Freude, Frust und Leiden(schaft): Fußball und die Soziologie der Emotionen

David gegen Goliath

Nach dem Einzug der marokkanischen Fußballer ins Halbfinale der WM gingen Bilder von feiernden Fans um die Welt – Fans in Marokko, anderen arabischen Ländern, aber auch in vielen europäischen Großstädten. Dass erstmals ein afrikanisches Team unter die besten vier Mannschaften kommt und sich gegen spielstarke Gegner durchsetzen konnte, ist unerwartet und zählt sicher zu der größten sportlichen Überraschung des Turniers. Wenn David gegen Goliath gewinnt, löst das besonders starke Emotionen aus. Überraschende Erfolge werden intensiver erlebt als Siege, mit denen man fest gerechnet hat. Autokorsos und spontane öffentliche Feiern, nicht nur in Rabat und Casablanca, sondern auch in Paris, Brüssel, New York und anderen Städten, dokumentieren einen Ausbruch von Freude und Stolz unter den marokkanischen Fans, während die Anhänger der französischen „Equipe Tricolore“ wohl erst bei der Titelverteidigung ähnlich enthusiastisch reagieren würden. Was los wäre, sollten die „Löwen vom Atlas“ auch Frankreich schlagen, kann man sich kaum vorstellen.

Die weitreichenden Folgen solch außergewöhnlich starker Erregungszustände beim Fußballschauen lassen sich an unterschiedlichen Phänomen zeigen. So scheint der emotionale Stress beim Fußballschauen mit einer Häufung von akuten Herz-Kreislauf-Vorfällen in Zusammenhang zu stehen. Die Euphorie für den Fußball kann aber auch ganz andere Folgen haben: Für den Großraum Barcelona gibt es eine – vielleicht nicht ganz ernst gemeinte Analyse –, die ein dramatisches Champions League Halbfinale mit einem Baby Boom 10 Monate später in Verbindung bringt. Wir schauen uns in diesem Beitrag einige soziologische Bezüge zwischen Fußball und Emotionen an.

Fußball als „emotionale Enklave“

Der Fußball besitzt einen besonderen emotionalen Erlebniswert für das Publikum, denn das Verfolgen von Wettkämpfen ist in der Regel mit Spannungs- und Erregungszuständen verbunden, die nicht etwa unliebsame Nebenwirkung von Sportkonsum sind, sondern im Gegenteil, gerade von den Zuschauenden gesucht werden. Häufig wird auch von positivem Stress gesprochen, der ein zentrales Motiv für das Schauen von Sport ist. Die gegenwärtigen medialen Inszenierungsweisen des Sports sind explizit darauf ausgelegt, die dem Spiel inhärente Dramatik und Emotionalität aufzugreifen und weiter zu steigern. Bei Fernsehübertragungen werden verschiedene Techniken der Bildinszenierung und Bildregie genutzt, um das Geschehen noch emotionaler, dramatischer und spannender zu gestalten. Zusätzlich werden oft bestimmte narrative Elemente verwendet, um die Emotionen noch packender zu vermitteln. So kommen übertragene Fußballspiele kaum aus ohne Bilder von jubelnden Menschen im Stadion nach dem Torerfolg, weinenden Fans nach Niederlagen in wichtigen Spielen, einer offensichtlich erregten und emotionalen Kommentierung und – gerade bei internationalen Fußballturnieren – vermehrt auch Live-Schaltungen zu vor Begeisterung eskalierenden Menschenmassen auf öffentlichen Plätzen. Hochklassige und spannende Fußballspiele sind insofern Paradebeispiele für Ereignisse der „mimetischen Klasse“, ganz im Sinne von Norbert Elias. Momente der Freude und Erleichterung tragen ebenso zum Vergnügen bei, wie Momente der Unsicherheit und Spannung.

Empirische Studien haben vielfach nachweisen können, dass das Spannungs- und Emotionserleben in der Tat ein zentrales Motiv für die Nachfrage nach Sportereignissen ist. Zuschauer*innen schalten dann vermehrt Sportübertragungen ein, solange diese Spannung versprechen und der Ausgang eines Spiels ungewiss ist. Darüber hinaus ist gut belegt – aber im Grunde auch fast trivial –, dass Sportzuschauer*innen von positiven Emotionen (z.B. Stolz, Freude, Dankbarkeit) berichten, wenn ihre bevorzugte Mannschaft siegreich war und von Ärger und Missmut, wenn diese verliert. Läuft es gut, lassen sich sogar Fußballeffekte auf die Lebenszufriedenheit oder die Zufriedenheit mit der eigenen Regierung aufzeigen.

Emotionen und soziale Identität

Der Theorie affektiver Dispositionen folgend, ist Identifikation eine wesentliche Voraussetzung für das Ausmaß des Emotionserlebens. Emotionen geben Auskunft über unsere soziale Identität. Zuschauer*innen entwickeln gegenüber Sportteams affektiv eingefärbte Dispositionen, die auf einem Kontinuum von starker Sympathie über Neutralität bis zu starker Antipathie verlaufen. Hierauf basieren die erlebten Emotionen bei einem Spiel: Je mehr Sympathie ein Mensch einer Mannschaft entgegenbringt, desto größer die Freude, wenn diese Mannschaft gewinnt und desto größer der Frust, wenn diese verliert. Gesteigert werden kann die Freude nur dann, wenn die präferierte Mannschaft gegen eine Mannschaft gewinnt, gegenüber der eine negative Disposition ausgebildet wurde, wenn also das Lieblingsteam einen ungeliebten Rivalen schlägt. Zugleich wirken die erlebten Emotionen aber auch auf das Zugehörigkeitsgefühl zurück.

