Bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking konnte alle Welt mit Staunen beobachten, zu welchen Spitzenleistungen die chinesischen Sportler fähig sind. Bei den zur Zeit in London stattfindenden Spielen bestätigen die chinesischen Sportler ihre Leistungsstärke auf eindrucksvolle Weise. China führte nach 207 von 302 Entscheidungen vor den USA, Großbritannien und Südkorea den Medaillenspiegel an. Für das ganz große Erstaunen sorgte die erst 16 Jahre alte Schwimmerin Ye Shiwen, als sie die 400 Meter Lagen in neuer Weltrekordzeit gewann und dabei die letzten 50 Meter schneller schwamm als der kurz zuvor gekürte Olympiasieger der Männer über 400 Meter Lagen, Ryan Lochte. Wie üblich in solchen Fällen kam der Verdacht auf Doping auf, zumal chinesischen Schwimmern schon Ende der 1990er Jahre und noch einmal 2009 Doping nachgewiesen wurde. Die Schwimmerin selbst meinte in der anschließenden Pressekonferenz nur, dass sie in China ein sehr gutes Training hätten.
Der Kampf um die Autonomie der Wissenschaft. Wie Rankings die Wissenschaft für externe Interessen instrumentalisieren und die wissenschaftlichen Fachgesellschaften herausfordern
Zur Empfehlung des DGS-Vorstandes, aus dem CHE-Ranking auszusteigen 4
Im Oktober des vergangenen Jahres habe ich an einem Workshop über University Rankings an der Universität Helsinki teilgenommen. Der Workshop war geprägt von kritischen Beiträgen, die sich mit den methodischen Mängeln und den fatalen Effekten von Rankings für Forschung und Lehre an den Universitäten beschäftigten. Am Abend gab es einen Empfang beim Vizerektor für Forschung, der die international bedeutende Position der Universität Helsinki in Forschung und Lehre herausgehoben hat und darüber berichtete, dass die Universität alle Anstrengungen unternehmen wird, um im Shanghai-Ranking der 500 sichtbarsten Universitäten der Welt von gegenwärtig Platz 68 auf einen Platz unter den ersten 50 aufzusteigen. Über Sinn und Zweck globaler und nationaler Universitätsrankings hat der Vizerektor kein Wort verloren, methodische Mängel waren nicht im Fokus seiner Ansprache. Vielmehr erhoffte er sich, dass wir in unserem Workshop die richtigen Strategien für einen solchen Aufstieg herausfinden würden. Beim anschließenden Gespräch sagte ich ihm, das sei gar nicht so schwierig. Die sicherste Strategie sei doch, wenn die Regierung den anderen finnischen Universitäten ein Viertel ihrer Grundausstattung wegnähme und der Universität Helsinki das eingesammelte Kapital übergäbe, damit sie die weltweit reputiertesten, im Web of Science sichtbarsten Forscher berufen könne. Er meinte, dass sich die anderen Universitäten natürlich dagegen wehren würden und dieser Weg für seine Universität verschlossen sei. Stattdessen wolle man auf Schwerpunkte der Forschung setzen und für sie mehr Drittmittel einwerben, wodurch sich natürlich langfristig doch eine verstärkte Konzentration von Ressourcen auf die Universität Helsinki ergäbe.
Die akademische Kastenordnung. Wie Rankings Bildung und Forschung hierarchisieren
Zur Empfehlung des DGS-Vorstandes, aus dem CHE-Ranking auszusteigen 3
In meinen beiden vorausgegangenen Blogs habe ich den Effekt der Reduktion von Diversität durch Rankings bearbeitet. Heute soll der Blick auf einen zweiten Effekt gerichtet werden, auf den stratifikatorischen Effekt von Rankings. Sie bilden nicht einfach Leistungsdifferenzen ab, sondern sind selbst ein wesentlicher Teil eines Systems der Produktion und fortlaufenden Reproduktion von sozialer Ungleichheit.
