Kriege, Kriegsgesellschaft, Zeitenwende

Beitrag 10: Der Erste Weltkrieg als paradigmatischer Fall kriegsgesellschaftlicher Transformation (IV) – Kriegsgesellschaftliches Dilemma

  1. Kriegsgesellschaftliches Dilemma, theoretisch betrachtet
  2. Die russische Februar-Revolution ist eine Manifestation des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas
  3. Das Hindenburg-Programm stärkt das Deutsche Reich zeitweise militärisch, führt aber letztendlich zum Zusammenbruch der Heimatfront
  4. Am kriegsgesellschaftlichen Dilemma zerbricht auch das multiethnische Habsburgerreich
  5. Das kriegsgesellschaftliche Dilemma im Ersten Weltkrieg – Fazit

Große Kriege können eine gewaltige Inklusionsdynamik freisetzen. Das Gefühl der äußeren Bedrohung erzeugt ein affektuelles Gemeinschaftserlebnis, so dass wir von Vergemeinschaftungen im Sinne Max Webers sprechen können. Ein kriegführendes Land stellt sich als patriotische Vergemeinschaftung dar, quasi als (wahrgenommene) Schicksalsgemeinschaft gegen eine Bedrohung von außen, gegen eine „Welt von Feinden“ (Kaiser Wilhelm II). Dieses Vergemeinschaftungserlebnis führt dazu, dass sich interne politisch, soziale und ökonomische Konflikte weitgehend verflüchtigen. Vor allem in den ersten Monaten finden wir in den kriegführenden Ländern eine unvergleichliche Konfliktabstinenz vor (vgl. Beitrag 9). Aber das bleibt nicht so. Die historischen Befunde zeigen, dass in den ersten beiden Jahren des Ersten Weltkriegs innere Konflikte wie Arbeitskämpfe selten sind. In der zweiten Kriegshälfte hingegen nehmen interne soziale Konflikte dramatisch zu. Für alle kriegführenden Länder beobachten wir einen Anstieg an sozialen Protesten und Rebellionen bis hin zu offenen Revolutionen gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Die Härte, mit der die Konflikte ausgetragen werden, nimmt gegen Kriegsende zu. Die für den Kriegsbeginn so prägenden patriotischen Vergemeinschaftungen zerbrechen. Warum ist das so? Kriegsgesellschaftstheoretisch betrachtet macht sich hier der Effekt einer Strukturkonstellation bemerkbar, die man als „kriegsgesellschaftliches Dilemma“ bezeichnen kann.

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Kriege, Kriegsgesellschaft, Zeitenwende

Beitrag 8: Der Erste Weltkrieg als paradigmatischer Fall kriegsgesellschaftlicher Transformation (II)

 Wie kann man die aktuelle Lage, die durch Kriege und Kriegsbedrohungen gekennzeichnet ist, soziologietheoretisch erfassen? Gängige soziologische Großtheorien konzipieren moderne Gesellschaft als zivile, also friedensbasierte Gesellschaft und blenden Kriege weitgehend aus.

Die hier vertretene Kriegsgesellschaftstheorie fokussiert hingegen, welche gesellschaftsstrukturellen Dynamiken moderne Kriege entfalten (können). Es geht also nicht um die Ursache, sondern um die Wirkung von Kriegen. Die Kriegsgesellschaftstheorie ist unterkomplex angelegt und versteht sich als heuristischer Rahmen für eine historisch-soziologische, gleichermaßen theoretische wie historische Analyse.

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Kriege, Kriegsgesellschaft, Zeitenwende

Beitrag 7: Der Erste Weltkrieg als paradigmatischer Fall kriegsgesellschaftlicher Transformation (I) – Mobilisierungswettlauf

 Im Beitrag 6 wurden sieben kriegsgesellschaftstheoretische Basistheoreme vorgestellt, welche die Dynamik der kriegsgesellschaftlichen Transformation beschreiben: Krieg als Mobilisierungswettlauf, Mobilisierungswettlauf als Triebkraft der kriegsgesellschaftlichen Transformation, Zentrale Steuerung, Tendenziell diktatorische Spitze, Patriotische Vergemeinschaftung, Kriegsgesellschaftliches Dilemma, Zivilgesellschaftliche Transformation.