Identifikation und Identität sind aber nicht nur Grundlage, sondern zugleich auch Folge der kollektiv erlebten Emotionen. Einige im Kontext von Fußballweltmeisterschaften durchgeführte Studien haben zeigen können, dass die emotionale Involvierung oder die Einbindung in fußballpatriotische Handlungen (z.B. das Aufhängen von Fahnen, Mitsingen der Hymne), sich in gesteigerten Nationalstolz und Nationalismus übersetzt. „Wir haben gewonnen“ ist dann der offensichtliche Ausdruck einer Identifikation mit dem Nationalteam – oft aber auch mit der Nation, die dieses Team quasi verkörpert.

Die emotionale Aufladung des Nationalen

Bei einer Fußball-WM treten Mannschaften an, die ihre jeweiligen Nationen repräsentieren. Das Turnier ist eingerahmt in eine nationale Symbolik, wird inszeniert als eine Art Wettstreit von Nationen nach dem Motto „Wir gegen die anderen“ und Medien berichten darüber nach einer nationalen Logik der Selektion. Dieter Reicher hat dies als „Nationensport“ beschrieben. Die erlebten Emotionen heften sich insofern an die Kategorie der Nation an. Sie machen die ansonsten oft sehr abstrakte Kategorie fühl- und erlebbar. WM-Turniere sind deshalb auch ein Beispiel für einen „ecstatic nationalism“: besondere Ereignisse, welche die Nation öffentlich darstellen, ehren oder feiern und sie mit Gefühlen und Idealen aufladen. Dieser Transfer der Emotionen vom Fußball auf die Nation ist bereits mehrfach untersucht wurden: So konnte z.B. Christian von Scheve in einer Studie zeigen, dass Deutschland-Symbole, wie z.B. das Brandenburger Tor, von emotional involvierten Fußballfans nach einer WM positiver beurteilt wurden als vor der WM. Und auch in der Olympiaberichterstattung gibt es solche Transfereffekte: Mit einem experimentellen Design konnten wir zeigen, dass die in einer Sportübertragung vermittelten Emotionen ein wichtiger Einflussfaktor dafür sind, wieviel Nationalstolz die Zuschauenden danach empfanden.

Emotionen im sozialen Kontext

Der Konsum großer Sportereignisse zeichnet sich nun auch dadurch aus, dass er sich oftmals im Beisein von anderen Menschen vollzieht – sei es im Stadion, in der Kneipe, auf Fanmeilen oder gemeinsam vor dem heimischen TV-Gerät. Dies bedeutet auch, dass Spannung, Freude und Ärger nicht allein, sondern gemeinschaftlich erlebt werden. Emotionen beim Zuschauen sind also oftmals auch kollektive Emotionen, die sich dadurch auszeichnen können, dass sich die Gefühlsregungen in der Gruppe gegenseitig steigern: Das Konzept der „emotionalen Ansteckung“ geht davon aus, dass Menschen, sobald sie in einer Gruppe agieren, die Emotionen bzw. das damit einhergehende Ausdrucksverhalten der Menschen in ihrer Nähe wahrnehmen und dadurch die wahrgenommene Emotion in den Wahrnehmenden selbst ausgelöst wird. Für die eigentliche Ansteckung wird ein nahezu automatischer, spontan und unbewusst ablaufender Prozess der mimischen und motorischen Nachahmung postuliert, bei dem der bei anderen wahrgenommene Emotionsausdruck imitiert und die eigentliche Emotion nachempfunden wird.

Komplementär hierzu lässt sich die Entstehung kollektiver Emotionen auch als ein stärker sozial normierter Prozess der Emotionsregulation beschreiben. Menschen gleichen demnach ihre eigenen Emotionen, die wahrgenommenen Emotionen anderer Menschen und die in einer Situation geltenden sozialen Normen ab, um sich dadurch zu versichern, dass ihre eigenen Emotionen in einer bestimmten Situation angemessen sind. Unterstellt wird dabei, dass Menschen darauf bedacht sind, ihre Emotionen weitestgehend so zu kontrollieren, dass nur die jeweils angemessenen Emotionen gezeigt werden. Welche „feeling rules“ angemessen sind, ist in vielen sozialen Situationen mehr oder weniger festgelegt. Es kann sogar als soziale Norm erachtet werden, dass man z.B. beim Fußballschauen auf ein bestimmtes expressives Verhalten mit einem ähnlichen Ausdrucksverhalten reagieren soll, z.B. mitklatschen oder mitsingen soll, aber auch Freude oder Enttäuschung zeigen soll. Normen legen also auch fest, welche Reaktionen auf das Ausdrucksverhalten anderer Personen angemessen und sozial akzeptiert sind.

Egal von welchem Mechanismus man ausgeht, der Effekt ist gleich: Menschen erleben Emotionen in der Gruppe intensiver. Das gilt auch für den Fußball, wo der soziale Kontext ebenfalls das Ausmaß an Freude und Spannung mitbestimmt, das beim Anschauen eines Spiels erlebt wird.

