Wissen und Markt

Wissen ist heute ein bedeutender Wettbewerbsfaktor. Wissen bedeutet nicht nur „Wissensvorsprung“ (und die damit verbundenen Innovationen), sondern auch das Wissen darum, wie man die Differenzierung moderner Märkte handhabt. Insgesamt lässt sich im Ernährungsbereich im Bereich des Wissens eine Verschiebung der erforderlichen Wissensbestände weg vom Verbraucher hin zu „Experten“ insbesondere im Bereich der Produktion beobachten.

Hierfür ist nicht allein die bereits beschriebene Komplexitätszunahme im Bereich der Produktion verantwortlich, sondern auch, dass bei den Verbrauchern das Ernährungswissen in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen (bzw. sich differenziert) hat. Ich würde den Abbruch der Kette der Wissensweitergabe bei den Verbrauchern und den damit verbundenen radikalen Verlust des Ernährungswissens irgendwo in den 1970ern datieren (warum, werde ich nächste Woche zum Abschluss meiner Blog-Zeit noch schreiben).

Folgen der zunehmenden Expertenmacht

Diese Wissensverschiebung erklärt nicht nur, warum Verbraucher immer anfälliger werden für Marketingstrategien von Unternehmen und wieder von bestimmten Ernährungsrisiken überrascht werden. Das rechtfertigt natürlich Betrug nicht – erklärt aber, warum viele Menschen anfälliger geworden sind für Betrug. Ich hatte ja bereits geschrieben: Jemand, der sich mit Essen auskennt, erkennt Gammelfleisch mit großer Sicherheit, wenn er es kauft. Beim Pferdefleisch in Fertigprodukten wird es schon schwieriger, aber auch hier gibt es zumindest Indizien: Scheine- und Rindfleisch haben etwa einen bestimmten Fettgehalt. Wenn ein fettarmes, aber fleischhaltiges Fertigprodukt angeboten wird, könnte man sich zumindest fragen, wie es sein kann, dass der Fettgehalt beim Fertigprodukt niedriger ist als beim Rohstoff „Fleisch“.

Diese Wissensverschiebung erklärt auch (zumindest zum Teil), warum Politiker anfälliger werden für Lobby-Politik von Firmen: Sie müssen ja Produkte regulieren, von denen sie keine Ahnung haben. Diejenigen, die Ahnung haben, sind aber genau diejenigen, die von Politikern kontrolliert werden sollen … ein unlösbares Dilemma, solange man nicht genau solche Experten angestellt hat (die aber dann eigentlich keine Experten mehr sein können, weil sie ja selbst nicht mehr das Produkt herstellen).

Wissensweitergabe – wer wird Experte?

Stellt man die Frage, wer Experte wird bzw. wie Wissen weitergegeben wird, fällt zunächst auf, dass wegen der Komplexität der industriellen Massenproduktion heute etwa Joghurthersteller detaillierte Kenntnisse Disziplinen in Mathematik, Ernährungswissenschaft, Lebensmittelrecht oder Betriebswirtschaft benötigen. Ein großer Teil dieses Wissens wird heute an Universitäten vermittelt – in Studiengängen wie Agrarwissenschaft, Lebensmitteltechnik und Ernährungswissenschaft, was auf die gestern erwähnte zunehmende gesellschaftliche Bedeutung der Wissenschaft verweist.[1]

Dieses theoretische Wissen reicht aber noch nicht aus: Ein großer Teil des spezialisierten Fachwissens, das man benötigt, um die korrekten Produktionsentscheidungen treffen zu können und den Produktionsprozess kontinuierlich weiter entwickeln zu können, kann eben nicht abstrakt lernen, und es ist auch nicht in Büchern festgehalten. Der Hersteller erwirbt vielmehr in der täglichen Praxis Erfahrungswissen, wie bestimmte Produktionskomponenten miteinander interagieren.

