Freude, Frust und Leiden(schaft): Fußball und die Soziologie der Emotionen

David gegen Goliath

Nach dem Einzug der marokkanischen Fußballer ins Halbfinale der WM gingen Bilder von feiernden Fans um die Welt – Fans in Marokko, anderen arabischen Ländern, aber auch in vielen europäischen Großstädten. Dass erstmals ein afrikanisches Team unter die besten vier Mannschaften kommt und sich gegen spielstarke Gegner durchsetzen konnte, ist unerwartet und zählt sicher zu der größten sportlichen Überraschung des Turniers. Wenn David gegen Goliath gewinnt, löst das besonders starke Emotionen aus. Überraschende Erfolge werden intensiver erlebt als Siege, mit denen man fest gerechnet hat. Autokorsos und spontane öffentliche Feiern, nicht nur in Rabat und Casablanca, sondern auch in Paris, Brüssel, New York und anderen Städten, dokumentieren einen Ausbruch von Freude und Stolz unter den marokkanischen Fans, während die Anhänger der französischen „Equipe Tricolore“ wohl erst bei der Titelverteidigung ähnlich enthusiastisch reagieren würden. Was los wäre, sollten die „Löwen vom Atlas“ auch Frankreich schlagen, kann man sich kaum vorstellen.

Die weitreichenden Folgen solch außergewöhnlich starker Erregungszustände beim Fußballschauen lassen sich an unterschiedlichen Phänomen zeigen. So scheint der emotionale Stress beim Fußballschauen mit einer Häufung von akuten Herz-Kreislauf-Vorfällen in Zusammenhang zu stehen. Die Euphorie für den Fußball kann aber auch ganz andere Folgen haben: Für den Großraum Barcelona gibt es eine – vielleicht nicht ganz ernst gemeinte Analyse –, die ein dramatisches Champions League Halbfinale mit einem Baby Boom 10 Monate später in Verbindung bringt. Wir schauen uns in diesem Beitrag einige soziologische Bezüge zwischen Fußball und Emotionen an.

Fußball als „emotionale Enklave“

Der Fußball besitzt einen besonderen emotionalen Erlebniswert für das Publikum, denn das Verfolgen von Wettkämpfen ist in der Regel mit Spannungs- und Erregungszuständen verbunden, die nicht etwa unliebsame Nebenwirkung von Sportkonsum sind, sondern im Gegenteil, gerade von den Zuschauenden gesucht werden. Häufig wird auch von positivem Stress gesprochen, der ein zentrales Motiv für das Schauen von Sport ist. Die gegenwärtigen medialen Inszenierungsweisen des Sports sind explizit darauf ausgelegt, die dem Spiel inhärente Dramatik und Emotionalität aufzugreifen und weiter zu steigern. Bei Fernsehübertragungen werden verschiedene Techniken der Bildinszenierung und Bildregie genutzt, um das Geschehen noch emotionaler, dramatischer und spannender zu gestalten. Zusätzlich werden oft bestimmte narrative Elemente verwendet, um die Emotionen noch packender zu vermitteln. So kommen übertragene Fußballspiele kaum aus ohne Bilder von jubelnden Menschen im Stadion nach dem Torerfolg, weinenden Fans nach Niederlagen in wichtigen Spielen, einer offensichtlich erregten und emotionalen Kommentierung und – gerade bei internationalen Fußballturnieren – vermehrt auch Live-Schaltungen zu vor Begeisterung eskalierenden Menschenmassen auf öffentlichen Plätzen. Hochklassige und spannende Fußballspiele sind insofern Paradebeispiele für Ereignisse der „mimetischen Klasse“, ganz im Sinne von Norbert Elias. Momente der Freude und Erleichterung tragen ebenso zum Vergnügen bei, wie Momente der Unsicherheit und Spannung.

Empirische Studien haben vielfach nachweisen können, dass das Spannungs- und Emotionserleben in der Tat ein zentrales Motiv für die Nachfrage nach Sportereignissen ist. Zuschauer*innen schalten dann vermehrt Sportübertragungen ein, solange diese Spannung versprechen und der Ausgang eines Spiels ungewiss ist. Darüber hinaus ist gut belegt – aber im Grunde auch fast trivial –, dass Sportzuschauer*innen von positiven Emotionen (z.B. Stolz, Freude, Dankbarkeit) berichten, wenn ihre bevorzugte Mannschaft siegreich war und von Ärger und Missmut, wenn diese verliert. Läuft es gut, lassen sich sogar Fußballeffekte auf die Lebenszufriedenheit oder die Zufriedenheit mit der eigenen Regierung aufzeigen.