In Deutschland bleibt es diesmal „cool“

Die beschriebenen positiven kollektiven Emotionen bleiben diesmal anderen Ländern vorbehalten. In Deutschland geht es kühl zu. Der entscheidende Grund dafür ist das Ausscheiden in der Vorrunde. Sportlich wenig erfolgreiche Mannschaften eignen sich nicht als Identifikationsobjekte. Ärger und Trauer dürften eine Gruppe auch weniger stark zusammenschweißen als geteilte Freude. Hinzu kommt, dass eine emotionale Ansteckung auch nicht mehr funktionieren kann, wenn Fußballspiele von ernsten Debatten über Menschenrechte und Arbeitsbedingungen eingerahmt werden. Kein Publikum kann so rasch von ernster Betroffenheit zu fröhlicher Ausgelassenheit wechseln und wieder zurück. Schließlich lädt auch der Winter nicht zum sozialen Miteinander ein, zumindest nicht in Deutschland. Bislang feierte das Land seine sommerlichen Fußballpartys im Biergarten und nicht im Novemberregen.

„Bedröppelt, geknickt und verzweifelt“ müssten die deutschen Kicker diesmal nach Hause fahren, meinte ARD-Reporter Gert Gottlob in seiner Schlussbetrachtung des Costa Rica-Spiels. Wer sich zu stark mit der deutschen Elf identifizierte, erlebte statt kollektiver Efferveszenz eher eine kollektive Depression. Zum Glück gehen die Emotionen, die der Sport induziert, aber auch schnell wieder vorbei.

Ein kurzes Auflodern, kein langer Rausch

Die meisten Studien zum Erleben von Emotionen wie Stolz und Freude bei Fußball-Events zeigen, dass diese Effekte eher von kurzer Dauer sind. In einer Studie aus den Niederlanden flackerte der Nationalstolz immer dann kurz auf, wenn niederländische Sportler*innen unerwartet positiv bei großen Ereignissen abschnitten. Sportliche Enttäuschungen lassen den kollektiven Stolz hingegen nicht allzu stark absinken.

Mit einem wachsenden zeitlichen Abstand bleiben die positiven Dinge eher im Gedächtnis als die negativen. Das 7:1 im Halbfinale der WM 2014 gegen Brasilien ist für viele deutsche Fußballfans ein unvergessener Moment, genauso wie das Siegtor von Götze im Finale gegen Argentinien. Und der Kommentar „aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen…“ von Radiokommentator Herbert Zimmermann löst auch bei vielen Menschen Emotionen aus, die 1954 noch gar nicht auf der Welt waren. Einige Fußballmomente schaffen es ins kollektive Gedächtnis der Nation. Das Ausscheiden der DFB-Elf im Jahr 2022 wird dort aber keine Spuren hinterlassen.

“Sport and politics don’t mix”, oder etwa doch?

Die Fußball-WM der politischen Symbolik

Eine bei der Hymne schweigende iranische Mannschaft; englische Fußballer, die sich zum Anpfiff gegen Rassismus niederknien; Dänen, die in schwarzen Shirts trainieren, der Farbe der Trauer; die DFB-Elf, die sich den Mund zuhält; zahlreiche arabische Zuschauer*innen mit „Free Palestine“-Zeichen – so viele politische Gesten wie bei dieser WM gab es selten irgendwo im Spitzensport. Und obwohl bereits die letzte WM in Russland in stärkerem Maße politisiert war, erleben wir aktuell nochmals eine Zuspitzung. Selten zuvor wurde medial so ausgiebig über politische Symbolik berichtet. Der Mythos vom „unpolitischen Sport“ bzw. der Satz „Sport and politics don’t mix“ – aktuell scheint beides nicht mehr zu gelten. Für uns ist das ein Anlass auch hier im Blog die Frage aufzugreifen: Dürfen oder sollen Fußballer die globale Bühne des World Cup für politische Äußerungen benutzen?

Lange sah es so aus als würde die WM mit „One Love“ beginnen, einem politischen Zeichen für Vielfalt und Toleranz, ausgesendet von sieben westeuropäischen Mannschaften. Manuel Neuer, Harry Kane, Hugo Lloris und andere Teamkapitäne wollten mit der Armbinde in Regenbogen-ähnlichen Farben auflaufen, und zwar auch entgegen des ausdrücklichen Verbots der FIFA. Dass es für diese Aufmüpfigkeit am Ende eine kleine Geldstrafe von der FIFA geben würde, war einkalkuliert. Dass es sportliche Sanktionen geben könnte – gelbe Karten, Sperren oder Punktabzüge –, damit hatte man scheinbar nicht gerechnet. Zumindest wirkte der Rückzieher einigermaßen improvisiert und letztlich wenig souverän. Die mediale Schelte kam prompt. Die als Machtkampf inszenierte kleine Revolte der westeuropäischen Fußballverbände hat die FIFA also fürs Erste im Keim erstickt.

Die FIFA hat in ihrem umfassenden Reglement zum FIFA World Cup auch die Ausrüstung klar geregelt: Die teilnehmenden Mitgliedsverbände sind verpflichtet, das FIFA Ausrüstungsreglement einzuhalten. Spielern und Offiziellen ist es demnach nicht erlaubt, in irgendeiner Sprache oder Form auf ihrer Spielkleidung, Ausrüstung oder ihrem Körper nicht offiziell genehmigte Botschaften, Symbole oder Slogans mit politischem, religiösem, gewerblichen oder persönlichem Inhalt zu verbreiten. Diese Regel gilt für die Spiele, aber auch für Trainingseinheiten in den Stadien oder offizielle Medienkonferenzen.

