockenen 32°C der Stadt. Eine Stadt die hauptsächlich darauf ausgelegt ist, sich dort mit einem Auto zu bewegen. In der es unglaublich viel Platz für sich bewegendende und parkende Autos gibt. Deren öffentlicher Nahverkehr nur wenig einladend ist und, zumindest meiner kurzen Erfahrung nach, größtenteils von der ärmeren Bevölkerung genutzt wird. In etwa vier Autostunden Entfernung brannte zeitgleich der berühmte Yosemite Park wie auch in Europa die Trockenheit Waldbrände und Niedrigwasserstand für Flüsse bedeutete. Und sicher ist, dass es vor allem ärmere Menschen sind und sein werden, die als erste mit den Folgen umgehen müssen.In Gesprächen vor Ort ließen Menschen durchblicken, dass sie so wenig Regen schon sehr lange nicht mehr erlebt haben. In ähnlicher Weise habe ich es auch in Deutschland wahrgenommen. Deutlich ist allen, dass die aktuellen Geschehnisse dringender Handlungen bedürfen. Es bedarf global ausgerichteter Perspektiven, die nicht bloß bedeuten dürfen, dass sich Menschen in Ländern des globalen Nordens  auf elektrisch betriebenen Autos oder Fahrrädern ausruhen. Erneuerbare Energien zugänglich zu machen und auszubauen kann eben nicht nur auf die wohlhabenden Regionen der Erde beschränkt bleiben, sondern muss gemeinsam mit allen weiterentwickelt werden. Die vielen Ideen, die hierzu bereits bestehen, und zwar eben auch in Ländern des globalen Südens, müssten dazu allerdings weiterverfolgt werden.

Decentralize!

Ein kleines Highlight neben den vielen Gesprächen, Diskussionen und Vorträgen war die Diskussionsveranstaltung zu „Decentering Sociology from the Global North: Going Beyond Theory and Epistemology“. Die Diskutant*innen (Nazli Kibria, Victor Agadjanian, Marco Garrido, Paul Almeida) führten aus unterschiedlichen Perspektiven in Ihre Arbeit und Sichtweisen ein. Peggy Levitt stellte dem einen einführenden und stärker praxisbezogenen Teil voran und Cecilia Menjivar ergänzte beziehungsweise führte Nachfragen aus. Interessant war auch, dass die gesamte Veranstaltung sowohl vor Ort als auch virtuell verfolgt werden konnte. Was sicherlich auch die geringe Teilnahme vor Ort selbst erklärte.

Abends schlossen an das Tagungsprogramm weitere Receptions der einzelnen Sektionen in der ASA an, wo die Gespräche in netter Atmosphäre (z.B. im Rahmen einer italienischen Bar oder eines mexikanischen Hotels) weitergeführt wurden.

Klassentreffen, aber in sehr groß…

Während die nächste Konferenz der DGS in Bielefeld von vielen schon herbeigesehnt und beinahe liebevoll als ein Klassentreffen umschrieben wird, befinde ich mich gerade noch auf dem US-amerikanischen Pendant. Die #ASA2022 in Los Angeles funktioniert an sich genauso, nur ist alles sehr viel größer. Relational gesehen auch irgendwie logisch.

Dennoch kam genau diese Größe in einigen Gesprächen mit PhD Student*innen besonders zum Tragen. Gerade für Menschen auf Early Career Positionen sind viele der Preise unerschwinglich. Diese Preise sind mit der Örtlichkeit verbunden und die ist nun einmal das Los Angeles Convention Center.

Viele der Diskussionen drehen sich allerdings um Inhalte. Die wertschätzende und konstruktive Weise in der hier miteinander umgegangen wird ist großartig! Die Wissenschaftler*innen begegnen einander gleichermaßen interessiert und aufgeschlossen – unabhängig von Titel oder Status. Und so war auch die Diskussionsrunde in der unter anderem mein Vortrag („Queer Immigrants in the German Shelter System“) besprochen wurde, ebenfalls wunderbar produktiv.

Bücher, Bücher, Bücher und mehr!