Emotionen und soziale Identität

Der Theorie affektiver Dispositionen folgend, ist Identifikation eine wesentliche Voraussetzung für das Ausmaß des Emotionserlebens. Emotionen geben Auskunft über unsere soziale Identität. Zuschauer*innen entwickeln gegenüber Sportteams affektiv eingefärbte Dispositionen, die auf einem Kontinuum von starker Sympathie über Neutralität bis zu starker Antipathie verlaufen. Hierauf basieren die erlebten Emotionen bei einem Spiel: Je mehr Sympathie ein Mensch einer Mannschaft entgegenbringt, desto größer die Freude, wenn diese Mannschaft gewinnt und desto größer der Frust, wenn diese verliert. Gesteigert werden kann die Freude nur dann, wenn die präferierte Mannschaft gegen eine Mannschaft gewinnt, gegenüber der eine negative Disposition ausgebildet wurde, wenn also das Lieblingsteam einen ungeliebten Rivalen schlägt. Zugleich wirken die erlebten Emotionen aber auch auf das Zugehörigkeitsgefühl zurück.

Identifikation und Identität sind aber nicht nur Grundlage, sondern zugleich auch Folge der kollektiv erlebten Emotionen. Einige im Kontext von Fußballweltmeisterschaften durchgeführte Studien haben zeigen können, dass die emotionale Involvierung oder die Einbindung in fußballpatriotische Handlungen (z.B. das Aufhängen von Fahnen, Mitsingen der Hymne), sich in gesteigerten Nationalstolz und Nationalismus übersetzt. „Wir haben gewonnen“ ist dann der offensichtliche Ausdruck einer Identifikation mit dem Nationalteam – oft aber auch mit der Nation, die dieses Team quasi verkörpert.

Die emotionale Aufladung des Nationalen

Bei einer Fußball-WM treten Mannschaften an, die ihre jeweiligen Nationen repräsentieren. Das Turnier ist eingerahmt in eine nationale Symbolik, wird inszeniert als eine Art Wettstreit von Nationen nach dem Motto „Wir gegen die anderen“ und Medien berichten darüber nach einer nationalen Logik der Selektion. Dieter Reicher hat dies als „Nationensport“ beschrieben. Die erlebten Emotionen heften sich insofern an die Kategorie der Nation an. Sie machen die ansonsten oft sehr abstrakte Kategorie fühl- und erlebbar. WM-Turniere sind deshalb auch ein Beispiel für einen „ecstatic nationalism“: besondere Ereignisse, welche die Nation öffentlich darstellen, ehren oder feiern und sie mit Gefühlen und Idealen aufladen. Dieser Transfer der Emotionen vom Fußball auf die Nation ist bereits mehrfach untersucht wurden: So konnte z.B. Christian von Scheve in einer Studie zeigen, dass Deutschland-Symbole, wie z.B. das Brandenburger Tor, von emotional involvierten Fußballfans nach einer WM positiver beurteilt wurden als vor der WM. Und auch in der Olympiaberichterstattung gibt es solche Transfereffekte: Mit einem experimentellen Design konnten wir zeigen, dass die in einer Sportübertragung vermittelten Emotionen ein wichtiger Einflussfaktor dafür sind, wieviel Nationalstolz die Zuschauenden danach empfanden.

Emotionen im sozialen Kontext

Der Konsum großer Sportereignisse zeichnet sich nun auch dadurch aus, dass er sich oftmals im Beisein von anderen Menschen vollzieht – sei es im Stadion, in der Kneipe, auf Fanmeilen oder gemeinsam vor dem heimischen TV-Gerät. Dies bedeutet auch, dass Spannung, Freude und Ärger nicht allein, sondern gemeinschaftlich erlebt werden. Emotionen beim Zuschauen sind also oftmals auch kollektive Emotionen, die sich dadurch auszeichnen können, dass sich die Gefühlsregungen in der Gruppe gegenseitig steigern: Das Konzept der „emotionalen Ansteckung“ geht davon aus, dass Menschen, sobald sie in einer Gruppe agieren, die Emotionen bzw. das damit einhergehende Ausdrucksverhalten der Menschen in ihrer Nähe wahrnehmen und dadurch die wahrgenommene Emotion in den Wahrnehmenden selbst ausgelöst wird. Für die eigentliche Ansteckung wird ein nahezu automatischer, spontan und unbewusst ablaufender Prozess der mimischen und motorischen Nachahmung postuliert, bei dem der bei anderen wahrgenommene Emotionsausdruck imitiert und die eigentliche Emotion nachempfunden wird.