Wir müssen zur Analyse der aktuellen Situation unterscheiden erstens zwischen Kriegsgesellschaft und Zivilgesellschaft und zweitens zwischen „reiner“ Zivilgesellschaft ohne Kriegsbeteiligung und äußere Bedrohung und einer Zivilgesellschaft im Krieg mit (indirekter) Kriegsbeteiligung und äußerer Bedrohung. Meine Grundthese ist, dass sich die deutsche Gesellschaft und Politik nach wie vor weitgehend im Modus einer „reinen“ Zivilgesellschaft bewegen. Damit gefährden sie, wie andere westliche Staaten auch, das Überleben der Ukraine im russischen Angriffskrieg. Nach einer Niederlage der Ukraine könnte Russland NATO-Staaten, z. B. die baltischen Länder angreifen, und dann wäre Deutschland wie andere NATO-Staaten zu militärischem Beistand verpflichtet, wäre also Kriegspartei mit eigenen Streitkräften.

Um dem vorzubeugen, müsste die Bundesrepublik Deutschland von einer „reinen“ Zivilgesellschaft zu einer Zivilgesellschaft im Krieg werden. Eine Zivilgesellschaft im Krieg unterstützt eine Kriegsgesellschaft. Anders gesagt: Die Zivilgesellschaft im Krieg steht in einer symbiotischen Beziehung mit der unterstützten Kriegsgesellschaft. Um die Beziehung zwischen beiden zu verstehen, befassen wir uns zunächst historisch mit den Kriegsgesellschaften des Ersten Weltkriegs.

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Rassismus- und Antisemitismuskritik in den aktuellen Gewaltverhältnissen

Eine Erinnerung an gesellschaftskritische Grundüberzeugungen kann derzeit helfen, sich den Bekenntniszwängen zu widersetzen, die eine „Positionierung“ im Verhältnis zu Israel angesichts der Gewalteskalation im Gaza-Krieg fordern und den diesem zugrunde liegenden Konflikt mit einem binären Schema vereinfachen. Wie könnte es möglich werden, komplexer zu denken und den eigenen historisch-gesellschaftlichen Kontext zu berücksichtigen?

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Krieg, Kriegsgesellschaft, Zeitenwende

Beitrag 6: Basistheoreme der Kriegsgesellschaftstheorie

Kriegsgesellschaftstheorie im hier verstandenen Sinn befasst sich mit durch Kriege ausgelöste Transformationen gesellschaftlicher Strukturen. Es geht also nicht um Ursachen, sondern um gesellschaftliche Wirkungen von Kriegen. Doch längst nicht jeder Krieg führt zu einer gesellschaftlichen Transformation. Ich habe im Beitrag 5 folgende Typen der gesellschaftstransformativen Kraft von Kriegen unterschieden: Kriegsgesellschaft (als Ergebnis kriegsbedingter gesellschaftlicher Transformation),  antizipative Kriegsgesellschaft (ohne manifesten Krieg in Erwartung eines großen, tendenziell totalen Krieges), Kriegführende Zivilgesellschaft (ohne gesellschaftliche Transformation), Zivilgesellschaft im Krieg (Kriegsbeteiligung ohne eigene Streitkräfte, gleichbleibende Basisstrukturen wie Markt und Demokratie bei verändertem institutionellem Arrangement), reine Zivilgesellschaft (ohne Kriegsbeteiligung und Kriegsbedrohung). Ich möchte in diesem Beitrag sieben Basistheoreme der Kriegsgesellschaftstheorie kurz skizzieren.

