Schauen oder nicht schauen, das ist hier die Frage: Die kontroverseste Fußball-WM aller Zeiten steht uns bevor

Ein globales „Mega-Event“?

Der FIFA World Cup gehört unbestritten zu den wenigen wirklich globalen Ereignissen. Rund 3,2 Milliarden Menschen auf diesem Planeten, so schätzt die FIFA, werden einschalten, wenn ab 20. November in Katar gegen den Ball getreten wird. Diese mediale Reichweite ist beeindruckend. Auch andere Dimensionen der WM sind gewaltig: Einschließlich der Stadionbauten hat Katar knapp 150 Milliarden Euro für die Ausrichtung des Turniers verplant – das ist mehr als die letzten fünf Endrundenturniere gemeinsam gekostet haben. Hinzu kommen dreistellige Milliardenbeträge für Infrastrukturprojekte, wie z.B. ein Autobahnring um Doha oder neue U-Bahnlinien. Bisherige Weltmeisterschaften haben bis zu 3 Millionen ausländische Tourist*innen angezogen. Schätzungen zufolge werden diesmal nur halb so viele Menschen in das kleine Golfemirat reisen. Trotzdem: Nimmt man einen Klassifikationsvorschlag für Großereignisse, den Michael Müller in seinem Beitrag „What makes an event a mega-event?“ macht, als Bezugspunkt, dann ist der FIFA World Cup in Katar gar kein Mega-Event, sondern noch mehr: ein „Giga-Event“. Größer geht es nicht.

Das letzte „Lagerfeuer der Nation“

Normalerweise steigt in fußballbegeisterten Ländern wie Deutschland drei Wochen vor einer Fußball-WM die Vorfreude. Sammelkarten werden getauscht, Autos und Wohnzimmer dekoriert, schwarz-rot-goldene Schminke eingekauft. Rollt erst der Ball, versammeln sich Millionen vor den Fernsehschirmen. Fast 35 Millionen Fernsehzuschauer sahen 2014 wie Mario Götze im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro das Siegtor gegen Argentinien verwandelte. Weitere Millionen schauten das Spiel an öffentlichen Orten, wie Biergärten und Kneipen, weshalb die TV-Einschaltquoten die wahre Reichweite deutlich unterschätzt. Wenn 50 Millionen in Deutschland ein Fußballspiel schauen, dann ist das ein Lehrbuchbeispiel für ein „media event“, das im kollektiven Gedächtnis der Nation seinen Platz findet. Das Spiel wird Gesprächsthema in jeder Kantine, an jeder Straßenecke. Deutschland, einig Fußballland.

Wenn Fußball-WM ist, sind in Deutschland die Fußballinteressierten in der Mehrheit. Wenn die DFB-Elf kickt, sitzen Familien, Generationen, Nachbarschaften, Freundesgruppen gemeinsam vor dem Bildschirm. Wenngleich es ein wenig pathetisch klingt, aber diese Fußballspiele verbinden über alle sozialen Schichten, alle Altersgruppen, alle politischen Lager hinweg. Unterschiedliche Meinungen und Ansichten treten in den Hintergrund. Wenn gestritten wird, dann über die richtige Aufstellung oder ob eine Aktion ein Foul war oder nicht. Der Fußball ist so betrachtet eines der letzten „Lagerfeuer“, an dem sich eine pluralisierte und mitunter polarisierte Gesellschaft versammeln kann.

Die kontroverseste WM aller Zeiten

Diesmal könnte es anders kommen. Es ist schon jetzt die kontroverseste WM aller Zeiten. Noch nie gab es in Deutschland so viel Ablehnung. Laut verschiedener Meinungsumfragen findet der Aufruf, das Turnier zu boykottieren, eine erstaunliche Resonanz. Gastwirte – zumindest einige Hundert von ihnen – wollen auf die Übertragung der Spiele verzichten. Die mediale Berichterstattung schürt keine Fußballlaune, sondern legt den Fokus vehement auf die politischen Verhältnisse im Gastgeberland. Ansatzpunkte für Kritik gibt es zahlreiche: Menschenrechte, Frauenrechte, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, ökologische Probleme, fehlende demokratische Freiheiten… Oft sind alle Probleme vergessen, wenn der Ball erst rollt. Bei dieser WM scheinen es viele Menschen aber ernst zu meinen. Selbst eingefleischte Fußballfans könnten diesmal den Fernseher abschalten.