Die Suche nach der universellen Botschaft

Für Werbebotschaften ist es naheliegend, dass die FIFA darauf achtet, dass Spieler und Teams nicht mit eigener Werbung auftreten, die womöglich in Konkurrenz zu den offiziellen Sponsoren der FIFA steht. Letztere haben ihre exklusiven Marketingrechte schließlich teuer erkauft. Politische Botschaften werden aus einem anderen Grund abgelehnt: sie polarisieren und werden von Teilen des weltweiten Sportpublikums als Provokation verstanden. Genau dies versucht die FIFA als globale Organisation zu vermeiden, die sich „Football Unites the World“ auf die Fahnen geschrieben hat. Botschaften, die die FIFA offiziell genehmigt hat, sollen deshalb von universeller Art sein.

Wann ein Slogan eine universelle Botschaft verbreitet und wann er eine partikularistische politische Botschaft darstellt, entscheidet die FIFA im Einzelfall. Der Antrag des dänischen Fußballverbands auf Trainingsshirts mit dem Slogan „Human Rights for all“ wurde bekanntlich ebenso abgelehnt, wie die „One Love“ Armbinde. Die Dänen und die Deutschen argumentierten, dass ihre Slogans universell sind. Die FIFA geht davon aus, dass diese Botschaften eher westliche Werte propagieren und v.a. explizit gegen den Gastgeber Katar gerichtet sind. Letzteres stimmt natürlich: Die ganze Idee von „One Love“ hätte es nicht gegeben, wäre Katar nicht der Austragungsort. Im Grunde erleben wir am Beispiel der WM-Armbinden ein Lehrstück zur Frage, wo Universalismus beginnt und ggf. auch endet.

Der westeuropäischen “One Love”-Initiative setzt die FIFA nun eigene Armbinden entgegen, deren Botschaften in der Welt nicht polarisieren werden. Dazu gehören u.a. die Slogans “Save the planet“, “Education for all“, “Be active” oder “Protect children”. Dagegen wird niemand etwas sagen, egal ob politisch links oder rechts, ob Mann oder Frau, ob in Afrika, Asien oder Europa lebend. Genau deshalb sind die Armbinden der FIFA keine Symbole für eine konkrete Veränderung, sondern Etiketten unter denen sich die ganze Welt(fußball)gemeinschaft zusammenfinden kann.

Was halten die Menschen in Deutschland von politischen Aktionen im Fußball? 

Die aktuellen Debatten in Deutschland vermitteln den Eindruck, dass wir eine Politisierung des Fußballs uneingeschränkt gut finden. In den konkreten aktuellen Fällen stimmt das vielleicht, denn die FIFA und Katar machen es uns einfach, geschlossen dagegen zu sein. Grundsätzlich dürfte eine fortschreitende Politisierung des Spitzensports aber auch Herausforderungen mit sich bringen.

In einer aktuellen repräsentativen Befragung aus dem Frühjahr 2022 haben wir gefragt, welche politischen Aktionen von Fußballern in der deutschen Bevölkerung Unterstützung bekämen und welche nicht. Wir greifen hier zwei sehr konträre Beispiele exemplarisch heraus: Eine breite Mehrheit der Deutschen würde es z.B. unterstützen, wenn ein Fußballer mit einer Regenbogen-Armbinde für die Gleichstellung sexueller Minoritäten eintritt (vgl. Abbildung; 1= unterstütze ich gar nicht … 5=unterstütze ich voll und ganz). Würde ein Fußballer aber öffentlich höhere Militärausgaben fordern, träfe das auf ebenso breite Ablehnung. Dass die Unterstützung politischer Äußerungen vom Thema abhängt, ist nun nicht weiter überraschend.

Interessant ist aber ein zweiter Befund, der sich auf die Legitimität einer politischen Äußerung bezieht. Wir haben auch gefragt: „Darf die Person so handeln oder finden Sie, das geht zu weit?“ (1=Das darf sie nicht. Das geht zu weit. … 5=Das darf sie tun. Das ist in Ordnung.) Viele Menschen halten politische Äußerungen und Gesten von Fußballern nicht grundsätzlich für legitim. Vielmehr korreliert die Legitimitätseinschätzung sehr eng mit der persönlichen Unterstützung der geäußerten Meinung.

Legitim ist das, was der eigenen Meinung entspricht 

Während das Tragen einer Regenbogenarmbinde etwa von zwei Dritteln der erwachsenen Deutschen als eine legitime Aktion betrachtet wird, findet nur etwa ein Viertel, dass sich Fußballer auf Twitter für höhere Militärausgaben aussprechen dürfen. Das Recht auf politische Äußerungen können wir aber nicht nur denen zubilligen, deren Ansichten uns passen. „Sport and Politics don’t mix“ überzeugt uns nicht mehr. Aber Sportler*innen die politisch tun und sagen, was sie wollen, sind vielen Menschen auch nicht genehm. Wenn jetzt also öffentlich vielfach gefordert wird, dass Fußballer für ihre Werte und Überzeugungen eintreten sollen, dann heißt das im Klartext: genau für diejenigen Werte und Überzeugungen, die mehrheitsfähig sind bzw. den in Deutschland weithin geteilten Vorstellungen einer guten Gesellschaft entsprechen.

