Werteunterricht ohne Gesellschaftsanalyse?! – Mehr Soziologie wagen.

Die marginale Rolle der Soziologie in den wertekundlichen Fächern entspricht nicht dem Potenzial dieser Disziplin!

In Ergänzung zu den vorangegangenen Beiträgen zur soziologischen Perspektive in den sozialkundlichen und bildungswissenschaftlichen Fächern möchte ich an dieser Stelle gerne anregen, dass sich die Soziologie stärker in wertekundlichen Unterrichtsfächern einbringt. Wertekundliche Fächer sind die je nach Bundesland unterschiedlich benannten Fächer Praktische Philosophie, Ethik, Werte & Normen sowie Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER).

Im wertekundlichen Unterricht geht es – ähnlich dem Sozialkundeunterricht – im Kern um die Frage: Was hält eine moderne, demokratische Gesellschaft zusammen, was treibt sie auseinander und wie stehe ich eigentlich dazu? Im Unterschied zu den sozialkundlichen Fächern wird die Frage jedoch nicht mit Blick auf das ökonomische oder politische System beantwortet, sondern mit Bezug auf Werte, Kulturen und Religionen. Die SuS können in diesem Schulfach Reflexionskompetenz für ihr eigenes moralisches Handeln sowie zu verschiedenen ethischen, kulturellen und religiösen Perspektiven entwickeln. Ziel ist die Förderung eines demokratischen Werteverständnisses (z.B. Toleranz, Gleichberechtigung), interkultureller und interreligiöser Kompetenz, prosozialen Handelns und des kompetenten Umgangs mit Herausforderungen des Jugendalters.

Dass den werte- und normenreflektierenden Fächern eine starke soziologische Perspektive eingeschrieben ist, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, wenn es nicht nur um das Kennenlernen und kritische Reflektieren von verschiedenen religiös-kulturellen Weltanschauungen und Ethiken gehen soll. Gerade die Menge und Vehemenz, der – nicht nur in den Medien zu erlebenden – islamfeindlichen Attacken (die den Jugendlichen sicherlich nicht verborgen bleibt) verdeutlicht, dass es nicht reicht, eine Schau der verschiedenen Religionen anzubieten und über die ethische Bedeutung von Toleranz und Religionsfreiheit zu diskutieren. Wenn man wirksam über den Impact von Werten, Religion und Kultur in modernen Gesellschaften ins Gespräch kommen will, dann sollte vor allem auch über die Art und Weise der Instrumentalisierung von Werten und identitätsstiftender Narrative, sprich: über Macht und Ohnmacht, Privilegien und soziale Schließungsmechanismen sowie die Konstruktion von Zugehörigkeiten gesprochen werden.

Gerade die soziologische Perspektive kann erfassen und erklären, weshalb sich die vermeintlich geteilten kollektiven Werte, Normen und Selbstbeschreibungen von den tatsächlichen lebensweltlichen Perspektiven dann doch unterscheiden! Denn um die gelebte gesellschaftliche Wirklichkeit sollte es an erster Stelle ja auch in den wertekundlichen Fächern gehen. Oder, um es mit Durkheim auszudrücken: Soziales ist nur mit Sozialem zu erklären.

Die wertekundlichen Fächer sind daher, trotz ihrer Namenspatenschaft durch die Philosophie, keinesfalls monodisziplinär, sondern dezidiert multidisziplinär angelegt. So belegen die Studierenden Veranstaltungen aus den Fachbereichen Ethik/Philosophie, Religionswissenschaften, Psychologie und Soziologie/Politikwissenschaft. Dies stellt meines Wissens die größte fachliche Spannweite eines einzigen Unterrichtsfaches dar, und ist – wohlgemerkt – zusätzlich zum zweiten obligatorischen Unterrichtsfach plus den Bildungswissenschaften zu bewältigen.

Schaut man jedoch genauer hin, so ist die fachwissenschaftliche Ausbildung eindeutig philosophisch und an zweiter Stelle religionswissenschaftlich ausgerichtet. Von diesen beiden Fachwissenschaften wird zumindest der deutlich überwiegende Teil der Pflichtveranstaltungen gestellt. Soziologische Perspektiven findet man in den Studienordnungen lediglich mit einer (LER) bis maximal drei (Werte & Normen) Lehrveranstaltungen – für die gesamte wissenschaftliche Ausbildung. Unnötig zu betonen, dass die meisten dieser Studiengänge an den philosophischen Instituten angesiedelt sind.

Im Hinblick auf die thematische Spannweite in den Rahmenlehrplänen und Schulbüchern kann man über diese fachwissenschaftliche Einschränkung durchaus stutzen:

  • Soziale Identität und individuelle Lebensgestaltung
  • Miteinander leben – Kommunikation und Konfliktlösung
  • Recht und Gerechtigkeit
  • Existenzielle Erfahrungen
  • Menschen- und Weltbilder
  • Mensch zwischen Natur und Kultur
  • Zukunftsentwürfe

Zu jedem dieser Themenfelder kann die Soziologie eine Vielzahl an Untersuchungen und Erkenntnissen vorlegen, die es wert sind, den SuS als gesellschaftliche Bildung vermittelt zu werden.

Kurz: Soziales Handeln unterscheidet sich mitunter deutlich von den geteilten Wertvorstellungen und findet nie in einem gesellschaftsfreien Raum statt. Die Wechselwirkungen zwischen Individuum – Gemeinschaften – Gesellschaft gilt es auch beim Thema Werte und Normen stets mit zu berücksichtigen! Und es sollte nicht so kommen, dass Ethiklehrer bei Schülerfragen nach der andauernden und zähen Diskrepanz zwischen normativem Sollen und der sozialen Realität womöglich achselzuckend auf den Sozialkundeunterricht verweisen…

 

 

3 Gedanken zu „Werteunterricht ohne Gesellschaftsanalyse?! – Mehr Soziologie wagen.“

  1. Dieser „wertekundliche“ Ansatz führt sowohl „berufspolitisch“ wie soziologietheoretisch in die Irre.

    Was die besondere soziologische Dimension betrifft sei an Dahrendorf erinnert: Er verstand unter Ligaturen „tiefe kulturelle Bindungen“ und verwies auf die Notwendigkeit, „das Vakuum zwischen staatlicher Organisation und atomisierten einzelnen mit Strukturen zu füllen, die dem Zusammenleben der Menschen Sinn geben.“ (Der moderne soziale Konflikt. Neuauflage Stuttgart 1992, S. 39ff.)

    Soziologisch ist seit der berüchtigten Rede des damaligen DGS-Präsidenten 2010 in Frankfurt/M. und dessen Funktionsbestimmung von Soziologie als „Korrekturwissenschaft“ der Rubikon des intellektuell Erträglichen unwiederbringlich überschritten. Dieser Abschied von Soziologie als Leitwissenschaft mit ihrer ideologie- und herrschaftskritischen Seite hat auch praktisch nichts erbracht. (AW)

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