Eigentlich wollte ich hier etwas ganz anderes schreiben. Es sollte erst das Thema „Komplexität“, dann „Terror“ und dann (selbstverständlich) „Fuzzy-Logik“ behandelt werden. Dann aber habe ich mich zweimal geärgert: Das erste Mal nach einer Veranstaltung im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen nach einem Vortrag von Herfried Münkler. Schöner Vortrag! Danach gesellte sich an den Schnittchenstehtisch ein mir bis heute unbekannter Mensch zu uns und fragte zunächst, ob mein von mir sehr geschätzter Gesprächspartner (Prof. Dr. El-Mafaalani) und ich auch Promovenden am KWI seien. Darüber müsste man sich nicht gleich ärgern, sondern könnte das unserem jugendlichen Antlitz zuschreiben und als Kompliment verstehen. Ich fürchte nur, so war es nicht gemeint. Denn wir hatten uns zuvor bereits als Soziologen „geoutet“ – und wenn die dann auch noch lange Haare haben…. Da haben wohl alle Vorurteile direkt getriggert. So ging es direkt dann auch (sinngemäß) weiter mit der Frage, wieso die Soziologie denn der Gesellschaft nichts mehr zu sagen habe und eigentlich sei deren Wissenschaftlichkeit ja in Frage zu stellen, wenn dieser gesellschaftliche Output nicht vorhanden sei. Nun ja, Rückzug, das Gespräch mit Aladin El-Mafaalani über die eigenen Forschungen zu Terrorismus und die Salafistenszene wurde vor der Tür fortgesetzt.
Tage danach hat mich die aktuelle Erkältungswelle erwischt und ich habe fiebrig im Bett liegend Gelegenheit gehabt, mich mehr im Internet auf Facebook, Twitter und diversen Blogs umzugucken. Die Behauptung, die Soziologie sei keine Wissenschaft und sie verdiene es, abgeschafft zu werden, scheint dort Konjunktur zu haben. Da kann man sich direkt wieder ärgern. Bekanntermaßen sind da exemplarisch die Gender Studies brutal in den Mittelpunkt gerückt (auf diese Diskussion möchte und werde ich hier nicht eingehen), aber die Soziologie in Gänze angegriffen worden.
Zweimal ärgern und nun blogge ich hier aus der Perspektive der Soziologischen Theorien, wohl wissend (gerade weil ich weiß), welch seriöse und gute Arbeit mit gesellschaftsrelevanter Reichweite die Kolleginnen und Kollegen in anderen Bereichen dieser Disziplin machen! Vielleicht nicht jede(r) einzelne, aber alle! Hier nun die Frage: Haben die Soziologischen Theorien der Gesellschaft nichts mehr zu sagen?
Oh doch, haben sie! Man beachte nur – das nächste Ärgernis – den „Fall Edathy“ und das, was es dazu an Argumenten und Einlassungen im Internet gibt (von empörten Vergleichen der 5000€, die Edathy zur Einstellung des Verfahrens zu zahlen hat mit zu den 540.000€, die der Fußballer Marco Reus für eine Strafe wegen Fahrens ohne Führerschein zahlen musste; über direkte „Schwanz ab“-Forderungen bis zu Anstiftungen zum Mord). Von der oft gepriesenen „Weisheit der Massen“ ist hier sehr wenig zu spüren, eher dieselbe Brutalität, von der oben schon die Rede war. Es scheint sich Nietzsches Vermutung aus „Menschliches, Allzumenschliches“ zu bestätigen: „Einer Erkenntnis zum Siege verhelfen heißt oft nur: sie so mit der Dummheit verschwistern, daß das Schwergewicht der letzteren auch den Sieg für die erstere erzwingt.“
Es mag sein, dass Diskussionen um das Frame-Selection-Model, die richtige Auslegung von Emergenz oder zur Frage nach der angemessenen epistemologischen Verknüpfung von handlungsfähigen Akteuren und Materialität möglicherweise (!) hier keine direkte Rolle spielen.
Aber Wissen um und über die funktionale Differenzierung der Gesellschaft beispielsweise, an der RWTH Teil der Theorien-Vorlesung im 2. Semester, sollte helfen zu verstehen, dass die Unterscheidung von Recht/Unrecht nicht dieselbe ist wie die von Achtung/Missachtung. Recht ist nicht die Moral der Gesellschaft und umgekehrt – und das ist auch gut so. Derartige Komplexität zu verstehen, dass es heutzutage immer verschiedene Blicke auf ein Ereignis gibt, welche ganz unterschiedliche Welten öffnen, diese Polyoptik lehrt u.a. die Soziologische Theorie. Und auch, welche Probleme es mit sich bringen kann, wenn die eine Welt ungeordnet in eine andere übergreift.
Mehr Soziologie für die Massen – vielleicht wird sie dann etwas weiser!