Wo bislang unterschiedliche Forschungs- und Lehrleistungen in Würde nebeneinander existierten und ihren spezifischen Beitrag zum Fortschritt des Wissens und zur Bildung der Studierenden geleistet haben, werden sie jetzt durch Rankings zwangsweise in eine Hierarchie eingestuft. Sachliche Differenzen werden in eine Rangordnung transformiert, bloße Größe und Marktmacht werden durch Rankings symbolisch aufgeladen und in Qualitätsunterschiede transformiert. Nach den von Robert K. Merton (1942/1973) definierten Spielregeln der Wissenschaft handelt es sich dabei um einen illegitimen Akt, der dem genuin wissenschaftlichen Wettbewerb um Erkenntnisfortschritt und Anerkennung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft, in dem es keine Sieger und keine Besiegte gibt, einen Kampf um Distinktion aufoktroyiert, der nur wenige Sieger kennt und viele zu Verlierern stempelt. Diese Usurpation von Forschung und Lehre durch den Kampf um Rangplätze hat schwerwiegende Konsequenzen für die Studierenden, die Fachbereiche, die Lehrenden und Forschenden und die Fachdisziplinen insgesamt. Eine durch Rankings konsekrierte Stratifikation reproduziert sich in aller Regel fortlaufend selbst, weil nach dem von Robert Merton (1968) beschriebenen Matthäus-Prinzip einmal vorhandene Wettbewerbsvorteile in die Akkumulation weiterer Wettbewerbsvorteile umgemünzt werden.
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Die Reaktivität von Rankings. Reduktion von Diversität durch mediale Ereignisproduktion
Zur Empfehlung des DGS-Vorstandes, aus dem CHE-Ranking auszusteigen 2
Thomas Kerstan geht in seinem Kommentar zu meinem Essay über die Kolonisierung von Bildung und Wissenschaft durch Rankings davon aus, dass die Entscheidung für einen Studienort durch das CHE-Ranking objektiviert wird, die Studienanfänger nicht nur auf Papa und Mama angewiesen sind, sofern diese überhaupt studiert haben. Ist das wirklich so? Und welche Evidenzen gibt es für die Reduktion von Diversität durch Rankings? Das soll im Folgenden weiter vertieft werden.
Die Kolonisierung von Bildung und Wissenschaft durch Rankings: Einschränkung von Diversität und Behinderung des Erkenntnisfortschritts
Zur Empfehlung des DGS-Vorstandes, aus dem CHE-Ranking auszusteigen 1
Die Empfehlung des DGS-Vorstandes, aus dem CHE-Ranking auszusteigen, hat beim CHE Alarm ausgelöst. Das CHE sieht sich unberechtigter Kritik ausgesetzt und verweist auf das Informationsbedürfnis von Studierwilligen, Hochschulleitungen und Ministerien, das durch das CHE-Ranking befriedigt wird. Ich möchte hier aufzeigen, dass die Art, wie Rankings diese Informationsbedürfnisse befriedigen, Forschung und Lehre so tiefgreifend deformieren, dass sie ihre genuine Funktion für die Gesellschaft nicht mehr erfüllen können. Die Empfehlung des DGS-Vorstandes verdient deshalb vorbehaltlose Unterstützung.
Europa in der Schuldenkrise. Ein mittelfristig zu bewältigender Betriebsunfall oder Ausdruck eines tiefer greifenden Dilemmas der europäischen Integration?
Die Schuldenkrise in den südlichen Ländern des Euro-Raumes sowie in Irland hat einer wesentlichen Triebkraft des europäischen Einigungswerkes einen schweren Schlag versetzt. Es ist der bis dahin ungebrochene Glaube, dass die wirtschaftliche Integration Europas Frieden und Prosperität für alle in gleicher Weise garantiere. Der europäische Binnenmarkt und darüber hinaus das noch ehrgeizigere Projekt der Währungsunion sollten der Garant für diese segensreiche Entwicklung sein. Reiche und arme Länder, reiche und arme Menschen innerhalb der Länder sollten allesamt davon profitieren. Die ökonomische Lehre der komparativen Kostenvorteile weist nach, dass es sich dabei um keine Wunschvorstellung handelt, sondern um eine wissenschaftlich gut abgesicherte Voraussage. Allerdings sagen die Ökonomen auch, dass eine Währungsunion ohne eine Wirtschaftsunion nicht funktionieren kann, weil sonst diejenigen Verwerfungen auftreten, die nun tatsächlich zum Problem geworden sind.
