Warum Schweden?

Schweden wird „normal“, so wie der Kontinent. Zum ersten Mal seit langer Zeit funktioniert die Konsensmaschine nicht mehr richtig und die Regierung stürzt nach nur zwei Monaten. Das ist die erste Regierungskrise seit 1978 und die erste vorgezogene Neuwahl seit 1958. Stefan Löfven hatte, wie üblich, eine Minderheitsregierung gebildet, die in der Regel vergleichsweise bequem regieren kann, solange sie keine Mehrheit gegen sich hat. Auch in diesem Fall wäre das gelungen, denn der alternative Haushaltsentwurf der bürgerlichen Parteien hätte keine Mehrheit gefunden — wenn ihm nicht die rechtsextremen „Schwedendemokraten“ zugestimmt hätten. Der bürgerliche Entwurf unterschied sich zwar nicht sehr von dem der Regierung, aber die müsste nun einen Haushalt der Opposition umsetzen. Im März dürften Neuwahlen stattfinden, und dann wird sich zeigen, ob die Aufteilung des politischen Lebens in zwei Blöcke und die Rechtsextremen als Zünglein an der Waage Bestand haben wird. „Warum Schweden?“ weiterlesen

Die Moderne als Bildprogramm

Unter deutschen Intellektuellen herrscht (oder herrschte lange) eine gewisse Bilderfeindlichkeit. Die FAZ hat ja erst im September 2001 erstmals ein Foto auf der Titelseite abgebildet, davor galt der reine Text. Bei Historikern sieht es nicht anders aus. Die meisten Bücher: ohne Bilder. Wenn Bilder, dann zumeist als reine Illustration: so und so sah xy aus. Die waren sogar allen Ernstes in der Lage, Gemälde aus dem 18. Jahrhundert als Abbild vergangener Wirklichkeit zu verkaufen. Fast noch besser: Große, farbige Karten aus der Frühneuzeit werden auf Postkartengröße reduziert und schwarz/weiß abgedruckt — von renommierten Verlagen. Da „erkennt“ nur noch einen Brei von Graustufen, und den großen Unterschied: Das ist eine Karte und kein Portrait. Was für eine Missachtung des Bildes durch Autoren und Verlage gemeinsam. Langsam ändert sich das zum Glück (z.B. hier). „Die Moderne als Bildprogramm“ weiterlesen

Übergänge 33/45

Es ist mehrfach die Frage angeklungen, wie es mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Nationalsozialismus aussieht. Eine gängige Interpretation war lange Zeit, dass Wissenschaftler und Disziplinen, die sich dem „Dritten Reich“ angedient hatten, den Boden der Wissenschaft verlassen haben. In der Soziologie wurde gar bestritten, dass es das Fach zwischen 1933 und 1945 überhaupt gegeben habe, bis Soziologiehistoriker diesen Mythos zerlegt haben. In der Geschichtswissenschaft hat diese Frage Ende der 1990er Jahre zu hochemotionalen Auseinandersetzungen zwischen älteren und jüngeren Historikern, den Schülern und „(Ur-)Enkeln“ geführt. „Übergänge 33/45“ weiterlesen

„Arme Irre“ & Pseudowissenschaft — Grenzen der seriösen Wissenschaft?

Wenn man sich mit einem so schrägen Phänomen wie der Rassenanthropologie beschäftigt, stellt sich natürlich sofort die Frage, was ist Wissenschaft, wie ist die Grenze zum Humbug oder zur Ideologie zu ziehen? Es gibt (Wissenschafts-)Historiker, die dazu neigen, Professionen, die im „Dritten Reich“ mitzogen, jede Form von „Modernität“ und „Fortschrittlichkeit“ abzusprechen, weil sie diese Begriffe latent oder explizit als moralische Kategorien verwenden — es gab da in meinem Fach in den späten 1980er Jahren eine heftige Debatte unter dem Titel „Wie modern war der Nationalsozialismus?“ Die Rassenanthropologie kann in dieser Perspektive per se keine Wissenschaft gewesen sein. „„Arme Irre“ & Pseudowissenschaft — Grenzen der seriösen Wissenschaft?“ weiterlesen

Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftstheorie

Ein anderes Beispiel, wie man Soziologie und Historiografie analytisch verbinden kann, um sich über die Gegenwart zu informieren. Es stammt aus meinem letzten Forschungsprojekt über die deutsche Rassenanthropologie, die ein ganz merkwürdiges Phänomen ist. Sie begann im 19. Jahrhundert Menschen zu vermessen, um über anthropologische Merkmale auf die genetische Beschaffenheit bzw. rassische Zugehörigkeit von Individuen schließen zu können. Die Grenzen zur Eugenik und zur Rassenkunde verflossen, die Anthropologie bildete eine enge Symbiose mit dem nationalsozialistischen Regime, konnte aber nach 1945 ihre Arbeit ohne größere personelle und inhaltliche Verluste fortsetzen. Das ist nicht erstaunlich, sondern eine typisch deutsche Geschichte. Irritierend ist vielmehr, dass fast seit Beginn an das Scheitern der Anthropologie beklagt wird — von den Anthropologen selbst. Etwa ein Jahrhundert lang kann man fast wortgleich in allen ihren Texten lesen, dass es zu wenige Daten gebe, um die erbbiologischen und rassenkundlichen Annahmen belegen zu können, gleichwohl aber zu viele Daten, um sie mit den analogen Technologien verarbeiten zu können, dass das grundlegende ABC der Vererbungslehre nicht einmal ansatzweise bekannt sei, dass die unterschiedlichen Studien aus methodischen Gründen kaum vergleichbar waren, oder dass man durch anthropologische Messdaten eben doch nichts über die Gene erfuhr. Alle Texte verkündeten aber: Zukünftig werden wir diese Probleme gelöst haben. Zuletzt verbreitete Ilse Schwidetzky diesen Optimismus in einer großangelegten Bestandsaufnahme der Anthropologie im Jahre 1982 (unter dem Titel „Maus und Schlange“), erst danach ist die Rassenanthropologie endgültig von der Bildfläche verschwunden. „Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftstheorie“ weiterlesen

Aus dem Leben der Sozialingenieure

Ich habe mit Alva und Gunnar Myrdal zwei exemplarische Sozialingenieure untersucht. Die beiden zählten seit den frühen 1930er Jahren zur intellektuellen und politischen Elite erst Schwedens, dann der gesamten Welt (in Form der United Nations). Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie beide derart weit aufgestiegen, dass sie sich die Chefposten bei der UN aussuchen konnten, wenn sie einmal mehr ihre Residenz wechseln wollten. Alva Myrdal bekam den Friedensnobelpreis, ihr Mann den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Sie haben einen irrwitzig umfangreichen Nachlass hinterlassen, weil Gunnar gesagt haben soll, dass dereinst junge Wissenschaftler sehen sollten, wie zwei große Menschen gedacht haben. Offenbar ist alles, was nicht verloren gegangen ist, im Archiv gelandet, darunter ein Konvolut mit etwa 8000 höchst privaten Briefen, die die beiden sich im Laufe ihres Lebens schrieben, weil es sie durch ihre professionelle Arbeit immer wieder an unterschiedliche Orte verschlug. Man kann wirklich nachvollziehen, wie zwei Giganten der Sozialpolitik dachten — nur anders als sie es sich vorgestellt haben. Das ist die Grundlage, um etwas noch Faszinierenderes zu beobachten: wie die beiden ihre Ehe zum Projekt gemacht haben, als Blaupause einer umfassenden Gesellschaftsreform. „Aus dem Leben der Sozialingenieure“ weiterlesen