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Für eine ernsthafte Verwissenschaftlichung der Debatte

Es ist mit allem Nachdruck zu begrüßen, dass die DGS auszuloten beginnt, welche Perspektiven die Soziologie zur aktuellen Debatte um den Gaza-Krieg und den darauf bezogenen Protesten, zu dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel und zu den damit zusammenhängenden Deutungsfragen um Antisemitismus, Rassismus usw. beitragen kann. Angesichts antagonistisch strukturierter Debatten ist jede wissenschaftliche Differenzierung und jedes Gegen-den-Strich-Lesen der Debatten durch verschiedene (sub-)disziplinäre Perspektiven ein Gewinn. Der Eröffnungstext von Jürgen Daub ist nicht im engeren Sinne ein Beitrag zur angestrebten Soziologisierung, gleichwohl verdeutlicht er (analytisch wie performativ) einige der Probleme der aktuellen Thematisierungsstrategien im diskursiven Feld Nahostkonflikt/Israel/Palästina/Judentum/Antisemitismus/Rassismus usw.

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Ideologische Verirrungen. Zu den „propalästinensischen Protesten“ an deutschen Universitäten

„Der terroristische Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten am 7. Oktober 2023, die andauernde Entführung vieler Israelis und der sich daran anschließende Krieg im Gazastreifen mit unzähligen zivilen Opfern ist auch in der deutschen Wissenschaft ein viel diskutiertes und umkämpftes Thema. Die Kontroverse um die jüngsten Protestcamps und Besetzungen von Universitätsräumen, bei denen leider auch immer wieder antisemitische Schmähungen skandiert werden, hat auch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zu einer Stellungnahme, vor allem zur Berichterstattung über die Proteste, veranlasst. Diese hat unter den Verbandsmitgliedern viel Zustimmung, aber auch Kritik hervorgerufen. Wir wollen diesen Stimmen auf dem SozBlog Raum geben.“

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Krieg, Kriegsgesellschaft, Zeitenwende

Beitrag 5: Wann führen Kriege zu einer gesellschaftlichen Transformation, und wann nicht?

Im Beitrag 4 wurde Herbert Spencers Theorie des „Militant Type of Society“ vorgestellt. Demnach führen Kriege zu einer gesellschaftlichen Transformation. Triebkraft derselben ist der Mobilisierungswettlauf. Denkt man sich zwei gleiche Gesellschaften im Krieg, dann gewinnt die Gesellschaft, die mehr Soldaten und Arbeitskräfte, aber auch Motivation und Loyalität gegenüber dem Staat motiviert. Eine Mobilisierung kann effektiv nur zentral gesteuert werden. Zur Durchsetzung zentraler Steuerung bedarf es eines starken Staates mit einer tendenziell diktatorischen Spitze. Es gewinnt die Partei, die am längsten den Mobilisierungswettlauf durchhält. Das ist der Kern eine Kriegsgesellschaftstheorie nach Herbert Spencer.

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Soziologie und aktuelle Kriege

Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in der „Zeitenwende“

Beitrag 4: Über Kriegsgesellschaftstheorie (I)

Im vorangegangenen Beitrag wurde vorgeschlagen, die „Zeitenwende“ als eine kleine Transformation von einer „reinen“ Zivilgesellschaft, ohne äußere Bedrohung oder nationale Kriegsbeteiligung, zu einer „Zivilgesellschaft im Krieg“ zu verstehen. Letztere unterstützt eine Kriegsgesellschaft z. B.  mit Waffenlieferungen, ohne sich mit eigenen Streitkräften am Krieg zu beteiligen. Zentral ist der Begriff der „Kriegsgesellschaft“, aus dem sich der Begriff der „Zivilgesellschaft im Krieg“ ergibt. Fundamental dafür ist die Theorie von Herbert Spencer.

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Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in der „Zeitenwende“

Beitrag 3: Deutschland in der „Zeitenwende“: Von der reinen Zivilgesellschaft zur Zivilgesellschaft im Krieg

Zu Beginn des Angriffskriegs von Russland gegen die Ukraine hat die Politik rasch dessen epochale Bedeutung erfasst. Die Außenministerin erklärte schon am ersten Kriegstag: „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“. Wenige Tage später prägte der Bundeskanzler den Begriff der „Zeitenwende“. Wenn wir es nun mit einer „anderen Welt“ und einer „Zeitenwende“ zu tun haben – in welcher Gesellschaft leben wir jetzt eigentlich?