Die Misshandlung des Brühwürfels
Dieser Tage[1] kommt mir ein Interview zu Augen: Jean-Jacques Rousseau, soeben 300 Jahre alt geworden. Das dürfen Qualitätsmedien natürlich nicht verpassen, und so suchen sie Rousseau-Fachleute, zum Beispiel Literaturwissenschaftler. Einer von ihnen, der sich sprachgewaltig auch mit anderen „Gespenstern“ (recht unterhaltsam) auseinandergesetzt hat, wird befragt, warum man heute noch Rousseau lesen sollte. Die pointierte Antwort: Der Mann ist wie ein Brühwürfel.
Theorie des Straktanten
Die Ameisen-Theorie (ANT[1] oder ANTheorie) hat eine neue Epoche in der Soziologie eingeleitet. Sie hat die letzten künstlichen, verwirrenden Distinktionen durchbrochen, welche sich bloß als erkenntnisverstellend erwiesen haben, jene zwischen Gesellschaft und Natur, zwischen Mensch und Technik, zwischen Person und Materie, zwischen Ich und Es, zwischen Sender und Empfänger, zwischen Schreiber und Computer, zwischen Wissenschaftler und Objekt, zwischen dem Kaffeetrinker und seiner Tasse. Alles interagiert mit allem, und im Grunde ist alles Eins. Diese paradigmatische Perspektivenänderung macht klar: Der Wissenschaftler unterhält sich mit seiner Theorie. Die Türklinke veranlasst das Individuum, die Tür zu öffnen. Die Pistole schießt mit dem Menschen.[2] Aber das genügt noch nicht.
Alles wird gut
Dieser Tage hatte ich eine Podiumsdiskussion mit dem Gouverneur der Österreichischen Nationalbank, einem Bankdirektor und einem Journalisten – natürlich über die aktuelle Wirtschaftskrise. Ich warnte die Herren in der Vorbesprechung, dass ich in meiner Einführung nicht allzu viel Aufbauendes sagen würde. Das mache nichts, meinten die beiden Bankleute, und der Chef der Nationalbank fügte hinzu: Er werde schon etwas Beruhigendes sagen, das gehöre zu seiner job description. Er hat Recht: Notenbankvertreter sind, wie Bankdirektoren generell, zur Pazifizierung des Publikums verpflichtet, und amtsinhabende PolitikerInnen fühlen sich auch meist dieser Aufgaben verbunden. Wirtschaftliche Märkte sind Nervensache, politische Märkte sind Gefühlssache, und die Amtsinhaber üben somit bloß ihre sozialtherapeutische Funktion aus.
Wir brauchen mehr Katastrophen
Dieser Tage gibt es einen Artikel in Nature[1], der eine plausible, aber ziemlich unangenehme Möglichkeit erörtert: dass wir nicht notwendigerweise, wie in den meisten Umweltstudien angenommen, einen langsamen ökologischen Verschlechterungsprozess über den Zeitraum des nächsten Jahrhunderts erleben könnten, sondern dass es einen „Kippeffekt“, einen Tipping Point, geben könnte, einen plötzlichen Zusammenbruch des Ökosystems. Aufgrund der Analysen der Forschergruppe sei dies ab dem Jahr 2025 möglich, und es werde dann immer wahrscheinlicher. Diese plötzlichen Zusammenbrüche seien irreversibel. Eine neue biologische Welt entstünde.
