Rund um die Akademie-Gründung wurde immer wieder einmal mit negativen Konnotationen auf Phänomene der Politisierung der Soziologie verwiesen und dabei gelegentlich mit dem Finger auf den DGS-Vorstand gezeigt. Hier muss aber sorgsam differenziert werden, welche Dimension des Politischen gemeint ist, denn sie sind unterschiedlich zu bewerten:
Der Anspruch der Soziologie, kritische Wegbegleiterin von Gesellschaft(en) zu sein, erscheint mir unverzichtbar. Kritische „Gesellschaftsbeobachtung“ ist eine politisch verantwortliche wissenschaftliche Aufgabe der Soziologie. Eine allerdings, die nicht von der Notwendigkeit entbindet, dies im Sinne einer Tatsachenwissenschaft zu tun, sich also in systematischer Weise mit empirischen Phänomenen auseinanderzusetzen. Schon in die Entdeckung und Wahl von Forschungsthemen gehen häufig und sehr zu Recht politische oder moralische Wertungen ein.
Die Einmischung von Vertreterinnen unseres Faches auch in gesellschaftspolitische Debatten (z.B. über Ungleichheit, Diskriminierung von Randgruppen, Verrohung medialer Kommunikationsformen, etc.) ist aller Ehren wert, sollte aber nicht mit der Soziologie als Wissenschaft verwechselt werden. Soziologie macht nicht Politik für Gleichberechtigung oder Inklusion, für soziale oder Geschlechtergerechtigkeit, Soziologie forscht über diese Probleme, macht sie mitunter überhaupt erst sichtbar und kann, basierend auf theoretischem Denken und empirischem Forschen dann ggf. auch Einschätzungen liefern und Lösungen anbieten. Hier ist mitunter einiges durcheinander geraten. Soziologie sollte nach meinem Verständnis nicht zur wissenschaftlichen Ummäntelung politisch-moralischer Überzeugungen herhalten, die als solche unhinterfragt bleiben. Auch das wäre wieder nur eine Form affirmativer und letztlich unkritischer Wissenschaft und insofern nicht besser als eine akribische, „evidenzbasierte“ Gesellschaftsbeschreibung, die über den Status einer dem Stil des Realismus verpflichteten ‚Hofmalerin‘ herrschender gesellschaftlicher Verhältnisse nicht hinauskommt.
Dass viele, wenn nicht die meisten Soziologinnen sich politisch verstehen und Verantwortung für die Gesellschaften übernehmen wollen, in denen sie leben, liegt nahe und ist nach meinem Dafürhalten unbedingt zu begrüßen – gerade in diesen Zeiten. Es ist keine sonderlich riskante These, dass eine solche Haltung ein relevantes Motiv für die Berufswahl als Soziologin ist und zugleich der Fachdiskurs die Wahrnehmung und Bearbeitung gesellschaftspolitischer Probleme befördert, zu denen man sich dann gerne positionieren möchte. Nicht angemessen hingegen ist die Abarbeitung eines politischen Programms unter dem Schirm der organisierten Soziologie. Das ist, darauf wird gelegentlich zu recht hingewiesen, auch insofern kaum zu legitimieren, als die uns zukommende staatliche Alimentierung sich allein aus dem Auftrag herleitet, Forschung und Lehre zu betreiben. Politische Meinungsbildung ist darin nicht enthalten – sonst könnte ja auch die AfD W3-Stellen beantragen.
Diese Differenzierung deckt sich übrigens recht gut mit dem etwas in die Jahre gekommenen Wertfreiheitspostulat Webers, zumindest dann, wenn man die inzwischen im Fach gereifte Erkenntnis hinzudenkt, dass die Ergebnisse des Forschens nie neutrale Abbilder der empirischen Welt sind und sein können, weil wir als Forschende permanent, in einer fortgesetzten Kette von Einzelentscheidungen auch politische und moralische Wertsetzungen einfließen lassen. Eine Soziologie als ‚rein‘ wissenschaftlich Veranstaltung frei von Politik kann es insofern gar nicht geben, aber politische Haltung als Ersatz für soziologische Gründlichkeit ist auch keine Lösung. Schwierig sind also Grenzziehung und Balance. Auch unsere politischen Einschätzungen gewinnen an Glaubwürdigkeit und Integrität erst durch die Gründlichkeit und Offenheit unserer wissenschaftlichen Arbeit. Wer die Behandlung von Asylsuchenden in Deutschland, Europa oder der Welt schlechthin für skandalös hält, kann als Soziologin problemlos ein Forschungsprojekt zu diesem Thema beantragen, durchführen und daraus publizieren, muss sich dabei aber an den wissenschaftlichen Ansprüchen unseres Faches messen lassen – die gute Gesinnung allein macht noch keine gute Soziologie.