Wie auf allen größeren Konferenzen gibt es auch auf der ASA 2022 einen Ausstellungsbereich, wo Verlage aktuelle Auswahlen ihres Programms präsentieren. Die große Auswahl und der versprochene Discount (40%) lassen nicht wenige Besucher*innen durch die Halle wandeln und die Produkte von Routledge, Sage oder NYUPress betrachten. Die Kugelschreiber und anderen Gimmicks wandern in die Laptoptaschen der Konferenzteilnehmer*innen und alles scheint wie es auch in Deutschland nicht anders wäre.

Allerdings fällt auf, dass Forschung zu queeren Themen hier nicht als ein Nischenthema verhandelt wird. Präsent bei vielen Verlagen stehen Arbeiten, die sich mit Geschlecht, Sexualität und Körpern beschäftigen. Und z.B. als ein Give Away bei NYUPress gibt es Buttons mit verschiedenen Pronomen zur Auswahl. Auch die Dissemination von wissenschaftlichen Themen durch andere Medien als nur Bücher oder Journalartikel findet einen Platz. An einem Stand werden akademische Inhalte in Grafik Novels umgesetzt präsentiert und das sequentielle Potential von Bildergeschichen erörtert.

What a day!

Nachdem in der letzten Nacht dreimal eine stark unter Drogen stehende Person versuchte in mein Apartment einzudringen und der Lärm im Haus auf sehr unheimliche Weise weiter eskalierte, musste ich erst einmal eine neue Unterkunft suchen: Welcome to Los Angeles!

Die Reception der ASA2022 im JW Marriot Building (Outdoor) erzeugte demgegenüber einen Eindruck von glitzernder heiler Welt: Ein riesiges Glas verkleidetes Gebäude und das Bier für 15$. Aber auch ein nettes kleines Buffet. Nicht gerade niedrigschwellig zugänglich oder zum langen Verweilen einladend, aber dennoch werden das die weiteren Veranstaltungen aufwiegen: Ich freue mich auf die anstehenden Diskussionen und Vorträge.

Spotlights on ASA 2022

Vom 05.08.-09.08.2022 findet in Los Angeles die American Sociological Association Conference statt https://www.asanet.org/annual-meeting/2022-annual-meeting. Ich werde hier in den nächsten Tagen für die DGS einige kleine Schlaglichter auf das Geschehen, die Vorträge und Roundtables werfen. Unter dem Titel “Bureaucracies of Displacement” versammeln sich bei ca 30°C  4500 Vortragende und 5000 Teilnehmer*innen in 600 verschiedenen Sessions, tauschen sich aus und vernetzen sich in den vielen thematisch gebündelten kleineren Panels und Roundtables. Platz genug ist dabei im Los Angeles Convention Center allemal.

Platz ist in Los Angeles insgesamt ein spannendes Thema. Alles ist weitläufig und bis auf die Hochhäuser in Downtown eher flach gebaut. In der Stadt selbst werden, wie in vielen Metropolen der Welt, soziale Unterschiede konzentriert sichtbar. Unter der Autobahnbrücke südlich des Convention Centers etwa, haben einige Menschen Zelte aufgebaut und trocknen Wäsche auf dem Zaun. Dieses, sich an vielen Brücken wiederholenden Bild, steht den riesigen Hotelkomplexen, der leuchtenden Werbung und Einkaufsgelegenheiten nördlich des Center gegenüber.

Um das Center betreten zu dürfen, muss mensch sich ein Badge abholen. Hierzu sind einige bürokratische Prozesse abzuwickeln, die vor allem im Vorhinein online durchführbar sind. Dann aber kann das Center mit diesem Badge jederzeit betreten werden und die Conference kann beginnen.

Kulturarbeiter:innen, die Pandemie und Neuverhandlungen von selbstständiger Arbeit