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Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in der „Zeitenwende“

Beitrag 2: Die neoimperiale Politik Russlands als sicherheitspolitische Herausforderung für die Bundesrepublik Deutschland

Abstract

Große, langdauernde, tendenziell totale Kriege nach Art der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts führen zu einer gesellschaftlichen Transformation, insbesondere zu einer Marginalisierung der Basisstrukturen Markt und Parlamentarische Demokratie zugunsten zentraler Steuerung und einer tendenziell diktatorischen Spitze. Das Ergebnis dieser Transformation nenne ich Kriegsgesellschaft. Als Gegenstück dazu kann die reine Zivilgesellschaft gelten, ohne Kriegsbeteiligung, ohne (wahrgenommene) äußere Bedrohung, „von Freunden umzingelt“ (Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe). Diesem Typus entsprach die deutsche Gesellschaft seit den 1990er Jahren bis zum 24. 02. 2022. Angesichts der nunmehr wahrgenommenen Bedrohung durch die neoimperialen Politik Russlands entwickelt sich die deutsche Gesellschaft in Richtung eines dritten Typus, der Zivilgesellschaft im Krieg. Als sanktionierende Macht gegenüber dem Aggressor, als unterstützende Macht der angegriffenen Ukraine ist sie von den gesellschaftsverändernden Imperativen großer Kriege betroffen, aber eher in einem miniaturhaften Format. Das Ergebnis ist keine fundamentale gesellschaftliche Transformation, wohl aber ein erheblicher Wandel in Gesellschaft und Politik. „Zeitenwende“ bedeutet gesellschaftstheoretisch: Wandel von einer reinen Zivilgesellschaft zu einer Zivilgesellschaft im Krieg.

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Soziologie und aktuelle Kriege

Beitrag 1: Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in der „Zeitenwende“

Abstract

Große, langdauernde, tendenziell totale Kriege nach Art der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts führen zu einer gesellschaftlichen Transformation, insbesondere zu einer Marginalisierung der Basisstrukturen Markt und Parlamentarische Demokratie zugunsten zentraler Steuerung und einer tendenziell diktatorischen Spitze. Das Ergebnis dieser Transformation nenne ich Kriegsgesellschaft. Als Gegenstück dazu kann die reine Zivilgesellschaft gelten, ohne Kriegsbeteiligung, ohne (wahrgenommene) äußere Bedrohung, „von Freunden umzingelt“ (Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe). Diesem Typus entsprach die deutsche Gesellschaft seit den 1990er Jahren bis zum 24. 02. 2022. Angesichts der nunmehr wahrgenommenen Bedrohung durch die neoimperialen Politik Russlands könnte sich die deutsche Gesellschaft in Richtung eines dritten Typus entwickeln, der Zivilgesellschaft im Krieg. Als sanktionierende Macht gegenüber dem Aggressor, als unterstützende Macht der angegriffenen Ukraine ist sie von den gesellschaftsverändernden Imperativen großer Kriege betroffen, aber eher in einem miniaturhaften Format. Das Ergebnis ist keine fundamentale gesellschaftliche Transformation, wohl aber ein erheblicher Wandel in Gesellschaft und Politik. „Zeitenwende“ bedeutet (kriegs)gesellschaftstheoretisch: Wandel von einer reinen Zivilgesellschaft zu einer Zivilgesellschaft im Krieg.

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Soziologische Umfrageforschung als Mittel der Legitimierung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine

Der Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat das Leben der Menschen in Europa grundlegend verändert. Für viele hat sich Krieg als ein Teil ihrer Realität unmittelbar realisiert, den sie vorher nur aus dem Fernsehen kannten, auf jeden Fall aber immer weit weg erschien. Diesen Eindruck haben auch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und auf dem Balkan nicht wirklich erschüttern können. Doch plötzlich klopfte ein brutaler Angriffskrieg an Europas Tür. Weniger als 1000 km von der deutschen und weniger als 100km von der polnischen Grenze entfernt, in der Stadt Lwiw im westlichen Teil der Ukraine sind seit März 2022 immer wieder russische Raketen mit tödlichen Folgen eingeschlagen.