Synthetische Begriffsbildung: social engineering

Social engineering ist ein in der Forschung noch nicht definierter Begriff, obwohl er seit dem frühen 20. Jahrhundert vereinzelt durch die Literatur geistert. Am nächsten ist ihm noch die schwedische Historikerin Yvonne Hirdman gekommen in ihrem wichtigen Buch „Att lägga livet tillrätta“ (das ist irgendwo teilweise ins Englische übersetzt worden), weniger jedenfalls Karl Popper, der oft als Referenz genannt wird, weil es ihm vor allem um eine Abwehr totalitären Planungsdenkens ging. In einem DFG-Forschungsprojekt habe ich mich zusammen mit David Kuchenbuch, Timo Luks und Anette Schlimm etwa vier Jahre abgemüht, den Begriff zu profilieren, das waren außerordentlich gewinnbringende Diskussionen. Wir haben den Begriff weder aus den Quellen entwickelt, weil es ihn da kaum gibt, noch einfach definiert und dann an die Quellen herangetragen. Eher war es eine Art synthetisierendes Verfahren. Wir haben mit Hilfe von Theorien — Ludwik Fleck, Michel Foucault u.a. —, empirischer Studien und an den Quellen Felder, Themen und Akteure identifiziert und auf diese Weise immer mehr umrissen, was social engineering sein könnte und was nicht. „Synthetische Begriffsbildung: social engineering“ weiterlesen

Geschichtswissenschaft und Soziologie

Das Verhältnis zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft will ich jetzt knapp aus der Fachgeschichte meines Faches heraus beleuchten, in Form einer kleinen Genealogie. Im „Dritten Reich“ gab es in der „Ostforschung“ einen großen interdisziplinären Verbund von Historikern, Geografen, Soziologen, Volkskundlern, Kunsthistorikern, Sprachwissenschaftlern usw. Deren Ziel war es zu beweisen, dass der deutsche „Volksboden“ kulturell und rassisch bis weit in den Osten der damaligen Sowjetunion reichte. Ein junger Historiker, Werner Conze, ging bei zwei — cum grano salis — Soziologen in die Schule, Hans Freyer und Gunther Ipsen. Ipsen habilitierte Conze, Freyer übte mit seiner „Weltgeschichte Europas“ und der „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ erheblichen intellektuellen Einfluss auf ihn aus. „Geschichtswissenschaft und Soziologie“ weiterlesen

Historiker und Theorie

Es gibt noch einen Unterschied zwischen Soziologen und Historikern, jedenfalls bei denen, die sich in einem Interesse für Theorie treffen. Erstere denken von der Theorie her, Letztere von der Empirie. Meine Stichprobe, gebe ich zu, ist klein. Auf der einen Seite ein Oldenburger (Sport-)Soziologe und dessen intellektuelles Netzwerk, auf der anderen Seite ich und meines. Wir beide diskutieren gut miteinander. Er praktiziert ein permanentes „re-reading“ von Theorien, hat Details parat, beobachtet präzise Verschiebungen in der Theoriearbeit einzelner Autoren und präsentiert empirische Befunde in der Sprache dieser Theorien. Wenn es in einer Theorie ein Loch gibt, stopft er es mit Elementen einer anderen; in langen Durchläufen unterschiedlichster Texte werden immer neue Architekturen errichtet, die dann — über die intellektuelle Anregung hinaus — ganz materielle Effekte zeitigen können, etwa ein erfolgreich beantragtes Graduiertenkolleg. „Historiker und Theorie“ weiterlesen

„Weber 2000“

„Weber 2000“ — prägnanter kann man den Unterschied zwischen Soziologen und Historikern wohl nicht auf den Punkt bringen. Das klingt wie der Name einer Supermarktkette in Schweden, ist aber ein bibliographischer Nachweis. Historiker bringen es kaum fertig, ihn in die Tastatur zu tippen. Max Weber lebte von 1864 bis 1920, seine Texte entstammen einer vergangenen Epoche. Ohne ein „(urspr. 1904)“ in der Fußnote oder einer Annotation im Text kommen Historiker deshalb nicht aus. Soziologen dagegen verleihen ihren Theoretikern oft eine Art überzeitlicher Gültigkeit, als habe Weber mit seinen Thesen zum Protestantismus oder zur Bürokratie ein theoretisches Modell geliefert, mit dessen Hilfe man immer gültige Formen gesellschaftlicher Ordnung beschreiben kann. Dabei entstammt jede soziologische Beschreibung oder Theorie erst einmal den Erfahrungen einer spezifischen Zeit. Alle Geschichtsschreibung übrigens auch, von daher gibt es vielleicht tatsächlich nur Gegenwart, zu der sich jedes System seine Vergangenheit und Zukunft hinzurechnet. „„Weber 2000““ weiterlesen

