Soziologie und aktuelle Kriege

Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in der „Zeitenwende“

Beitrag 4: Über Kriegsgesellschaftstheorie (I)

Im vorangegangenen Beitrag wurde vorgeschlagen, die „Zeitenwende“ als eine kleine Transformation von einer „reinen“ Zivilgesellschaft, ohne äußere Bedrohung oder nationale Kriegsbeteiligung, zu einer „Zivilgesellschaft im Krieg“ zu verstehen. Letztere unterstützt eine Kriegsgesellschaft z. B.  mit Waffenlieferungen, ohne sich mit eigenen Streitkräften am Krieg zu beteiligen. Zentral ist der Begriff der „Kriegsgesellschaft“, aus dem sich der Begriff der „Zivilgesellschaft im Krieg“ ergibt. Fundamental dafür ist die Theorie von Herbert Spencer.

Was ist Kriegsgesellschaftstheorie?

Die Wissenschaft, die sich mit kriegsbedingten gesellschaftlichen Transformationsprozessen unter theoretischen Gesichtspunkten befasst, nenne ich Kriegsgesellschaftstheorie. Indem theoretisches Denken mit historischer Beobachtung verknüpft wird, ordnet sich Kriegsgesellschaftstheorie in das Paradigma der Historischen Soziologie ein.

Begriff der Kriegsgesellschaftstheorie

Kriegsgesellschaftstheorie befasst sich damit, wie sich große, tendenziell totale Kriege nach Art des Ersten und Zweiten Weltkriegs auf die gesellschaftliche Entwicklung auswirken. Mit totaler Krieg ist die Mobilisierung einer Gesellschaft für die Kriegsführung gemeint. Im Fokus stehen also nicht Ursachen von Kriegen, sondern die Wirkung auf bestehende gesellschaftliche Strukturen. Große, langdauernde, tendenziell totale Kriege führen, so die Grundthese der Kriegsgesellschaftstheorie, zu einer gesellschaftlichen Transformation. Das Ergebnis dieser Transformation bezeichne ich als Kriegsgesellschaft.  

Herbert Spencer als Begründer

Herbert Spencer (1820-1903) gilt als einer der wichtigsten Gründerväter der Wissenschaft Soziologie. Er war Vertreter des Sozialdarwinismus, also der Vorstellung, dass es in der Gesellschaft analog zur Natur einen „Kampf ums Dasein“ gäbe, in der sich die leistungsfähigsten Akteure durchsetzen. Als Sozialdarwinist fragte er: Wie muss eine (Staats-)Gesellschaft beschaffen sein, um sich im Kampf ums Dasein zu behaupten/durchzusetzen? Welche Strukturen sind besonders leistungsfähig und welche nicht? Seine Antwort: Wir müssen zwischen Frieden und Krieg unterscheiden. In Friedenszeiten sind Systeme mit maximaler individueller Freiheit und einem schwachen Staat am leistungsfähigsten. Dieses System nannte er Industrial Type of Society. Unter Kriegsbedingungen ist es genau umgekehrt. Im Krieg ist die Gesellschaft mit einem Staat am leistungsfähigsten, welcher zentral steuert und die individuellen Freiheiten minimiert. Dieses System nannte er Militant Type of Society.

Warum kommt es in großen Kriegen zu einer gesellschaftlichen Transformation?

Spencer machte ein Gedankenexperiment auf: Zwei genau gleiche (Staats-)Gesellschaften stehen sich im Krieg gegenüber. Welche wird gewinnen? Gewinnen wird die Gesellschaft, die mehr Soldaten, Arbeiter für den Krieg, Motivation mobilisiert mit möglichst optimaler Organisation. Krieg ist, so gesehen, ein Mobilisierungswettlauf. Eine effektive Mobilisierung hat strukturelle Voraussetzungen. Sie kann nur zentral gesteuert werden. Zu einer effektiven zentralen Steuerung kann es nur kommen, wenn eine politische Spitze mit tendenziell diktatorischer Machtvollkommenheit existiert, was zugleich die Minimierung individueller Freiheitsrechte bedeutet. Kriege führen also, so Spencer, zu einer gesellschaftlichen Transformation. Ihr Ergebnis ist der Militant Type of Society, oder, wie wir es nennen, eine Kriegsgesellschaft.

Der Erste Weltkrieg, der ein gutes Jahrzehnt nach Spencers Tod ausbrach, bestätigte diese Theorie. Die kriegführenden Großmächte Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Russland, England transformierten sich so, wie Spencer es für den kriegerischen Gesellschaftstypus beschrieben hatte. Dennoch wurde diese Theorie kaum aufgegriffen. Die Soziologie konzipierte in diversen Varianten moderne Gesellschaft als eine rein friedliche Entität und ignorierte damit die strukturbildende Kraft von (großen) Kriegen. Daran änderte auch die Erfahrung der Weltkriege im 20. Jahrhundert nichts. Hinzu kam, dass sich vor allem seit den 1990er Jahren sich ein neuer Typus von Krieg in Erscheinung trat („neue Kriege“, gekennzeichnet durch extremes Machtungleichgewicht der Akteure und asymmetrische Kampfformen). Klassische Staatenkriege erschienen nicht mehr aktuell. Das hat sich mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine geändert.

Moderne Gesellschaft als Doppelgestalt von Zivil- und Kriegsgesellschaft

Laut Spencer entwickelt sich also, je nachdem, ob sich eine Gesellschaft im Friedens- oder im Kriegszustand entwickelt, eine unterschiedliche strukturelle Dynamik heraus. Spencer spricht von industrial type of society und militant type of society. In moderner Diktion kann man diese beiden Typen als Zivilgesellschaft und Kriegsgesellschaft nennen. Die sozialwissenschaftliche Theorie denkt moderne Gesellschaft als friedliche Gesellschaft. Aus kriegsgesellschaftstheoretischer Sicht stellt sich moderne Gesellschaft hingegen als Doppelgestalt von Zivilgesellschaft und Kriegsgesellschaft dar.

 

Dieser Beitrag enthält auch Auszüge aus meinem Aufsatz „Kriegsgesellschaftstheorie und ihre Konsequenzen für die Friedensbildung“, in:  Roland Lutz, Karsten Kiewitt, Tanja Kleibl, Caroline Schmitt (Hg.): Krieg, Konflikt und soziale Arbeit. Beltz/Juventa  (im Druck).  

Im folgenden Beitrag 5 werde ich knapp skizzieren, wo und wann kriegsgesellschaftliche Dynamiken historisch in der Moderne in Erscheinung traten.

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