Wie wichtig dieses lokal verankerte, sehr lange und kontinuierlich aufgebaute Wissen ist, sieht man besonders deutlich an einem Produkt wie dem Joghurt: Die ersten in den 1950ern industriell hergestellten Joghurts schmeckten nicht besonders lecker – die originale saure Milch und der hausgemachte Joghurt waren viel schmackhafter. Dieser erste Industrie-Joghurt war dafür aber recht leicht herzustellen, und auch heute ist es (vergleichsweise) leicht, einen Billig-Chemie-Joghurt zu produzieren. Joghurt, der gut schmeckt und trotzdem möglichst wenig Zusatzstoffe enthält, ist dagegen sehr, sehr viel schwerer herzustellen. Vieles kann nur durch eine Kombination aus jahrelanger Erfahrung, Forschung und Ausprobieren herausbekommen. Dafür haben diese hochwertigen modernen Produkte nicht nur gegenüber dem Billig-Chemie-Joghurt, sondern oft auch gegenüber dem hausgemachten Joghurt einen Geschmacks- und damit Wettbewerbsvorteil: Moderner Joghurt schmeckt oft besser und hat eine angenehmere Konsistenz als traditionell hergestellter Joghurt.

Um eine Molkerei erfolgreich zu führen, reicht daher i.d.R. ein Studium oder abstraktes Lehrbuchwissen nicht aus. Es ist entsprechend nicht verwunderlich, dass viele Molkereien noch um das Jahr 2000 Familienbetriebe waren – oft wird das Produktionswissen von den Eltern auf die Kinder weitergegeben, und/oder es wird in Betrieben durch jahrelange Erfahrung erworben und weiterentwickelt.

Marktschließung durch Expertenwissen

Damit ist es nicht so leicht, das Spezialwissen über die Herstellung eines erfolgreichen Joghurts einfach zu kopieren – es sammelt sich in den Köpfen weniger Spezialisten. Wissen ist also nach wie vor extrem personengebunden, und es ist in Praktiken verankert.[2] Dadurch kommt es zu einer Marktschließung: Anders, als ökonomische Theorien teils unterstellen, kann nicht jeder am Wettbewerb teilnehmen. Erfahrene Molkereien haben einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Herstellern, die neu in den Milchmarkt einsteigen. Selbst hohe Investitionskosten bringen nichts, weil man sich für Geld nicht notwendig das Wissen erwerben kann, das für die (erfolgreiche) Produktion erforderlich ist – weil anzunehmen ist, dass es weltweit nicht allzu viele Joghurtspezialisten gibt (und viele eben Familienunternehmen sind, sich also nicht so leicht abwerben lassen).

Humankapital und Zeit werden damit zu entscheidenden Wettbewerbsfaktoren. Deshalb ist die Übernahme bereits vorhandener Betriebe auch die leichteste Möglichkeit des Markteintritts. Solange erfahrene Produzenten ebenso viel wie die Konkurrenz in die Weiterentwicklung ihrer Produkte investieren, werden sie wahrscheinlich ihre Wettbewerbsvorteile beibehalten können.

Anmerkungen

[1] Dies ist auch eine erste mögliche (Teil-)Erklärung dafür, dass bestimmten Regionen ihre wirtschaftliche Leistungskraft erfolgreicher reproduzieren als andere. So hat etwa Deutschland nicht nur eine jahrhundertelange Tradition der Milchwirtschaft, sondern man kann sowohl über Ausbildungsberufe, als auch über Studium die genannten Fähigkeiten erwerben.

[2] Von diesen Experten für dieses spezifische Produkt gibt es aber wahrscheinlich weltweit nur ein paar hundert. Diese sind räumlich nicht gleichmäßig verteilt sondern wohnen vor allem in den traditionellen Milchregionen Mitteleuropas. Viele von ihnen führen Familienbetriebe fort – ein Brain Drain ist also unwahrscheinlich, weil sie lokal gebunden sind.

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie

Ein Gedanke zu „Wissen und Markt“

  1. Die zunehmende Dynamisierung von Innovationsprozessen führt zudem zu der Herausforderung für Unternehmen, Wissen über Konsumenten direkter an die eigentlichen Entwicklungspraktiken zu koppeln. Während sich die „klassischen“ Methoden der kommerziellen Konsumforschung noch stark an mehrstufigen Forschungsprozessen orientieren, und damit idR mehrere Wochen/Monate in Anspruch nehmen, lässt sich aktuell beobachten, wie bspw. zunehmend ethnographische Methoden in der Innovationsforschung zum Einsatz kommen („Business Anthropology/Ethnography“). Die Hoffnung hierbei: Die Produktion von Wissen über Konsumenten unmittelbar in den Innovationsprozeß zu integrieren und schneller zu für Verbraucher relevanten Produktinnovationen zu kommen.

Kommentare sind geschlossen.