Immer wieder ist gefragt worden, warum wir es ‘hier bei uns in Europa‘ nicht vorhergesehen haben, warum man so wenig darauf vorbereitet war. Tatsächlich haben die meisten Experten in den ostwärts gewandten Regionalwissenschaften, in den Politikwissenschaften und in den Internationalen Beziehungen bis zuletzt nicht an das Übertreten der ‘roten Linie‘ durch Vladimir Putin geglaubt, selbst als nach wochenlangen, großangelegten Manövern im Grenzgebiet zur Ukraine die russische Armee in das seit 2014 von Separatisten besetzte, ukrainische Gebiet des Donbass eindrang.

Es wird auch intensiv diskutiert, inwiefern dieser Krieg über die Grenzen eines zwischenstaatlichen Konflikts zweier Länder hinausgeht und eigentlich ein Stellvertreterkrieg ist, der globale, kulturelle und sogar zivilisatorischen Konfliktlinien repräsentiert. Dabei wird immer wieder die Frage gestellt, wie die russische Bevölkerung dazu steht, warum sie diese Katastrophe zulässt und den Machthabern im Kreml nicht Einhalt gebietet? Stimmen tatsächlich 70-80% der Russen dem Angriffskrieg zu und legitimieren Vladimir Putin als Präsident und obersten Befehlshaber?

Meinungsumfragen als politisches Machtinstrument

Um sich diesem Thema nähern zu können, ist man auf sozialwissenschaftliche Meinungsforschung angewiesen. Deren Arbeitsweise und Datenproduktion ist allerdings in Gesellschaften mit autoritären politischen Regimen höchst problematisch. Dabei geht es zwar auch um Aspekte wissenschaftlicher Freiheit, aber vielmehr darum, wie Sozialforschung vom politischen Regime zur Machtsicherung und Manipulation öffentlicher Meinung eingesetzt wird. Damit verbunden ist auch die Frage, wie sich denn Respondenten unter diesen Bedingungen in Befragungssituationen verhalten. Inwieweit können also Ergebnisse von Meinungsumfragen in Russland die tatsächliche Unterstützung des Regimes und des Krieges in der Bevölkerung abbilden?

Seid Vladimir Putins Aufstieg in die Kreml-Führung im Jahre 2000, der von einer anfänglichen hohen Zustimmungsrate (84% im Januar 2000) nach einer Periode der politischen Müdigkeit im Russland unter Boris Yeltsin getragen wurde, war der neue Präsident und die sich unter ihm entwickelnde politische Maschinerie auf Zustimmungswerte fixiert, während Soziolog:innen am ‘politischen Planungsprozess‘ teilnahmen. Ergebnisse von Meinungsumfragen in der Bevölkerung haben seitdem deutlichen Einfluss auf politische Entscheidungen. Für den politischen Philosophen Greg Yudin sind Meinungsumfragen im Putin-Russland also nicht reines window-dressing für ausländische Beobachter:innen, sondern sind integraler Bestandteil des politischen Regimes und seines Verhältnisses mit der Bevölkerung. Yudin argumentiert, dass sich Russland in einem ständigen Plebiszit befindet, der öffentliche Unterstützung für Vladimir Putin reproduziert. Ohne beständige politische Meinungen versteht demnach der Großteil der russischen Bevölkerung Meinungsumfragen als eine Art Zustimmungsspiel oder Loyalitätstest.

