Institutioneller Antisemitismus als Analyseperspektive

In Deutschland als einer postnationalsozialistischen Gesellschaft ist Antisemitismus ein medial, pädagogisch, politisch und wissenschaftlich viel diskutiertes gesellschaftliches Verhältnis. In Deutschland als einer postmigrantischen Gesellschaft verfügt die Mehrzahl der hier lebenden Juden:Jüdinnen über einen Migrationshintergrund.[1] Umso erstaunlicher ist es, dass die konkreten Alltagserfahrungen, die Juden:Jüdinnen mit gegenwärtigem Antisemitismus machen, bisher nur selten Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung sind – und zwar weder in der Migrations- noch in der Rassismus- oder Antisemitismusmusforschung. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich bisher vor allem mit Antisemitismus als einer Weltanschauung befasst, mit der negative Erscheinungsformen der Moderne auf die Figur „des Juden“ projiziert werden und die damit bestimmte psychologische Funktionen für ihre Träger*innen erfüllt (Kirchhoff 2020). In der welterklärenden Ideologie des Antisemitismus werden Juden:Jüdinnen als übermächtige Feinde imaginiert, die tradierte Ordnungsprinzipien sowie (nationale) Selbstbilder in Frage stellen.[2] Der Fokus dieser Forschung liegt auf dem (richtigen) Verständnis, dass Antisemitismus auf Projektion basiert, nicht auf dem realen Verhalten von Juden:Jüdinnen – er ist, um eine Bezeichnung von Theodor W. Adorno aufzugreifen – »das Gerücht über die Juden«[3]. Dieser Fokus zeigt sich indirekt auch in quantitativen Untersuchungen, die die Verbreitung antisemitischer Einstellungen messen.[4]

Um Antisemitismus angemessen als gesellschaftliches Verhältnis zu untersuchen, reichen diese Zugänge allerdings nicht aus – darauf verweisen seit einigen Jahren wissenschaftliche Studien, ebenso wie zahlreiche Stimmen aus der Zivilgesellschaft.[5] Denn mit der Konzentration auf die Täter:innenperspektive – und ihren kognitiven und psychischen Strukturen – geraten die Betroffenen aus dem Blickfeld und werden als handelnde Akteur:innen unsichtbar gemacht, die Wirkungsweisen von Antisemitismus auf jüdische Menschen werden nur unzureichend erfasst.[6] Die Erfahrungen der rund 225.000 Juden:Jüdinnen in Deutschland,[7] von denen etwa 220.000 aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert sind, finden jedoch sehr konkret jeden Tag statt.

Zudem fehlt eine Perspektive, die den Antisemitismus jenseits von verbalen und körperlichen Angriffen untersucht – wie dies häufig in aktuellen öffentlichen Debatten der Fall ist. So wichtig diese Art von Monitoring selbstverständlich ist, so gehen bei einem ausschließlichen Fokus auf diese Ausdrucksformen doch wichtige Reproduktionsmechanismen des Antisemitismus verloren. Denn begreift man diesen als ein historisch gewachsenes, gesamtgesellschaftlich wirkmächtiges Verhältnis, und nicht nur ein individuelles Vorurteil, dann stellt sich auch die Frage, welche Rolle Institutionen für dessen Aufrechterhaltung spielen. Quantitative sozialpsychologisch orientierte Erhebungen zu Diskriminierungserfahrungen jüdischer Menschen verweisen auf zahlreiche institutionelle Kontexte, in denen Antisemitismus erfahren wird. In einer Studie mit mehr als 500 jüdischen Befragten aus dem Jahr 2017 berichtete jeweils etwa ein Drittel von Diskriminierung in Bildungseinrichtungen (Kindergarten, Schule, Ausbildungsstätte, Hochschule) und bei der Arbeit.[8] Auch in einer Studie der „Agentur der Europäischen Union für Grundrechte” von 2013 waren Arbeitsplatz und Schule die am häufigsten genannten institutionellen Kontexte.[9] Und mehr als die Hälfte der jüdischen Studierenden in einer aktuellen Studie hat Diskriminierung an deutschen Hochschulen aufgrund der jüdischen Religionszugehörigkeit bei anderen beobachtet, ein Drittel hat sie sogar selbst erlebt.[10]