Historiker und Soziologen

Ich bin gebeten worden, als Historiker für die kommenden zwei Monate den Soziologen-Blog zu bestreiten. Das ist einerseits eine reizvolle Aufgabe, andererseits fällt mir der Einstieg nicht ganz leicht. Das liegt daran, dass ich das Verhältnis zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft nur sehr verzerrt wahrzunehmen scheine. Obwohl ich selbst nie Soziologie studiert habe, bin ich von Beginn an durch Wissenschaftler geprägt worden, für die eine Rezeption soziologischer Theorien selbstverständlich war. Das fing mit der „Bielefelder Schule“ der „Historischen Sozialwissenschaft“ an, mit ihrem Säulenheiligen Max Weber, und setzte sich mit Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Niklas Luhmann oder der Wissenschaftssoziologie in zahlreichen Seminaren in Geschichte, Volkskunde oder Philosophie fort. Und seit der Mitte des letzten Jahrzehnts bin ich an der Ausgestaltung eines Graduierten-Kollegs zu „Praktiken der Selbst-Bildung“ beteiligt, seitdem rauscht die Praxistheorie auf mich hernieder. Deshalb ist es kein Wunder, dass mir spätestens seit der Jahrtausendwende die produktive Aneignung soziologischer Theoreme in der Geschichtswissenschaft geradezu selbstverständlich geworden zu sein scheint. Ja, mittlerweile beginnen Historiker sogar über die Reichweite soziologischer Befunde und Generalisierungen zu reflektieren. Und auf der anderen Seite stoße ich immer wieder auf Soziologen, die mit spielerischer Leichtigkeit mit Historikern kooperieren.

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Der 37. DGS-Kongress in Trier. Der 5. Tag

„Außer routinierten Katastrophen ist alles gut gelaufen“, so fasste Stephan Lessenich die letzte Woche augenzwinkernd zusammen, doch bei der Saalwette musste er sich Martin Endreß geschlagen geben. Es kamen mehr „Krisenroutiniers“ auf die Bühne, als Lessenich gewettet hatte. Unter verdient tosendem Applaus wurde dem Organisationsteam und den Helfer_innen für den reibungslosen Ablauf und die Planung gedankt. So fand die Kongresswoche heute mit der Verleihung des Preises für ein hervorragendes wissenschaftliches Lebenswerk an Zygmunt Bauman einen fulminanten Abschluss.

Die Laudatio auf Herrn Bauman hielt Ulrich Beck, der seinen Vortrag mit dem Titel: „Sinn und Wahnsinn der Moderne“ überschrieb. Bauman sei „kein gewöhnlicher Mensch und kein gewöhnlicher Soziologe“, so Beck und würdigte seine tiefe Aufrichtigkeit und seinen sensiblen Sprachgebrauch. Beck hob das von Bauman erarbeitete Verhältnis von Macht und Politik hervor, diagnostizierte dieser „Ehe“ eine Trennung mit Aussicht auf Scheidung und verwies dabei unter anderem auf die politische Relevanz seines Lebenswerks.

Mit stehenden Ovationen wurde Zygmunt Bauman anschließend auf der Bühne empfangen. Scherzhaft kommentierte er, dass seine eigentliche Leistung nur darin bestehe, ein so hohes Alter erreicht zu haben – nicht nur sympathisch, auch noch bescheiden. Bezogen auf das Kongressthema ging er in seinem Festvortrag darauf ein, inwiefern vergangene Krisen Auswirkungen auf die Gegenwart haben können. Ereignisse wie der 30jährige Krieg oder die Reformationsbewegungen sind eben keine singulären Ereignisse, die für sich stehen, sondern ihre Schatten reichen weit darüber hinaus. So ist die Gegenwart weniger durch die Vergangenheit bestimmt als vielmehr durch ihre ungelösten Aufgaben geprägt. Er möchte sich nicht anmaßen, Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen zu treffen, sondern appellierte an die ihm nachfolgenden Generationen, die richtigen Fragen zu stellen und nicht nur Antworten zu suchen.