Komplementär hierzu lässt sich die Entstehung kollektiver Emotionen auch als ein stärker sozial normierter Prozess der Emotionsregulation beschreiben. Menschen gleichen demnach ihre eigenen Emotionen, die wahrgenommenen Emotionen anderer Menschen und die in einer Situation geltenden sozialen Normen ab, um sich dadurch zu versichern, dass ihre eigenen Emotionen in einer bestimmten Situation angemessen sind. Unterstellt wird dabei, dass Menschen darauf bedacht sind, ihre Emotionen weitestgehend so zu kontrollieren, dass nur die jeweils angemessenen Emotionen gezeigt werden. Welche „feeling rules“ angemessen sind, ist in vielen sozialen Situationen mehr oder weniger festgelegt. Es kann sogar als soziale Norm erachtet werden, dass man z.B. beim Fußballschauen auf ein bestimmtes expressives Verhalten mit einem ähnlichen Ausdrucksverhalten reagieren soll, z.B. mitklatschen oder mitsingen soll, aber auch Freude oder Enttäuschung zeigen soll. Normen legen also auch fest, welche Reaktionen auf das Ausdrucksverhalten anderer Personen angemessen und sozial akzeptiert sind.

Egal von welchem Mechanismus man ausgeht, der Effekt ist gleich: Menschen erleben Emotionen in der Gruppe intensiver. Das gilt auch für den Fußball, wo der soziale Kontext ebenfalls das Ausmaß an Freude und Spannung mitbestimmt, das beim Anschauen eines Spiels erlebt wird.

In Deutschland bleibt es diesmal „cool“

Die beschriebenen positiven kollektiven Emotionen bleiben diesmal anderen Ländern vorbehalten. In Deutschland geht es kühl zu. Der entscheidende Grund dafür ist das Ausscheiden in der Vorrunde. Sportlich wenig erfolgreiche Mannschaften eignen sich nicht als Identifikationsobjekte. Ärger und Trauer dürften eine Gruppe auch weniger stark zusammenschweißen als geteilte Freude. Hinzu kommt, dass eine emotionale Ansteckung auch nicht mehr funktionieren kann, wenn Fußballspiele von ernsten Debatten über Menschenrechte und Arbeitsbedingungen eingerahmt werden. Kein Publikum kann so rasch von ernster Betroffenheit zu fröhlicher Ausgelassenheit wechseln und wieder zurück. Schließlich lädt auch der Winter nicht zum sozialen Miteinander ein, zumindest nicht in Deutschland. Bislang feierte das Land seine sommerlichen Fußballpartys im Biergarten und nicht im Novemberregen.

„Bedröppelt, geknickt und verzweifelt“ müssten die deutschen Kicker diesmal nach Hause fahren, meinte ARD-Reporter Gert Gottlob in seiner Schlussbetrachtung des Costa Rica-Spiels. Wer sich zu stark mit der deutschen Elf identifizierte, erlebte statt kollektiver Efferveszenz eher eine kollektive Depression. Zum Glück gehen die Emotionen, die der Sport induziert, aber auch schnell wieder vorbei.

Ein kurzes Auflodern, kein langer Rausch

Die meisten Studien zum Erleben von Emotionen wie Stolz und Freude bei Fußball-Events zeigen, dass diese Effekte eher von kurzer Dauer sind. In einer Studie aus den Niederlanden flackerte der Nationalstolz immer dann kurz auf, wenn niederländische Sportler*innen unerwartet positiv bei großen Ereignissen abschnitten. Sportliche Enttäuschungen lassen den kollektiven Stolz hingegen nicht allzu stark absinken.

Mit einem wachsenden zeitlichen Abstand bleiben die positiven Dinge eher im Gedächtnis als die negativen. Das 7:1 im Halbfinale der WM 2014 gegen Brasilien ist für viele deutsche Fußballfans ein unvergessener Moment, genauso wie das Siegtor von Götze im Finale gegen Argentinien. Und der Kommentar „aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen…“ von Radiokommentator Herbert Zimmermann löst auch bei vielen Menschen Emotionen aus, die 1954 noch gar nicht auf der Welt waren. Einige Fußballmomente schaffen es ins kollektive Gedächtnis der Nation. Das Ausscheiden der DFB-Elf im Jahr 2022 wird dort aber keine Spuren hinterlassen.

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