Globale Ernährungsregime

Soweit man zurückdenken kann, wurden Lebensmittel und andere agrarische Rohstoffe (z.B. Baumwolle, Kautschuk) interregional und international gehandelt. Bereits mit dem Kolonialismus ist das Ernährungssystem globalisiert. Die berühmten Kolonialwaren wie Kaffee, Tee, Kakao oder Zucker werden heute nicht nur als selbstverständliche Bestandteile globaler Ernährungskulturen wahrgenommen, sondern ihr Konsum wird sogar als charakteristisch für die sich im 19. Jahrhundert entwickelnden nationalen Identitäten und Traditionen empfunden. Engländer wie (Ost-)Friesen trinken am liebsten Tee. Letztere grenzen sich damit als Minderheit von den Kaffee trinkenden Deutschen ab. Schokolade kommt, wie jedermann weiß, aus der Schweiz und Brüssel ist berühmt für seine Pralinen.

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Integrative Perspektiven der Land-, Agrar- und Ernährungssoziologie

Jana Rückert-John und Lutz Laschewski

Ernährung ist das bislang jüngste soziologische Thema, welches in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Form einer eigenen Sektion institutionalisiert wurde. Erstaunlich ist dieser Umstand, weil Ernährung in der soziologischen Forschung eine lange Tradition hat. Jedoch sprachen wohl ihre Alltäglichkeit und die vielfältigen Verknüpfungen der Ernährung zu schon etablierten Themen gegen die gesonderte Widmung einer Sektion. Die seit einigen Jahren rasant ansteigende Aufmerksamkeit für das Thema in der Gesellschaft hat diese Annahme aufgelöst: Ernährung ist weder banal noch eine bloße Kulisse zur Illustration anderer Strukturmerkmale der Gesellschaft. „Integrative Perspektiven der Land-, Agrar- und Ernährungssoziologie“ weiterlesen

Wer erbringt hier die Leistung? Oder: Darf ein/e Autor/in von Qualifikationsarbeiten die Ergebnisse von gemeinsamen Daten-Interpretationen nutzen?

Daten in einer ‚Interpretationsgruppe’ gemeinsam auszulegen, das ist in Deutschland eine mittlerweile weit verbreitete Praktik innerhalb der qualitativen bzw. interpretativen Sozialforschung. Das Ziel dieser Interpretationsgruppen ist es, belastbares Wissen über das Handeln und die alltäglichen Praktiken von Menschen, über deren Werte, Normen und Kultur, über deren Typisierungen und den Prozess des Typisierens, kurz: über deren kommunikative Konstruktion der sozialen Welt zu generieren. Insofern sind Interpretationsgruppen spezifische Medien/Mittel der kommunikativen Generierung sozialwissenschaftlichen Wissens über die soziale Welt, also der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit.

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Trojanische Soziologie – ‚sich der Öffentlichkeit unterjubeln‘

Eigentlich hätten wir der Welt so viel zu sagen, doch die Soziologie ‚fremdelt‘ in der Öffentlichkeit. Als Ursache für das Problem wurde die Lücke zwischen professioneller Forschung und öffentlicher Kommunikation ausgemacht – unter dem Schlagwort ‚Public Sociology‘ wird an der Rückeroberung des Publikums gearbeitet. Dabei scheint man sich heutzutage vom Begriff der Intellektuellen eher abzugrenzen – das klingt wohl zu bevormundend, größenwahnsinnig oder einfach nur altbacken. Nichtsdestotrotz: Intellektuelle des letzten Jahrhunderts stehen für eine Hochphase der öffentlichen Soziologie. Sie erfüllten den Anspruch, sozialwissenschaftliche Analyse und Kritik zu artikulieren und damit selbst Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen zu nehmen. Im Unterschied zu damals, so unsere These, muss man die Soziologie heute der Öffentlichkeit ‚unterjubeln‘ – als trojanisches Pferd.

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‚Make sociology great again‘? Vom Fremdeln mit dem SozBlog

Der Ruf nach einer öffentlichen Soziologie ist sicherlich nichts Neues, gewinnt aber angesichts der Debatten um die ‚Krise Europas‘ und den ‚Populismus‘ wieder an Relevanz. Die meisten SoziologInnen stehen dem ‚Projekt‘ öffentliche Soziologie wohlwollend gegenüber, zielt es doch auf eine Aufwertung der Disziplin in Sachen Sichtbarkeit und ‚social impact‘. Womöglich versprechen wir uns davon sogar den vergangenen Status einer Leitwissenschaft wiederzuerringen, frei nach dem Motto: Public Sociology – ‚make sociology great again‘. Geht es jedoch um eine konkrete Beteiligung am öffentlichen Soziologisieren, wird es meistens recht still. Wieso das? Prinzipielle Zustimmung aber praktische Vernachlässigung? Eine schöne Gelegenheit, mit diesem scheinbaren Widerspruch eine soziologische Argumentation zu motivieren. Wir ergreifen sie anhand des SozBlog, den die Frage nach öffentlicher Soziologie schon vor einigen Jahren umgetrieben hat:

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Werteunterricht ohne Gesellschaftsanalyse?! – Mehr Soziologie wagen.