Wenn man also vom konkreten Beispiel Katars absieht, dann stellt sich schon die Frage, ob wir eine umfassende Politisierung des Sports wirklich möchten. Können wir es aushalten, wenn die Bühne des Sports für politische Bekundungen genutzt wird, die uns missfallen?

Über welche Botschaften würden „wir“ uns empören? 

Was nun, wenn Sportler*innen eine politische Meinung vertreten, die nicht mehrheitsfähig ist? Man erinnere sich an Mezut Özil, der sich vor vier Jahren kurz vor der WM 2018 mit dem türkischen Präsidenten ablichten ließ. Das Bild wurde zum Politikum. Das mediale und öffentliche Echo war groß und ausnahmslos kritisch. Özil hätte sich zurückhalten müssen; seine politische Unterstützung für einen hierzulande wenig beliebten Präsidenten mit Hang zur Autokratie privat halten sollen. Tennisprofi Novak Djokovic ist ein weiteres Beispiel: Mit seiner Weigerung, sich gegen COVID-19 impfen zu lassen, wurde er zur Symbolfigur für Impfskeptiker und Querdenker. Alle diese Fälle haben mehr oder weniger polarisiert.

Zahlreiche weiße und konservative Amerikaner – allen voran Donald Trump – echauffierten sich über Colin Kaepernicks „Hymnenprotest“ beim American Football, mit dem er sich mit der „Black Lives Matter“-Bewegung solidarisierte. Die Einschaltquoten der amerikanischen Sendeanstalten knickten daraufhin, wie Brown und Sheridan in einer aktuellen Studie zeigen, messbar ein. Das Sportpublikum stützt also nicht nur progressive Werte, sondern hat in Teilen auch sehr konservative Haltungen.

Alle diese Aktionen (und ihre Gegenbewegungen) müssten wir aber auch aushalten können, wenn wir denn eine weitere Politisierung haben wollen. Das Recht auf Meinungsäußerung im Sport können wir nicht nur den Menschen mit bequemen Botschaften zubilligen. In zwei Jahren ist die UEFA Europameisterschaft der Männer in Deutschland. Gekickt wird in München, Berlin oder Hamburg. Wagen wir mal ein Gedankenexperiment: Angenommen eine der teilnehmenden Mannschaften würde sich mit einem christlichen Symbol auf der Armbinde gegen Abtreibungen aussprechen wollen oder mit Shirts trainieren, die Deutschlands Klimabilanz kritisiert: Wären wir dann erfreut, empört oder beleidigt? Wer heute eine stärkere Politisierung des Sports fordert, muss sich im Klaren darüber sein, dass dies auch unsere eigene politische Toleranz früher oder später auf die Probe stellen wird.

„Sportswashing“: Mit der Fußball-WM zur Imageverbesserung – ein kluger Scha[i]chzug?

Der Spitzensport als „Waschmittel“ für ein sauberes Image

Im Zusammenhang mit der Fußball-WM in Katar fällt immer häufiger der Begriff „Sportswashing“. Ursprünglich nutzten vor allem NGOs wie Amnesty International den Begriff. Inzwischen hat er sich aber auch in den Medien etabliert. In der Sportwissenschaft ist der Begriff ebenfalls angekommen, wird aber im Hinblick auf seine analytische Tragfähigkeit und seine Trennschärfe gegenüber ähnlichen Begriffen kritisch diskutiert.

„Sportswashing“ meint, dass Gastgeberländer von Sportgroßereignissen die grundsätzlich positive Strahlkraft des Spitzensports dafür nutzen, um das eigene Image aufzubessern. Damit lenken sie von Verstößen gegen Menschenrechte, von Demokratiedefiziten oder von gesellschaftlichen und sozialen Problemen ab. Das Image in der Welt soll durch die Ausstrahlung des Sportevents und dessen globale Reichweite reingewaschen und das Land – je nach Zielsetzung – als modern, weltoffen, attraktiv, tolerant oder freundlich wahrgenommen werden. „Sportswashing“ reiht sich insofern, wie Michael Skey in einem aktuellen Beitrag diskutiert, in eine Reihe unterschiedlicher „Wasch“-Metaphern ein, wie z.B. „greenwashing“, „whitewashing“ oder „pinkwashing“, deren Gemeinsamkeit darin liegt, bestehende Probleme zu kaschieren, indem ein positives Image nach außen kommuniziert wird. Es geht also nicht darum, ein Problem zu lösen, sondern vielmehr, dieses in der allgemeinen Wahrnehmung zu verdecken.

Von „Soft Power“, „Sports Diplomacy“ und „Sportswashing“

Dass Gastgeberländer von Großereignissen die internationale Aufmerksamkeit als Strategie zur Imageverbesserung nutzen wollen, sich Vorteile für internationale und interkulturelle Beziehungen und damit auch wirtschaftliche Gewinne versprechen, ist allerdings nichts Neues. In der Wissenschaft wurde das bisher häufig mit dem Soft Power Konzept von Joseph Nye analysiert oder unter dem Begriff Sport Diplomacy beschrieben. Beide Konzepte sind jedoch nicht negativ konnotiert, sondern stehen für den Versuch von Staaten, internationale Anerkennung und Reputation z.B. für ihre wirtschaftlichen, sozialen, wissenschaftlichen oder sportlichen Leistungen und ihre Werte bzw. ihre Kultur zu erhalten. Auch die in Deutschland 2006 ausgetragene Fußball-WM war mit ihrem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ sicher mit der Intention verbunden, einen Kontrastpunkt zu einem Deutschland-Bild zu setzen, welches in vielen Ländern der Welt eher mit dem Nationalsozialismus als mit Weltoffenheit, Toleranz und Lebensfreude assoziiert wurde.