Abschließend möchte auch ich mich bei allen Beteiligten für diese spannende und aufschlussreiche Woche bedanken. Trier hat bewiesen, dass man mit einem tollen Team und guter Zusammenarbeit auch an einer kleinen Universität einen großen Kongress stemmen kann.

Der 37. DGS-Kongress in Trier. Der 4. Tag

Während ich gestern die Hälfte des Tages mit der Präsentation unseres Forschungsprojektes beschäftigt war, konnte ich mich heute wieder mehr dem Vortragsgeschehen widmen. Ein Programmpunkt war die Mittagsvorlesung von Susanne Baer. Ich gebe zu, ich war beim Titel „Erschütternd. Zur Praxis des Verfassungsrechts“ auf eine nicht sonderlich spannende Vorlesung eingestellt, habe aber von einem Kommilitonen den Tipp bekommen, hineinzugehen, da er schon mal bei einem ihrer Vorträge war und es sich durchaus lohnen könnte. Er sollte Recht behalten. Die Vorlesung war nicht nur sehr gut strukturiert, frei vorgetragen und sprachlich toll formuliert, sondern auch inhaltlich sehr spannend. So schilderte Frau Baer das Verhältnis von Krisen und Routinen hinsichtlich der Rechtspraxis als ein dialektisches. Recht hat auf der einen Seite den normativen Anspruch, Krisen präventiv zu begegnen bzw. diesen entgegenzuwirken. Auf der anderen Seite können jedoch auch Krisen herbeigeführt werden: durch Rechtsprechung wird mit alten Routinen gebrochen und die Entwicklung neuer Routinen verlangt. In dieser Hinsicht versuchte sie der Soziologie über den Zusammenhang der Rechtsprechung mit der Krise und gesellschaftlichen Routinen ein neues Forschungsfeld aufzuweisen.

Am Nachmittag besuchte ich die Ad-Hoc-Gruppe „Die Vermessung des Selbst – Zur Quantifizierung des Körpers“. Das relativ neue Forschungsfeld setzt sich mit dem sogenannten „Self-Tracking“ auseinander, der Messung und Auswertung von Daten wie z.B. Schlafrhythmus, Essverhalten oder Herzfrequenz mittels Computerprogrammen oder Gadgets. Der Körper wird zur Datenquelle und der Mensch zum Manager seines Selbst. Die bisherigen Forschungsergebnisse zu diesem Thema speisen sich vor allem aus qualitativen Interviews und es zeigt sich, dass die (ambitionierten) Self-Tracker dies vor allem für die eigene Motivation (gegen den inneren Schweinehund) und zur Verbesserung der eigenen Leistung tun. Vorher scheinbar routinierte Handlungen wie schlafen oder Treppen steigen gewinnen jedoch unter dem Licht der Aufzeichnung in quantifizierbare Daten eine völlig neue Bedeutung. Man hat nicht mehr nur „gut geschlafen“, sondern man kann auswerten, wie gut man geschlafen hat. Die Nutzer interpretieren und veranschaulichen ihre Daten, werden also zum (vermeintlichen?) Experten über den eigenen Körper und setzen somit neue Anreize, die Verhaltensänderungen zur Folge haben. Das Thema bietet viel Raum für kontroverse Diskussionen und wird wohl nicht nur in der Soziologie noch viel Beachtung finden.

Die letzten Tage, das klang in den vorangegangen Blogbeiträgen schon mit, lieferten sehr viel Input. Heute Abend war meine letzte Schicht als HiWine und ich muss sagen, ich empfand es als eine angenehme Abwechslung, mich hierbei „nur“ körperlich zu betätigen, d.h. Kisten tragen, Flaschen einsammeln, Gläser wegräumen und helfen, wo Hilfe benötigt wurde. Umso perplexer war ich, als heute, kurz nach Feierabend, Zygmunt Bauman neben mir stand und sein Begleiter mich fragte, ob ich nicht ein Taxi bestellen und ihnen den Haupteingang zeigen könne. Ein kurzes, aber nettes Gespräch später stiegen sie ins Taxi und fuhren zum Hotel. Bis Morgen, Herr Bauman, ich freue mich auf Ihren Vortrag!

