Trojanische Soziologie – ‚sich der Öffentlichkeit unterjubeln‘

Eigentlich hätten wir der Welt so viel zu sagen, doch die Soziologie ‚fremdelt‘ in der Öffentlichkeit. Als Ursache für das Problem wurde die Lücke zwischen professioneller Forschung und öffentlicher Kommunikation ausgemacht – unter dem Schlagwort ‚Public Sociology‘ wird an der Rückeroberung des Publikums gearbeitet. Dabei scheint man sich heutzutage vom Begriff der Intellektuellen eher abzugrenzen – das klingt wohl zu bevormundend, größenwahnsinnig oder einfach nur altbacken. Nichtsdestotrotz: Intellektuelle des letzten Jahrhunderts stehen für eine Hochphase der öffentlichen Soziologie. Sie erfüllten den Anspruch, sozialwissenschaftliche Analyse und Kritik zu artikulieren und damit selbst Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen zu nehmen. Im Unterschied zu damals, so unsere These, muss man die Soziologie heute der Öffentlichkeit ‚unterjubeln‘ – als trojanisches Pferd.

Anstatt ganz selbstverständlich mit soziologischem Vokabular eine gesellschaftliche Gruppe ‚an und für sich‘ adressieren zu können, muss man inzwischen an populärere Deutungsmuster anderer Disziplinen anschließen. Dabei muss Soziologie zwar nicht vollständig ‚undercover‘ funktionieren – und sie tut es in den folgenden zwei Beispielen auch nicht –, aber sie muss zumindest anders gelesen werden können.

Soziologische ‚Unique Selling Points‘ 2016

Eine der in Deutschland 2016 wohl öffentlichkeitswirksamsten Publikationen, die als Soziologie wahrgenommen wurde, ist Rückkehr nach Reims. Mit den starken Wahlergebnissen Le Pens und der AfD gewann Didier Eribons Gesellschaftsdiagnose, die in Frankreich bereits vor sieben Jahren erschien, kürzlich erneut an Aktualität. Doch worin liegt die besondere Attraktivität dieses Buches? Für die ZEIT ist Rückkehr nach Reims „gleichzeitig ein Roman und eine soziologische Studie“. Laut Autor lässt sich sein Buch sowohl „als eine zur historischen und theoretischen Analyse geformte Autobiographie lesen oder schlicht als die Analyse einer persönlichen Erfahrung“ (20). Er nutzt also ein etabliertes literarisches Genre und erzählt (s)eine Geschichte. Dabei adressiert er die Sprache des psychischen Innenlebens – die Macht ‚des Sozialen‘ wird dem Publikum ausgehend von persönlichen Erlebnissen und Gefühlslagen vermittelt.

In Rückkehr nach Reims wird den LeserInnen also anhand einer Biographie vor Augen geführt, wie sich Ausgrenzung und Anerkennung anfühlen. Anstatt einer distanzierten sozialwissenschaftlichen Abhandlung über gesellschaftliche Prägung, soziale Ungleichheit und Herrschaft erhält man eine Geschichte über „Treue“, „Verrat“, „Scham“ und „verstörende Gefühle“. Eribon berichtet davon, wie er im homophoben Arbeitermilieu beschimpft wurde und spricht gleichzeitig von den Problemen, die ihm seine Herkunft, die er nie ganz abstreifen konnte, im intellektuellen Feld bereitet. Für die gebildete linke Leserschaft liegt die Faszination wohl vor allem in seinem Geständnis, im Zuge der eigenen Akademisierung die Sache der Arbeiterschaft verraten zu haben.

Die Darstellungen im Buch überzeugen, weil Eribon die Sprache der Emotionen gekonnt in ein sozialwissenschaftliches Vokabular übersetzt – dem Text gelingt es immer wieder, die Verbindung zwischen Ich-Erzähler und gesellschaftlicher Struktur herzustellen. Eribon scheint dabei die Fallstricke einer öffentlichen Soziologie zu kennen und gekonnt zu umschiffen. Über die gesellschaftliche Prägung des Menschen und Machtverhältnisse wird mit Vorsicht gesprochen, etwa wenn er das Schulsystem als Kriegsschauplatz sozialer Ungleichheit im Sinne Bourdieus beschreibt:

„Ich bin versucht hinzuzufügen, dass sich auch andere statistische Kennzahlen wie etwa jene zur Benachteiligung »bildungsferner« Schichten im Schulsystem kaum anders als im Sinne der Kriegsthese interpretieren lassen. Ich weiß, dass ich in den Augen vieler in die Nähe der Verschwörungstheoretiker rücke, wenn ich den staatlichen Institutionen solche subkutanen Funktionen – oder gar Intentionen – unterstelle.“ (112)

In gewisser Weise muss er sich vor seiner LeserInnenschaft entschuldigen, sobald er in der Beschreibung über individuelle Motivlagen hinausgeht. Dass im Schulsystem bestimmte Bevölkerungsschichten systematisch benachteiligt werden, klingt schon nach Verschwörungstheorie. Insgesamt taucht dieses Verhältnis von strukturellem Zwang und individueller Freiheit immer wieder auf und wird am Ende des Buches ebenfalls auf die persönliche Erfahrung heruntergebrochen:

„Der folgende Satz aus Sartres Saint Genet war entscheidend für mich: »Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.« Er wurde zu einem Prinzip meines Lebens. Zur Maxime einer Askese, einer Arbeit am Selbst.“ (219)

American Dream auf alteuropäisch?