Die Tatsache, dass die jüngsten Sportgroßereignisse in autokratischen Ländern wie Russland (Fußball WM 2018), China (Olympische Winterspiele 2022) und jetzt Katar ausgetragen wurden, hat die Debatte jedoch verändert. Beim „Sportswashing“ geht es eben nicht nur darum, sein Image zu verbessern und die eigene Leistungen zu inszenieren, sondern den Sport gezielt als Werkzeug zur Ablenkung zu benutzen. Diese Investition in ein sauberes Image zahlt sich aus, da sie sowohl für Zugänge zur Weltwirtschaft – wozu auch der Sportmarkt gehört – als auch für tragfähige Wirtschaftsbeziehungen zu westlichen Ländern förderlich sind.

Wie gut das funktioniert, zeigt sich am Beispiel vom englischen Premier League Klub Newcastle United. Im Jahr 2021 wurde der Club durch ein Konsortium übernommen, das zu 80 Prozent aus den Staatsfonds Saudi-Arabiens (PIF) besteht. Viele Newcastle-Fans stört das nicht. Im Gegenteil, für sie ist wichtiger, dass der Club nun Geld für große Stars hat und somit eine Perspektive bekommt, um international erfolgreich mitzuspielen. Für den PIF ist der Fußballklub eine attraktive Plattform mit großer medialer Sichtbarkeit, um wirtschaftliche Beziehungen anzubahnen und saudi-arabische Wirtschaftsinteressen zu fördern.

Es rumpelt in der „Waschmaschine“…

Bei der WM in Katar ist die Lage eine etwas andere. Hier zeigt die massive und anhaltende öffentliche Kritik, die ja auch zahlreiche Boykott-Aufrufe einschließt, dass es zumindest in Westeuropa erheblichen Widerstand gibt. Das öffentliche Bewusstsein für die Menschenrechtslage in Katar ist durch die Vorberichterstattung zur WM sehr hoch: der Tod hunderter oder sogar tausender Gastarbeiter auf Großbaustellen oder der restriktive Umgang mit Homosexualität lieferten Negativschlagzeilen für Titelseiten. In den Wochen vor Turnierbeginn gab es fast täglich neue kritische Beiträge und Dokumentationen (z.B. die mehrteilige Dokumentation „Katar – WM der Schande“) über Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Überwachung per App oder die Einschränkung von Pressefreiheit. Der Versuch Katars, das Land mit Hilfe der WM durch eine eigene Erzählung und flankiert mit eindrucksvollen Bildern in das ‚rechte Licht‘ zu rücken, dürfte so kaum aufgehen. Ist Katars Strategie des „Sportswashing“ jetzt schon gescheitert?

Da die meisten Menschen in Deutschland noch nie in Katar waren, können sie ihre Meinungen nur aufgrund der Darstellungen in den Medien oder über Dritte bilden. Viel wird deshalb auf die Medienberichterstattung während des WM-Turniers ankommen. Bei denjenigen, die die WM boykottieren, werden negative Einstellungen gegenüber Katar bleiben. Die Menschen, die die WM verfolgen werden, könnten ihre Meinungen über das Emirat aber noch ändern. Entscheidend wird sein, ob weitere negative Ereignisse die Berichterstattung beherrschen werden oder von nun an andere Bilder im Mittelpunkt stehen: Bilder der futuristischen WM-Stadien, von beeindruckenden Skylines, luxuriösen Shopping-Malls, wilden Wüstenlandschaften und exotischer Kultur. Diese könnten viele Menschen positiv überraschen. Schaut man auf einige frühere Gastgeberländer – wie z.B. Brasilien als Gastgeber der WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 –, hat sich das Image vor allem hinsichtlich der Attraktivität als Reiseland deutlich verbessert, und zwar auch dann, wenn sozio-ökonomische Probleme im Land mit Sorge betrachtet wurden.

Die Macht der (digitalen) Bilder und (medialen) Narrative

In den letzten Jahren spielen auch digitale soziale Netzwerke eine immer größere Rolle bei der Imagebildung von Gastgeberländern. Denn während das, was über die Massenmedien berichtet wird, zu einem gewissen Maß steuerbar ist (z.B. über Auflagen für Journalist*innen) und bestimmte Bilder, Erzählungen oder Ereignisse inszeniert und vorbereitet werden können, sind Inhalte auf Social Media kaum kontrollierbar, da jeder Mensch Beträge erstellen und verbreiten kann. Doch auch hier hat Katar eigene Strategien entwickelt: Erst kürzlich sickerte durch, dass das Organisationskomitee der WM Fans zu bezahlten Reisen zum Turnier eingeladen hat, damit sie auf Social Media gute Stimmung und erwünschte Perspektiven auf das Land verbreiten. Katar ist also vorbereitet.