In der Kritik vereint

Dass sportliche Großereignisse und die Länder, die sie ausrichten, kritisch beäugt werden, ist nichts Neues. Oft wird der organisierte Protest als Konflikt zwischen einer westlichen Zivilgesellschaft und den nicht-westlichen Gastgeberländern beschrieben. Analysen und Fallstudien zu den Olympischen Spielen in China oder in Russland arbeiten heraus, wie das Ziel der Gastgeber, ein positives Image und internationale Reputation zu erhalten, durch anhaltende Kritik an politischen und gesellschaftlichen Zuständen konterkariert wird. Wolfram Manzenreiter spricht von „media wars“, dem Kampf um die Deutungshoheit: die positiven Narrative der Gastgeber werden durch die kritischen Perspektiven der westlichen Medien – um in der Fußballsprache zu bleiben – ausgekontert.

Sportfans hat all das bislang aber kaum gestört. In der Regel räsoniert die Kritik an sportlichen Großereignissen vor allem bei politisch interessierten Menschen, insbesondere auch bei denen, die sich im ideologischen Links-Rechts-Spektrum eher links verorten. Der Kampf um Pressefreiheit in China oder die LGBTIQ+ Rechte in Russland haben kaum einen Sportfan vom Einschalten abgehalten.

In einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage haben wir nach der Wichtigkeit verschiedener Kriterien gefragt, die für die Vergabe von sportlichen Großereignissen gelten sollten. Die Nähe der verschiedenen Kriterien zueinander bzw. ihre Ähnlichkeit haben wir mit Hilfe einer multidimensionalen Skalierung veranschaulicht (s. Abbildung): Politische Kriterien und Nachhaltigkeitskriterien liegen relativ weit entfernt von den genuin sportbezogenen Kriterien, wie z.B. dem Anspruch auf moderne Stadien oder dem Wunsch, dass zahlreiche Fans vor Ort eine gute Stimmung garantieren. Grundsätzlich gilt also: Wer sportbezogene Kriterien als Maßstab der Vergabe priorisiert, für den sind politische Zustände eher weniger relevant. Das Gleiche gilt umgekehrt auch.


Die Kritik an der Fußball-WM in Katar vereint nun aber genau diese zwei Lager: Die Politikinteressierten kritisieren Menschenrechte und Arbeitsbedingungen; die Fußballinteressierten kritisieren die Verlegung in den Winter und die Ausrichtung durch ein Land, dem jedwede Fußballfankultur fehlt. Katar genügt weder den Ansprüchen der einen, noch der anderen. Viele Menschen in Deutschland sind also in der kritischen Haltung vereint – wenngleich aus unterschiedlichen Motiven heraus. Wird all das in zwei Wochen vergessen sein, wenn das sportliche „Giga-Event“ beginnt?

Schauen oder nicht schauen?

„Schauen oder nicht schauen?“ wird so zur Gretchen-Frage des Novembers 2022. Soll man dem politischen Gewissen folgen oder dem Fußballherz? Die Diskussion darüber ist längst im Gange. Am „Lagerfeuer der Nation“, um im Bild zu bleiben, werden vielleicht keine Fußballhymnen gesungen, sondern Protestsongs gespielt. Spätestens wenn am 23.11. die DFB-Elf zum ersten Spiel aufläuft, werden wir wissen, ob die Reichweite der WM wirklich deutlich geringer ausfällt als bei den Turnieren der letzten Jahre.

Der SozBlog soll in den nächsten sechs Wochen diese und weitere Themen genauer in den Blick nehmen. Dafür haben sich vier Sportsoziolog*innen zusammengefunden, die ihre sportsoziologische Forschung mit einem Blick auf die aktuellen Geschehnisse in Katar und um das WM-Turnier herum verbinden möchten. An Themen von soziologischer Relevanz mangelt es nicht – von den Organisationsstrukturen der FIFA, über die politischen Aktionen der Fußballer bis zur Rahmung der medialen Berichterstattung. Es gibt viel zu besprechen. Wir freuen uns auf eine spannende Zeit und interessante Diskussionen.