So sehr es Eribon um die gesellschaftlichen Strukturen und die Möglichkeit ihrer Veränderung gehen mag: Spannend wird das Buch durch die Rekonstruktion seiner ‚Arbeit am Selbst‘. In Zeiten des Coachings kommt man nicht umhin, das als sozialwissenschaftlich reflektierte Empowerment-Strategie zu lesen. Mit diesem psychologischen Stichwort wollen wir den französischen Kontext verlassen und uns dem zweiten Beispiel eines soziologischen Trojaners widmen – dem ebenfalls im letzten Jahr erschienen Buch Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehungen von Hartmut Rosa. Der Name ist Programm: Die Feuilletons waren voll mit Rezensionen und Diskussionen des fast 800 Seiten starken Werkes und auch die Vortragssäle sind gut besucht.

Bei allen Unterschieden zwischen Rosa und Eribon lässt sich doch eine zentrale Gemeinsamkeit der beiden Denker identifizieren: Die Sprache der Emotionen und der ‚Arbeit am Selbst‘. Rosas Buch lebt davon, dass er aus ‚dem Sozialen‘ eine Beziehung zwischen Subjekt und Umwelt macht und dabei die Frage nach dem „guten Leben“ ins Zentrum rückt. Was sich der Autor grob unter Resonanz vorstellt, macht er unter anderem am Beispiel fiktiver Biographien deutlich, in denen stets zwei Menschen ein mehr oder weniger gelungenes Leben führen. In den positiven Fällen entsteht laut Rosa so etwas

„(…) wie ein vibrierender Draht zwischen uns und der Welt. Dieser Draht wird einerseits gebildet durch das, was Sozialpsychologen intrinsische Interessen nennen. Anna liebt ihre Familie, ihre Arbeit und das Volleyballspielen; sie interessiert sich für diese Bereiche um ihrer selbst willen. (…) Andererseits vibriert Annas Draht zur Welt, weil ihre Selbstwirksamkeitserwartungen intakt sind: Sie hat das Gefühl, ihre Familie, ihre Arbeitskollegen und ihre Volleyballfreunde zu erreichen und in den jeweiligen Sphären etwas erreichen oder bewegen zu können. Dadurch erfährt sie sich selbst als beweglich, als berührbar: Sie lässt sich erreichen, bewegen und ergreifen, von anderen Menschen, von Pflanzen und Bergen, von Musik, von Geschichten, von Herausforderungen.“ (24f.)

Rosa spricht gleichzeitig die Sprache der Soziologie und der Ratgeberliteratur, der es um ‚Balance‘ und ‚Einklang‘ mit sich und der Welt geht. Das Buch geht jedoch über Selbsthilfe hinaus, indem es praktische Erkundung der Resonanz – etwa in der Familie – mit gesellschaftlichen Dynamiken in Verbindung bringt. Die Soziologie dient dabei mit ihrer großflächigen Diagnose der „Beschleunigung“ als allgemeines Interpretationsraster eines subjektiven Leidens an der modernen Welt.

Der Autor ist sich des Spagats zwischen der Sprache der professionellen Soziologie und den Bedürfnissen seiner LeserInnenschaft nach Sinnstiftung und Selbstverwirklichung bewusst – etwa wenn er darauf hinweist, dass seine Ausführungen „nicht notgedrungen esoterisch“ (18) sind und versichert, „auch keinen Ratgeber schreiben“ (21) zu wollen. Dennoch wird er, wie etwa in der FAZ skeptisch angemerkt wurde, gerne als „Entschleunigungs-Guru“ rezipiert – ein Medien-Echo, das Rosa seinem Buch voranstellt und sich zugleich davon distanziert.

Verkauft sich Soziologie nur noch als ‚Public Psychology‘?

Vereinfacht gemutmaßt: Soziologische Texte ‚funktionieren‘ für eine breitere Öffentlichkeit nur dann, wenn sie an einen Diskurs der subjektiven Erfahrung anschließen – und die interessiert sich nicht mehr für ein ‚Wir‘, sondern für die Komplexität des ‚Ichs‘. Eribon erreicht die LeserInnenschaft über ein autobiographisches Vehikel, das den Klassenverrat der akademischen Linken als Geständnis und Selbstgeißelung verpackt, Rosa in Form sozialwissenschaftlicher Seelsorge, die der eigenen Erfahrung der LeserInnen als Projektionsfläche dient.

In Zeiten von ‚Public Psychology‘ wird Klassenkampf zur Selbsterfahrung und Vergesellschaftung zum Problem der Resonanz – die ‚Arbeit am Selbst‘ dient in beiden Fällen als trojanisches Pferd, mit der die Soziologie der Öffentlichkeit untergejubelt wird. Damit bleibt offen, wie viel Soziologie am Ende in den Mauern Trojas ankommt.