Aber man muss auch sagen, dass sämtliche bisherige Gastgeberländer und auch zukünftige Gastgeberländer ähnliche Strategien anwenden (werden), um ein millionenschweres Sportgroßereignis so positiv wie möglich zu vermarkten. Das Schutzargument der FIFA, dass Sportgroßereignisse positive Veränderungen auslösen können, ist auch nicht völlig falsch: Es wird berichtet, dass sich in Katar etwas zu ändern beginnt. So sind beispielsweise schon Fortschritte erreicht, in dem das Kafala-System abgeschafft, ein Mindestlohn eingeführt und die Rechte der Arbeitnehmer gestärkt wurden. Auch wenn es nur erste Schritte sind, so kann es ein Weg in die richtige Richtung sein. Bei aller berechtigter Kritik an Katar muss man realistisch bleiben: Ein System, dass sich seit Jahrzehnten stabilisiert hat, lässt sich nicht innerhalb weniger Wochen oder Monate ändern. Der Sport kann im besten Fall eine Brücke sein, nicht nur um wirtschaftliche und politische Impulse zu setzen, sondern auch um soziale Entwicklungen oder zumindest die Debatte hierzu anzuregen.

Was bleibt: eine Imageverbesserung, eine Imageverschlechterung oder gar kein Effekt?

Aktuell, so scheint es, sind die Vorstellungen über Katar bei vielen Menschen in Deutschland so negativ eingefärbt, dass es jetzt, wo der Ball in Doha rollt, fast nur noch aufwärts gehen kann. Trotzdem: Statt strahlend weißer Weste wird der Fußball-Waschgang im Emirat wahrscheinlich eher Flecken produzieren. Zumindest in Westeuropa. In anderen Teilen der Welt könnte das „Sportswashing“ durchaus glücken, wo mitunter ein negativer Bias westlicher Medien und konkret auch Deutschlands ablehnende Haltung gegenüber Katar auf Kritik stößt. Was die WM in Katar im Land selbst als auch bei Zuschauer*innen vor Ort als auch zuhause vor den Fernsehern letztlich bewirkt hat, wird die Sport- und Sozialwissenschaften nach der WM sicher noch eine Weile weiter beschäftigen.

Schauen oder nicht schauen, das ist hier die Frage: Die kontroverseste Fußball-WM aller Zeiten steht uns bevor

Ein globales „Mega-Event“?

Der FIFA World Cup gehört unbestritten zu den wenigen wirklich globalen Ereignissen. Rund 3,2 Milliarden Menschen auf diesem Planeten, so schätzt die FIFA, werden einschalten, wenn ab 20. November in Katar gegen den Ball getreten wird. Diese mediale Reichweite ist beeindruckend. Auch andere Dimensionen der WM sind gewaltig: Einschließlich der Stadionbauten hat Katar knapp 150 Milliarden Euro für die Ausrichtung des Turniers verplant – das ist mehr als die letzten fünf Endrundenturniere gemeinsam gekostet haben. Hinzu kommen dreistellige Milliardenbeträge für Infrastrukturprojekte, wie z.B. ein Autobahnring um Doha oder neue U-Bahnlinien. Bisherige Weltmeisterschaften haben bis zu 3 Millionen ausländische Tourist*innen angezogen. Schätzungen zufolge werden diesmal nur halb so viele Menschen in das kleine Golfemirat reisen. Trotzdem: Nimmt man einen Klassifikationsvorschlag für Großereignisse, den Michael Müller in seinem Beitrag „What makes an event a mega-event?“ macht, als Bezugspunkt, dann ist der FIFA World Cup in Katar gar kein Mega-Event, sondern noch mehr: ein „Giga-Event“. Größer geht es nicht.

Das letzte „Lagerfeuer der Nation“

Normalerweise steigt in fußballbegeisterten Ländern wie Deutschland drei Wochen vor einer Fußball-WM die Vorfreude. Sammelkarten werden getauscht, Autos und Wohnzimmer dekoriert, schwarz-rot-goldene Schminke eingekauft. Rollt erst der Ball, versammeln sich Millionen vor den Fernsehschirmen. Fast 35 Millionen Fernsehzuschauer sahen 2014 wie Mario Götze im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro das Siegtor gegen Argentinien verwandelte. Weitere Millionen schauten das Spiel an öffentlichen Orten, wie Biergärten und Kneipen, weshalb die TV-Einschaltquoten die wahre Reichweite deutlich unterschätzt. Wenn 50 Millionen in Deutschland ein Fußballspiel schauen, dann ist das ein Lehrbuchbeispiel für ein „media event“, das im kollektiven Gedächtnis der Nation seinen Platz findet. Das Spiel wird Gesprächsthema in jeder Kantine, an jeder Straßenecke. Deutschland, einig Fußballland.

Wenn Fußball-WM ist, sind in Deutschland die Fußballinteressierten in der Mehrheit. Wenn die DFB-Elf kickt, sitzen Familien, Generationen, Nachbarschaften, Freundesgruppen gemeinsam vor dem Bildschirm. Wenngleich es ein wenig pathetisch klingt, aber diese Fußballspiele verbinden über alle sozialen Schichten, alle Altersgruppen, alle politischen Lager hinweg. Unterschiedliche Meinungen und Ansichten treten in den Hintergrund. Wenn gestritten wird, dann über die richtige Aufstellung oder ob eine Aktion ein Foul war oder nicht. Der Fußball ist so betrachtet eines der letzten „Lagerfeuer“, an dem sich eine pluralisierte und mitunter polarisierte Gesellschaft versammeln kann.

