Soziologie und aktuelle Kriege

Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in der „Zeitenwende“

Abstract

Große, langdauernde, tendenziell totale Kriege nach Art der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts führen zu einer gesellschaftlichen Transformation, insbesondere zu einer Marginalisierung der Basisstrukturen Markt und Parlamentarische Demokratie zugunsten zentraler Steuerung und einer tendenziell diktatorischen Spitze. Das Ergebnis dieser Transformation nenne ich Kriegsgesellschaft. Als Gegenstück dazu kann die reine Zivilgesellschaft gelten, ohne Kriegsbeteiligung, ohne (wahrgenommene) äußere Bedrohung, „von Freunden umzingelt“ (Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe). Diesem Typus entsprach die deutsche Gesellschaft seit den 1990er Jahren bis zum 24. 02. 2022. Angesichts der nunmehr wahrgenommenen Bedrohung durch die neoimperialen Politik Russlands könnte sich die deutsche Gesellschaft in Richtung eines dritten Typus entwickeln, der Zivilgesellschaft im Krieg. Als sanktionierende Macht gegenüber dem Aggressor, als unterstützende Macht der angegriffenen Ukraine ist sie von den gesellschaftsverändernden Imperativen großer Kriege betroffen, aber eher in einem miniaturhaften Format. Das Ergebnis ist keine fundamentale gesellschaftliche Transformation, wohl aber ein erheblicher Wandel in Gesellschaft und Politik. „Zeitenwende“ bedeutet (kriegs)gesellschaftstheoretisch: Wandel von einer reinen Zivilgesellschaft zu einer Zivilgesellschaft im Krieg.

Prolog zum Blog

Der Diskurs im Kontext des russischen Angriffs gegen die Ukraine wird von wissenschaftlicher Seite vor allem in den Disziplinen Internationale Politik, Friedens- und Konfliktforschung sowie der Militärgeschichte geführt. Die Soziologie ist dabei wenig präsent. Kein Wunder, haben doch soziologische Großtheorien Kriege und ihre strukturbildende Kraft für moderne Gesellschaf(en) weitgehend ignoriert.

Aktuell geht es vor allem um Russlands Krieg gegen die Ukraine. Inwieweit ist Deutschland militärisch, ökonomisch oder politisch bedroht? Wie wird eine Bedrohung, so sie denn existiert, in der deutschen Gesellschaft wahrgenommen? Was bedeutet „Zeitenwende“ soziologisch?

In einer Reihe von sechs Beiträgen soll in diesem Blog zunächst versucht werden, eine soziologische Perspektive auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die deutsche Betroffenheit vorzustellen. „Soziologisch“ soll in diesem Fall heißen, eine „gesamtgesellschaftliche“ Perspektive zu entwickeln. „Gesamtgesellschaftlich“ meint, die makrostrukturellen Dynamiken zu fokussieren, die von „großen“ Kriegen ausgelöst werden. „Große“ Kriege meint tendenziell totale Kriege in dem Sinne, dass tendenziell eine maximale Menge und ein maximaler Anteil an verfügbaren bzw. verfügbar gemachten gesellschaftlichen Ressourcen für die Kriegsführung eingesetzt werden. Paradigmatisch dafür stehen die Weltkriege des 20. Jahrhunderts, aber auch der Angriff Russlands auf die Ukraine ist in die Kategorie der „großen“ Kriege einzuordnen.

Das Ergebnis der durch „große“ Kriege bedingten gesellschaftlichen Transformation bezeichne ich als Kriegsgesellschaft. Die Wissenschaft, die sich mit der Wirkung von Kriegen auf gesellschaftsstrukturellen Dynamiken unter theoretischen und historisch-soziologischen Gesichtspunkten befasst, nenne ich Kriegsgesellschaftstheorie. Dieser geht es nicht nur um militärische und sicherheitspolitische Aspekte, die in der politikwissenschaftlichen Forschung wie von Fachpolitikern und Militärs primär diskutiert werden, sondern auch um das, was man in den Weltkriegen als „Heimatfront“ bezeichnete, also den Teil der Gesellschaft, der nicht selbst an aktiven Kriegshandlungen beteiligt, aber direkt und indirekt davon betroffen ist.