Die Produktion von ‘richtigen‘ Antworten

Aber welche Instrumente stellen die ‚richtigen‘ Resultate her, die den politischen Willen unterstützen und eine öffentliche, das politische Handeln legitimierende Meinung repräsentieren? Die zwei großen, staatsnahen Meinungsforschungsinstitute WTCIOM und FOM haben die Aufgabe übernommen, Zustimmung zur produzieren – wohlgemerkt, ohne offensichtliche Fälschungen. Vielmehr wird bestimmtes Antwortverhalten stimuliert, in dem man die ‘richtigen‘ Fragen stellt. So werden Studienteilnehmer:innen in der Fragestellung auf die richtige Antwort hingewiesen, zum Beispiel, durch die Klarstellung, welche Antwortoption denn mit dem Gesetz vereinbar oder moralisch-normativ legitimiert ist. Auch wird die Varianz der Antwortoptionen stark reduziert, so dass nur noch politisch wünschenswerte Möglichkeiten bleiben, z.B. werden verschiedene staatliche Medien bei der Mediennutzungsbefragung gelistet, aber keine unabhängigen Kanäle. Dazu passt, dass seit einigen Jahren offene Fragen aus den Interviewleitfäden verschwunden sind. Weiterhin spielt die Befragungssituation eine wichtige Rolle, denn stabile Zustimmungswerte für Putin und dem Fortgang des Krieges sind in Okkupationsgebieten zu beobachten, die abhängig von russischer humanitärer Hilfe sind. Ein eingesetztes Mittel ist auch immer wieder das Unterverschlusshalten von Umfrageergebnissen. Während der Kreml die staatsnahen Umfrageinstitute in dieser Hinsicht gut kontrolliert und ein bis zwei Drittel ihrer Ergebnisse gar nicht erst publiziert werden, gelingt das beim einzigen noch unabhängigen großen Umfrageinstitut Levada Center weniger. Allerdings ist es allen staatlichen Medien, also der absoluten Mehrheit, verboten, Levada-Daten in ihrer Berichterstattung zu benutzen.

Fluide und unterrepräsentierte Meinungen

Erfahrene Analysten mahnen noch aus anderen Gründen zur Vorsicht bei der Interpretation von Meinungsumfragen bezüglich der Unterstützung des Krieges. Kiril Rogov hat erst kürzlich auf Basis von Daten aus drei unterschiedlichen Studien russischer Umfrageinstitute argumentiert, dass Menschen, die dem Regime loyal gegenüberstehen und den Krieg unterstützen, unter den Respondenten überrepräsentiert sind. Dagegen geben Kritiker überproportional an, dass sie sich „ängstlich oder unwohl fühlen”, wenn sie über ihre Meinung reden. Hinzukommt, dass aufgrund von Gesetzen, die direkt nach dem Beginn des Krieges in Russland verabschiedet wurden und welche die Verunglimpfung der russischen Armee und Kritik an der „militärischen Operation“ (wozu auch die Benutzung des Wortes ‘Krieg‘ zählt) unter Strafe stellen, eine negative Antwort auf die Frage, ob man den russischen Militäreinsatz unterstützt, quasi einer Straftat gleichkommt. Direkte Opposition ist also kostspielig und in jeder Umfrage gibt es nur eine kleine Gruppe Teilnehmer:innen mit diesem Antwortverhalten (ca. 10%). Allerdings stellt die Gruppe der bedingungslosen Befürworter:innen auch nicht die Mehrheit. Je nachdem, welche Studie man liest, sind es 30-40%. Der Großteil der Befragten ist in der Regel unentschieden, hat Reservierungen oder möchte nicht antworten. In diesem Zusammenhang haben weitere russische Kolleg:innen auf Basis intensiver Interviewforschung im Land argumentiert, dass die Mehrheit der Russen eine sehr “fließende“ und unsichere Wahrnehmung vom Krieg gegen die Ukraine haben, in der sich viele Muster des Für und Wieder vermischen.

Diese Überlegungen demonstrieren eindrücklich, wie wichtig es ist, sozialwissenschaftliche Daten in der öffentlichen Diskussion zu kontextualisieren und in ihrer gesellschaftlichen Konstruiertheit zu klären. Dies gilt insbesondere, wenn diese Daten sowohl die politisch einflussreiche öffentliche Meinung in anderen Ländern, als auch interkulturelle Beziehungen und Einstellungen beeinflussen.