Der 37. DGS-Kongress in Trier. Der 3. Tag

Der heutige Tag war für mich zunächst vor allem durch die Präsentation unseres Forschungsprojektes „Kunst und Schrott“ auf der Postersession geprägt. Im C-Gebäude fand eine Ausstellung von Forschungsarbeiten internationaler Nachwuchswissenschaftler_innen statt. Es ist wohl auch dem Zeitrahmen zwischen 12.00 und 14.00 Uhr geschuldet, dass sich der Andrang in Grenzen hielt, denn der angeschlagene Zeitraum kollidierte sowohl mit der Mittagspause als auch mit der Mittagsvorlesung von Piotr Sztompka. Nichtdestotrotz war allein die Vorbereitung (Schreiben des Abstracts für das Bewerbungsverfahren, konkrete Umsetzung in visuell und inhaltlich ansprechender Posterform) die Erfahrung allemal wert, da diese Arbeit sicher eine gute Schule für zukünftige, vergleichbare Bewerbungsverfahren war. Darüber hinaus konnte ich mich mit anderen Beteiligten der Postersession über ihre jeweiligen Projekte und Forschungsarbeiten austauschen. Dabei hatte ich die Gelegenheit, für meine anstehende Abschussarbeit wertvolle, vor allem methodische Anregungen und Tipps zu sammeln. Leider konnte ich aufgrund der Präsentation den Vortrag von Herrn Sztompka  zum Thema „Existential Uncertainty: The Predicament of our Time“ nicht hören, der in meinen Augen zu einem der Höhepunkte auf diesem Kongress zählte.

Dafür hatte ich am Nachmittag Zeit, aus der Fülle an Veranstaltungen meinen Favoriten zu wählen. Eigentlich wollte ich die Sektion Kultursoziologie mit dem Thema „Soziologie als kritische Theorie oder Soziologie als Krisenwissenschaft“ besuchen, die mit prominenten Gästen wie zum Beispiel Stephan Moebius und Hartmut Rosa besetzt war. Hier war das Interesse aber so groß, dass der Raum völlig überfüllt war und ich mich daher nach Alternativen umsehen musste. Meine Wahl fiel dann spontan auf die Ad-Hoc-Gruppe „Kaufen für eine bessere Welt“, da ich mich für das Thema Nachhaltigkeit und die Konzeptionierung des Begriffs „ethischer Konsum“ auch abseits des wissenschaftlichen Kontextes interessiere. So wurden hier unterschiedliche Forschungsarbeiten vorgestellt, die unter anderem die Motivation des Kaufens von Fair-Trade Kaffee unter Beeinflussung verschiedener Faktoren untersuchten oder die Rolle von Verbraucherorganisationen als Intermediäre zwischen Kunden und Unternehmen in den Fokus rückten. Dabei kam es zu interessanten Ergebnissen, unter anderem, dass der Kaufpreis gegenüber anderen Faktoren wie gezielter Informationsstreuung oder dem Appell an die ethische Vernunft ein entscheidender Faktor für die Bereitschaft ist, Kaffee zu kaufen, der das Fair-Trade Siegel trägt. Hierbei zeigt sich einmal mehr, dass von diesem Kongress wichtige gesellschaftliche Impulse ausgehen können, dahingehend, dass auf der Basis solcher Studien der Frage nachgegangen werden kann, wie der Wandel hin zu einem nachhaltigen Konsum am ehesten motiviert werden kann.

Als Zwischenbilanz zur Halbzeit des Kongresses ziehe ich aus den von mir besuchten Veranstaltungen ein überwiegend positives Resümee. Etwas schade finde ich lediglich den doch sehr knapp bemessenen Raum für Fragen und Diskussionen, der sich an die Vorträge anschließt. In den Ad-Hoc-Gruppen beispielsweise stehen dafür in der Regel nur etwa 10 Minuten zur Verfügung, die mitunter von nur sehr wenigen Nachfragen und Anmerkungen gefüllt werden, wenn diese etwas weitschweifend formuliert sind.