Der erste Beitrag beschreibt die aktuelle Herausforderung der Bundesrepublik durch die neoimperiale Expansionspolitik Russlands, wobei die Bundesrepublik als Teil der NATO und der EU zu denken ist. Es geht also ein Stück weit um den Westen überhaupt. „Aktuell“ meint, seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. 02. 2022.

Im zweiten Beitrag möchte ich drei Konzepte vorausgreifend kurz vorstellen, die dann meine Analyse leiten werden: Kriegsgesellschaft, eine Struktur, die durch die Dynamik „großer“ Kriege entsteht, (reine) Zivilgesellschaft, eine Gesellschaft ohne Kriegsbeteiligung und äußere Bedrohung, und Zivilgesellschaft im Krieg. Die Zivilgesellschaft im Krieg unterstützt eine Kriegsgesellschaft (auch) militärisch, ohne mit eigenen Streitkräften in den Krieg einzugreifen. Die Frage in diesem Blog ist, wie sich die Symbiose einer Zivilgesellschaft mit einer Kriegsgesellschaft auf deren Gesellschaft und Politik auswirkt. In diesem Blog wird u. a. die These entwickelt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland seit dem russischen Angriff auf die Ukraine von einer „reinen“ Zivilgesellschaft zum Typus einer Zivilgesellschaft im Krieg bewegt.

Im dritten Beitrag werde ich einige einfache und anwendungsbezogene theoretische Überlegungen über Kriegsgesellschaften anstellen. Dabei beziehe ich mich auf den soziologischen Klassiker Herbert Spencer, der die fundamentale Bedeutung von Frieden und Krieg für gesellschaftliche Strukturdynamiken erkannt hat. Spencer sagte, dass unter rein friedlichen Bedingungen Markt und ein strikt liberaler Staat die adäquaten Institutionen seien. In (großen) Kriegen bedürfe es hingegen eines starken Staates mit tendenziell diktatorischer Spitze, um die Mobilisierung der gesellschaftlichen Ressourcen für den Krieg zu gewährleisten. Ergänzend dazu diskutiere ich Analysen des Historikers Paul Kennedy zu den europäischen Kriegen zwischen 1500 und 1980.

Der vierte Beitrag thematisiert das Konzept einer Kriegsgesellschaft. Zwar ist die Bundesrepublik Deutschland derzeit nicht als Kriegsgesellschaft einzustufen. Anders steht es hingegen mit Russland und der Ukraine. Das Konzept der Kriegsgesellschaft wird mit Blick auf die historische Empirie der Weltkriege, aber auch auf den aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine entwickelt.

Der fünfte Beitrag stellt das Konzept einer Zivilgesellschaft im Krieg vor. Aus der Unterstützung einer Kriegsgesellschaft ergeben sich Imperative für eine Zivilgesellschaft im Krieg, z. B. die Notwendigkeit, die Kriegsgesellschaft adäquat mit Waffen und Munition zu unterstützen. Werden sie nicht beachtet, droht die Niederlage der unterstützten Kriegsgesellschaft.

Der sechste Beitrag versucht, den deutschen Umgang mit der neoimperialen Bedrohung kriegsgesellschaftstheoretisch zu interpretieren und zu bewerten und Überlegungen zu einer adäquaten Reaktion anzustellen. Ich möchte zeigen, dass die deutsche Reaktion auf die neue Herausforderung im Jahr 2022 zumindest ansatzweise adäquat war, 2023 hingegen inadäquat und inakzeptabel, also nicht geeignet, der Herausforderung aus dem Osten gerecht zu werden.

Nach dieser kriegsgesellschaftstheoretischen Rahmung möchte ich aktuelle Ereignisse und Entwicklungen kommentieren, so zum Beispiel anhand des Konflikts zwischen Präsident Selenskyj und dem obersten Militärbefehlshaber Saluschnyj das Verhältnis zwischen politischer und militärischer Spitze in Kriegsgesellschaften, wobei historische Fälle zum Vergleich und zur Vertiefung hinzugezogen werden.

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