Die marginale Rolle der Soziologie in den wertekundlichen Fächern entspricht nicht dem Potenzial dieser Disziplin!

In Ergänzung zu den vorangegangenen Beiträgen zur soziologischen Perspektive in den sozialkundlichen und bildungswissenschaftlichen Fächern möchte ich an dieser Stelle gerne anregen, dass sich die Soziologie stärker in wertekundlichen Unterrichtsfächern einbringt. Wertekundliche Fächer sind die je nach Bundesland unterschiedlich benannten Fächer Praktische Philosophie, Ethik, Werte & Normen sowie Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER).

Im wertekundlichen Unterricht geht es – ähnlich dem Sozialkundeunterricht – im Kern um die Frage: Was hält eine moderne, demokratische Gesellschaft zusammen, was treibt sie auseinander und wie stehe ich eigentlich dazu? Im Unterschied zu den sozialkundlichen Fächern wird die Frage jedoch nicht mit Blick auf das ökonomische oder politische System beantwortet, sondern mit Bezug auf Werte, Kulturen und Religionen.  „Werteunterricht ohne Gesellschaftsanalyse?! – Mehr Soziologie wagen.“ weiterlesen

Fack ju, Sohziologie!? Eine Bemerkung zum Verhältnis von Schule und Soziologie

Die Ökonomisierung des Sozialen ist eine vielfach konstatierte und diskutierte, hier und da auch heftig beklagte Tatsache: Wirtschaftliche Paradigmen, Leitcodes, Werte durchdringen die anderen gesellschaftlichen Teilsysteme oder Bereiche und zwingen sie unter die Knute von Profit und Effizienz. Seit etlichen Jahren gibt es entsprechende Veränderungen der schulischen Lehrpläne, der Schulbuchinhalte und der Lehramtsausbildungen. Weil die Kinder und Jugendlichen keine ausreichenden Wirtschaftskenntnisse hätten, so heißt es, brauche es mehr ökonomische Bildung – die, das zeigt die Empirie (und das monierte auch Reinhold Hedtke jüngst in diesem Blog), ohne soziologische Fundierung, gar ohne jegliche soziologische Beteiligung und Expertise in die Schulbücher, Curricula und Kompetenzrahmen eingezogen ist.

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Soziologie im Lehramtsstudium: vom Nutzen einer Bildungswissenschaft

Der Begriff nimmt es schon vorweg: Soziologie im Lehramtsstudium muss sich mit Bildung auseinandersetzen und zwar nicht in dem Sinn, dass alles soziologische Wissen Bildung sei und damit immer irgendwie mit Schule zusammenhänge. Vielmehr muss im Zentrum der Soziologie für Lehramtsstudierende das Feld des Berufes der Lehrerin, des Lehrers stehen – also: die Schule.

Damit ist ausdrücklich jene Soziologieausbildung adressiert, die alle Lehramtsstudierenden absolvieren müssen. Seit den KMK-Bildungsstandards ist die Soziologie wieder als Bildungswissenschaft anerkannt und wurde mittlerweile in den meisten Bundesländern auch (zum Teil wieder) als Pflichtfach im Lehramtsstudium etabliert. Das Lehramtsstudium unterscheidet sich in einem zentralen Punkt von den „normalen“ Bachelorstudiengängen. Die Studierenden entscheiden sich vor Studienbeginn nicht für ein Fach, sondern für ein Berufsziel. Daher hat das Lehramtsstudium auch mehr gemein mit ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen oder auch der Medizin als mit den gängigen akademischen Disziplinstudiengängen.

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Ökonomische Aufklärung durch soziologische Bildung

Wer von Gesellschaft nichts versteht, der bleibt ein ökonomischer Analphabet oder kommt doch über ökonomische Halbbildung nicht hinaus. Wer keine soziologischen Zugänge zu Wirtschaft kennt, dem fehlt wesentliches Wissen über Wirtschaft und sein Verstehen wirtschaftlicher Phänomene bleibt unterkomplex. Wer die Schule verlässt, ohne einige basale soziologische Denkweisen gelernt zu haben, dessen Orientierungskompetenz in Sachen Geld, Arbeit/Beruf und Konsum, Markt, Unternehmen und Wirtschaftspolitik bleibt bescheiden. Desorientiert bleibt auch, wer die Wirtschaftswelt betritt und glaubt, in Deutschland gäbe es keinen Kapitalismus, weil Ludwig Erhard ihn mit der sozialen Marktwirtschaft abgeschafft habe.