Abstract

Der Essay thematisiert die Folgen der Corona-Pandemie für Kulturschaffende unter besonderer Berücksichtigung von selbstständiger Arbeit. Die schwerwiegenden Auswirkungen auf die Soziallagen sowie die alltägliche Arbeitspraxis werden anhand eines Fallbeispiels aus dem Kreativsektor erläutert. Die Fallgeschichte eines solo-selbständigen Musikers zieht sich als roter Faden durch den Bericht. Er bildet den erwerbsbiografischen Hintergrund, um die Neuverhandlungen von selbständiger Arbeit zu beleuchten sowie einen Anker, anhand dessen auch die methodischen Bedingungen von ethnografisch orientierter Forschungspraxis unter pandemischen Bedingungen anzusprechen sind. Dabei berichtet die Autorin aus einem laufenden und zugleich pandemisch ausgebremsten Forschungsprojekt, in dem sie im Rahmen eines kollaborativen Transferprojekts einen Probenraum für darstellende Künstler:innen in Hamburg Barmbek untersucht. Waren die  Arbeitsverhältnisse von Kulturarbeiter:innen schon zuvor unsicher und projektbestimmt, hat sich deren Soziallage während der Pandemie existenziell zugespitzt. Das gilt insbesondere für die 17% Mini-Selbständigen unter ihnen, die kaum Rücklagen für Verdienstausfälle oder die Altersvorsorge bilden können. Befürchtet wird daher eine steigende Quote versteckter Armut unter Kulturarbeiter:innen sowie eine Vertiefung der Spaltung dieses Erwerbsbereiches – trotz Coronanothilfen. Doch es gibt auch gute Nachrichten: Corona könnte sich als Modernisierungsschalter für die soziale Absicherung von Künstler:innen erweisen, während zugleich eine Sachverständigenkommission an der Konzipierung von Mindesthonoraren bzw. fairen Vergütungskriterien für selbstständige Künstler:innen feilt.

Bitte nicht wieder.“, sagt der selbstständige Musiker Helge Hansen auf meine Frage, wie er auf die zwei Pandemiejahre zurückblickt. Er fügt hinzu: „Corona hat so ziemlich alles zerstört, was ich mir in den vergangenen 15 Jahren beruflich aufgebaut habe.“

Wir treffen uns im Januar 2022 zu einem Zoom Interview, während sich draußen die Omikron-Welle auftürmt. Auch unserem Livetreffen hat sie einen Riegel vorgeschoben. Eigentlich waren wir zu einem Kopräsenzgespräch verabredet. Das musste jedoch umdisponiert werden, als eines seiner Kinder mit einem positiven Coronatest aus der Schule kam und sich daraufhin die ganze Familie in Quarantäne begab.

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Profitieren Plattformen von der Covid-19-Pandemie? Kurzfristige Auswirkungen auf ortsabhängige und ortsunabhängige Plattformarbeit

Die COVID-19-Pandemie führte zu massiven und anhaltenden gesellschaftlichen Umbrüchen. Neben Maßnahmen wie Lockdowns und Kontaktbeschränkungen wurden viele Beschäftigte entweder arbeitslos, auf Kurzarbeit oder in die Heimarbeit geschickt. Angesichts dieser Bedingungen stellt sich die Frage, inwiefern die Pandemie als möglicher Katalysator für Plattformarbeit dient. Denn die Geschäftsmodelle von Plattformunternehmen basieren darauf, verschiedenste Dienstleistungen mit einer hohen örtlichen und zeitlichen Flexibilität und geringen Kontakten zu vermitteln. Die Pandemie scheint prädestiniert dafür, um weitere Voraussetzungen zu schaffen, die diese Charakteristika besonders attraktiv machen.

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Zur Systemrelevanz interaktiver Arbeit – in der Corona-Krise und darüber hinaus

Die Sektionen der Arbeitssoziologie (ÖGS) und der Arbeits- und Industriesoziologie (DGS) haben auf dem gemeinsamen Kongress von DGS und ÖGS im letzten Sommer im Zusammenhang mit der Corona-Krise die Frage nach dem „Wert der Arbeit“ gestellt. In unserem Beitrag arbeiten wir den besonderen Wert von Dienstleistungsarbeit im Kund*innenkontakt heraus – generell, aber auch unter den Besonderheiten von Dienstleistungskontakten in der Pandemie. Dort geht es um viel mehr als den Austausch von Leistung gegen Geld. In der Arbeit an und mit Menschen wird eine besondere Art von Arbeit geleistet: „interaktive Arbeit“ (Dunkel/Weihrich 2012). Denn Dienstleister*innen und Kund*innen müssen zusammenarbeiten, um ein Dienstleistungsergebnis zu erzielen. Die Herstellung und Aufrechterhaltung einer solchen Kooperationsbeziehung ist eine anspruchsvolle Angelegenheit: Man muss sich unter unbestimmten Voraussetzungen verständigen, Ziele und Vorgehensweisen miteinander aushandeln, Vertrauen aufbauen, Kompromisse machen und Konflikte befrieden – und all das in der Situation selbst und im Angesicht der/des Anderen.

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