Die kontroverseste WM aller Zeiten

Diesmal könnte es anders kommen. Es ist schon jetzt die kontroverseste WM aller Zeiten. Noch nie gab es in Deutschland so viel Ablehnung. Laut verschiedener Meinungsumfragen findet der Aufruf, das Turnier zu boykottieren, eine erstaunliche Resonanz. Gastwirte – zumindest einige Hundert von ihnen – wollen auf die Übertragung der Spiele verzichten. Die mediale Berichterstattung schürt keine Fußballlaune, sondern legt den Fokus vehement auf die politischen Verhältnisse im Gastgeberland. Ansatzpunkte für Kritik gibt es zahlreiche: Menschenrechte, Frauenrechte, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, ökologische Probleme, fehlende demokratische Freiheiten… Oft sind alle Probleme vergessen, wenn der Ball erst rollt. Bei dieser WM scheinen es viele Menschen aber ernst zu meinen. Selbst eingefleischte Fußballfans könnten diesmal den Fernseher abschalten.

In der Kritik vereint

Dass sportliche Großereignisse und die Länder, die sie ausrichten, kritisch beäugt werden, ist nichts Neues. Oft wird der organisierte Protest als Konflikt zwischen einer westlichen Zivilgesellschaft und den nicht-westlichen Gastgeberländern beschrieben. Analysen und Fallstudien zu den Olympischen Spielen in China oder in Russland arbeiten heraus, wie das Ziel der Gastgeber, ein positives Image und internationale Reputation zu erhalten, durch anhaltende Kritik an politischen und gesellschaftlichen Zuständen konterkariert wird. Wolfram Manzenreiter spricht von „media wars“, dem Kampf um die Deutungshoheit: die positiven Narrative der Gastgeber werden durch die kritischen Perspektiven der westlichen Medien – um in der Fußballsprache zu bleiben – ausgekontert.

Sportfans hat all das bislang aber kaum gestört. In der Regel räsoniert die Kritik an sportlichen Großereignissen vor allem bei politisch interessierten Menschen, insbesondere auch bei denen, die sich im ideologischen Links-Rechts-Spektrum eher links verorten. Der Kampf um Pressefreiheit in China oder die LGBTIQ+ Rechte in Russland haben kaum einen Sportfan vom Einschalten abgehalten.

In einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage haben wir nach der Wichtigkeit verschiedener Kriterien gefragt, die für die Vergabe von sportlichen Großereignissen gelten sollten. Die Nähe der verschiedenen Kriterien zueinander bzw. ihre Ähnlichkeit haben wir mit Hilfe einer multidimensionalen Skalierung veranschaulicht (s. Abbildung): Politische Kriterien und Nachhaltigkeitskriterien liegen relativ weit entfernt von den genuin sportbezogenen Kriterien, wie z.B. dem Anspruch auf moderne Stadien oder dem Wunsch, dass zahlreiche Fans vor Ort eine gute Stimmung garantieren. Grundsätzlich gilt also: Wer sportbezogene Kriterien als Maßstab der Vergabe priorisiert, für den sind politische Zustände eher weniger relevant. Das Gleiche gilt umgekehrt auch.


Die Kritik an der Fußball-WM in Katar vereint nun aber genau diese zwei Lager: Die Politikinteressierten kritisieren Menschenrechte und Arbeitsbedingungen; die Fußballinteressierten kritisieren die Verlegung in den Winter und die Ausrichtung durch ein Land, dem jedwede Fußballfankultur fehlt. Katar genügt weder den Ansprüchen der einen, noch der anderen. Viele Menschen in Deutschland sind also in der kritischen Haltung vereint – wenngleich aus unterschiedlichen Motiven heraus. Wird all das in zwei Wochen vergessen sein, wenn das sportliche „Giga-Event“ beginnt?

Schauen oder nicht schauen?

„Schauen oder nicht schauen?“ wird so zur Gretchen-Frage des Novembers 2022. Soll man dem politischen Gewissen folgen oder dem Fußballherz? Die Diskussion darüber ist längst im Gange. Am „Lagerfeuer der Nation“, um im Bild zu bleiben, werden vielleicht keine Fußballhymnen gesungen, sondern Protestsongs gespielt. Spätestens wenn am 23.11. die DFB-Elf zum ersten Spiel aufläuft, werden wir wissen, ob die Reichweite der WM wirklich deutlich geringer ausfällt als bei den Turnieren der letzten Jahre.

Der SozBlog soll in den nächsten sechs Wochen diese und weitere Themen genauer in den Blick nehmen. Dafür haben sich vier Sportsoziolog*innen zusammengefunden, die ihre sportsoziologische Forschung mit einem Blick auf die aktuellen Geschehnisse in Katar und um das WM-Turnier herum verbinden möchten. An Themen von soziologischer Relevanz mangelt es nicht – von den Organisationsstrukturen der FIFA, über die politischen Aktionen der Fußballer bis zur Rahmung der medialen Berichterstattung. Es gibt viel zu besprechen. Wir freuen uns auf eine spannende Zeit und interessante Diskussionen.

…Elter sein dagegen sehr

Sind Väter die besseren Mütter? fragte das Wochenmagazin Der Spiegel in seiner Weihnachtsausgabe 2015. Woraufhin – erwartbar – eine kleine erboste Reaktionswelle durch unsere mediale Echokammer ging: Überwiegend kritisch, manchmal enttäuscht und bisweilen lakonisch-zynisch kommentierten online-dads die Texte im Spiegel. Die online-moms waren – nicht minder erwartbar – noch lakonischer und verärgerter.  „…Elter sein dagegen sehr“ weiterlesen