Soziologisch informierte ökonomische Bildung tut also not!

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The women’s march is (and isn’t) feminist

Neulich war ich eingeladen, mit Ihnen einige Gedanken über der Stand der US-Politik aus soziologisch-feministischen Sicht mitzuteilen. I’ve decided that I am less likely to mislead if I pick my words carefully in English rather than venture off in my sometimes miserable German. Aber es wird mich sehr freuen, wenn Sie etwas dazu zu schreiben möchten, entweder auf deutsch oder englisch, wie auch Sie wollen.
Also, los!

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Islamfeindlichkeit und Islamkritik

In meinem letzen Beitrag habe ich u.a. die Frage aufgeworfen, warum die Unterscheidung zwischen Islamkritik und Islamfeindlichkeit so schwer fällt. Daher folgen hierzu einige grundlegende Überlegungen und Fragestellungen, die insbesondere für eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Problemfeld heute und in der nächsten Zeit von Relevanz sein werden.

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Wie kann es eigentlich sein, dass sich die Soziologie kaum für Flucht und Grenzen interessiert (hat)?

In einem Kommentar zu einem der vorausgegangenen Blog-Einträge hat der geschätzte Kollege Albert Scherr folgende Fragen aufgeworfen, die ich hiermit aufgreifen möchte:

„Die „Flüchtlingskrise“ kann als Bewährungsprobe für die Soziologie verstanden werden, als Herausforderung an ihre Begriffsbildung, ihr analytisches Instrumentarium und ihr Selbstverständnis. Was wäre kritische Soziologie im Kontext der Flüchtlingsdiskurse? Beim Kongress entstand bei mir der Eindruck, dass sie jedoch schlicht als ein Feld unter anderen, ggf. als eine neue spezielle Soziologie kleingearbeitet und eingegrenzt wird. Verweigert die Soziologie die Auseinandersetzung mit der Herausforderung, die in der „Flüchtlingskrise“ deutlich wird, weil sie sich erfolgreich als nationale Sozialwissenschaft etabliert hat? Diese Frage bedarf m.E. der Diskussion.“

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„Kampf der Kulturen“ revisited

Ein Highlight des Kongresses war für mich der Vortrag von Andreas Reckwitz. Ohne das Themenfeld Flucht anzusprechen, behandelt er die Rahmenbedingungen der hitzigen Debatten und entwickelt ein Modell, mit dem sich die derzeitigen Diskurse einordnen lassen. Unter dem Titel „Kultur als Modus der Öffnung und Schließung in der Spätmoderne“ rekonstruiert er eine idealtypische Konfliktlinie in der gegenwärtigen nationalen und internationalen Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden. Dabei seien zwei Regime der Kulturalisierung spezifisch für die Postmoderne. Den Begriff der Kulturalisierung versteht er zunächst in Opposition zum Begriff Rationalisierung. Während es bei der Rationalisierung als zentrales Strukturmerkmal der Moderne um Optimierung und Standardisierung (im Sinne des Mittels zum Zweck) geht, meint Kulturalisierung das Bewerten von Dingen, Werten und Symbolen (Valorisierung). Es geht also um die Konstruktion von Eigenwerten und Schützenswertem und infolgedessen um die Intensivierung von Affekten.

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Das Thema FLUCHT auf dem DGS Kongress

Aufgrund gesundheitlicher Probleme setze ich erst heute die Berichterstattung zum Soziologie-Kongress fort. Etwas spät, aber vielleicht lassen sich mit dem zeitlichen Abstand von etwa einer Woche die vielen Eindrücke übersichtlicher darstellen. Die Vielzahl parallel laufender Veranstaltungen erlaubte es lediglich einen Bruchteil der Vorträge zu hören. Daher sei vorab gesagt, dass es deutlich mehr Auseinandersetzungen mit dem Thema Flucht gab, als ich selbst beobachten konnte.

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Die Eröffnungsveranstaltung in Bamberg

Feierliche Eröffnungsveranstaltungen sind so eine Sache. Wissenschaftliche Kongresse sind keine Parteitage, bei denen die Eröffnungsreden die Richtung vorgeben und eine gewisse Stimmung erzeugen. Was bei der Eröffnung passiert ist mehr oder weniger unabhängig von dem, was vorab von Sektionen und Vortragenden vorbereitet wurde. Daher sollte man nicht zu viel erwarten. Andererseits wurden die Soziologinnen und Soziologen vom Krisenjahr 2015 kalt erwischt – es gibt keine etablierte soziologische Flüchtlingsforschung in Deutschland. Daher war ich durchaus gespannt, inwieweit es bei der Eröffnung gelingen kann, auf ein bisher wenig berücksichtigtes Themenfeld zu reagieren.  „Die Eröffnungsveranstaltung in Bamberg“ weiterlesen