Die therapeutische Versuchung
Letzte Woche war ich zu Vorträgen bei einem Juristenverein und bei einem Rotarier-Club eingeladen: die Demokratie, die Korruption, die Zukunft. Eine der Erfahrungen, die jeder macht, der zuweilen einen Vortrag für ein allgemeineres Publikum hält (aber im Grunde gibt es ähnliche Erfahrungen durchaus auch in engeren wissenschaftlichen Kontexten): Man erzählt dies oder das über die Gesellschaft da draußen, und wenn man der Soziologie als Krisenwissenschaft gerecht wird, dann sind es ja nicht nur Freundlichkeiten, die man über diese Welt mitzuteilen hat, ganz im Gegenteil. Manchmal bei der ersten, spätestens bei der zweiten Diskussionsanfrage geht es häufig schon nicht mehr um die Analyse, sondern um die Therapie: „Sie haben die Sachlage geschildert, aber ich habe Vorschläge vermisst…“ – „Was soll man jetzt tun?“ – „Wie kommen wir aus der Krise wieder heraus?“
Text und Kontext
Die Personen weisen Verhaltensmuster auf, die von einem flexiblen, situationsangemessenen Erleben und Verhalten in charakteristischer Weise abweichen. Die persönliche und soziale Funktions- und Leistungsfähigkeit ist dadurch meistens beeinträchtigt. Es werden Handlungen gesetzt, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen. Es gibt häufige, unvorhersehbare und launenhafte Stimmungsschwankungen. Beziehungen sind instabil, oft treten emotionale Krisen auf. Es werden Störungen und Unsicherheiten bezüglich des Selbstbildes sichtbar, auch Verunsicherung über Ziele und eigene Präferenzen. Die Selbstwahrnehmung ist deutlich verzerrt, bis hin zu Identitätsstörungen.
An der Straßenecke in Sarajevo
Da stehe ich also, an der Straßenecke in Sarajevo, in einer Konferenzpause, und starre auf die Tafel, die daran erinnert, dass hier Gavrilo Princip das Thronfolger-Ehepaar ermordet hat. Es hat – ungewöhnlich für Mitte Mai – in den letzten Tagen geschneit, es ist unangenehm nass und kalt. Es war ein Zufall, damals: Das Bombenattentat war schiefgegangen, Princip war schon auf dem Heimweg, da kehrte das hohe Paar (aus Sicherheitsgründen) auf einem ungeplanten Weg zurück, der Fahrer bog falsch ab und blieb mit dem Gefährt unmittelbar vor dem Attentäter stehen, um den Rückwärtsgang einzulegen. Eine Einladung, die dieser nicht ablehnen konnte. Und ich starre auf die Tafel und versuche mir vorzustellen, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts verlaufen wäre, wenn der Chauffeur sich nicht im Weg geirrt hätte. Ohne den Dreißigjährigen Krieg 1914 bis 1945?
Akademische Sprachspiele
Da flattern sie mir dieser Tage wieder auf den Schreibtisch, diese Broschüren, Qualitätszeitungsbeilagen, Projektreports, Pressemitteilungen, Jahresberichte. Und ich lese: wer die Schlüsselbereiche der Forschung aktiv für die Zukunft mitgestaltet; wo jene herausragenden Forschungsleistungen stattfinden, die unser Land international konkurrenzfähig halten; wie weit man auf dem ambitionierten Ziel vorangekommen ist, in die Gruppe der europäischen „Innovation Leader“ aufzusteigen; dass Bildung der Beschäftigungsmotor Nummer eins und man deshalb bemüht sei, die Zukunftsfelder zu stärken; und wie großartig überhaupt alles vorangehe. Man könnte meinen, sich mitten in illusionärsten Aufklärungszeiten zu befinden; aber im 21. Jahrhundert ist das nicht so sehr eine Sache der Aufklärer als der Marketing-Abteilungen, und da fällt einem nicht die anstehende zivilisatorische und sittliche Vervollkommnung des Menschen ein, sondern eher die Waschmittelwerbung.
Was tun wir, wenn wir bloggen?
Ein kleiner Exkurs in die Meta-Ebene, ein in den Strom der Bloggerei eingeschobenes Moment der Selbstreflexion: Was tun wir hier? Wenn man es euphorisch formulieren möchte, dann nehmen wir an einer Revolution teil: „Revolutionen bleiben meist unbemerkt, bis sie einen kritischen Punkt erreichen und alles schlagartig verändern. Wissenschaftliche Blogs haben nicht nur das Potenzial, Revolutionen auszulösen, sie sind selbst eine.“[1] Wenn man es kritisch formulieren möchte, dann befinden wir uns in der Blogosphäre beim „seichten Alltagsgewäsch“, bei den „eitlen Selbstdarstellungen“ oder gar in den Arenen „menschenverachtender Parolen“. Wolf Lotter sagt, es seien „Tummelplätze anonymer Heckenschützen“.[2] Beide Positionen, die euphorische und die kritische, sind nicht ganz falsch, und zwischen diesen beiden Positionen ist viel Platz für weitere Beurteilungen.