In der Rassismusforschung existiert ein Konzept zur Analyse des institutionellen Rassismus, das für die Antisemitismusforschung fruchtbar gemacht werden kann. Der Begriff des institutionellen Rassismus geht auf die beiden Black Panther Aktivisten Kwame Turé und George Hamilton zurück, die damit eine Form des Rassismus beschreiben, der das Leben der schwarzen Bevölkerung in den USA der 1960er Jahre bestimmt hat. Forschungen zu institutionellem Rassismus fragen danach, wie rassistische gesellschaftliche Verhältnisse durch (staatliche) Institutionen abgesichert und reproduziert werden. Sie analysieren die Produktion materieller und symbolischer rassistischer Ausschlüsse durch Regeln, Routinen, Praktiken, Normen und Erwartungen (staatlicher) Institutionen.[11] Mögliche Analysegegenstände sind Wissensbestände      , gesetzliche Rahmenbedingungen oder routinisierte Verfahrensweisen. Es geht also weniger um einzelne rassistische Behördenmitarbeiterinnen, Polizisten oder Lehrer*innen, vielmehr wird individuell rassistisches Agieren innerhalb einer Organisation mit Bezug auf die institutionellen Rahmenbedingungen betrachtet – etwa, indem nach den institutionellen Routinen und Regeln gefragt wird, die entsprechende Praktiken erst ermöglichen (z.B. fehlende Beschwerdemöglichkeiten, große Ermessensspielräume oder ein Mangel an Rechenschaftspflicht).[12]

Während ein institutioneller Antisemitismus in verschiedenen historischen Phasen belegt ist, und insbesondere im Nationalsozialismus die tiefe Verankerung von Antisemitismus in Institutionen offensichtlich ist und sich in der Identifikation, Enteignung, Deportation und Ermordung von Juden:Jüdinnen zeigte, liegen für die Gegenwart noch nicht viele Studien vor. Einordnen ließen sich hier Studien zum behördlichen Umgang mit jüdischen „Kontingentflüchtlingen“, die eine Ungleichbehandlung in Versorgung, Unterbringung und rechtlicher Anerkennung u.a. bei den Rentenzeiten im Vergleich zu den ethnisch-deutschen Spätaussiedler:innen aus Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sehen.[13] Zu der Frage, inwiefern eine christliche Normativität institutionell antisemitische Ausschlüsse produziert, gibt es bisher kaum Forschung, aber viele Hinweise: Ein aktuelles Beispiel ist ein Brief der Berliner Charité, in dem der Antrag der Jüdischen Hochschulgruppe, 2023 einen Chanukka-Leuchter aufzustellen, mit dem Hinweis auf das Neutralitätsgebot abgelehnt wurde. In dem gleichen Schreiben wird das Aufstellen eines Weihnachtsbaums damit begründet, dass es sich um ein universelles Symbol für Frieden handele.[14] Zudem liegen Arbeiten zum Zusammenhang von antisemitischem Wissen und Umgang mit Antisemitismus für die Institution Schule vor. Diese zeigen, wie regelhaft Antisemitismus von Lehrkräften und Schulleitungen nicht erkannt oder bagatellisiert wird, jüdischen Schüler:innen davon abgeraten wird, ihr Jüdischsein offen zu thematisieren und die Schüler:innen entweder nicht wahrgenommen, als Botschafter:innen gegen Antisemitismus behandelt oder als israelische Aggressor:innen diffamiert werden.[15] Besonders zum Tragen kommt hier die jüdische Unsichtbarkeit im Sinne einer angenommenen „Nicht-Präsenz“[16] – die grundsätzliche Annahme, dass kaum Juden:Jüdinnen in Deutschland leben und sie darum auch nicht berücksichtigt werden müssen.

Auf diesen Forschungen sollte aufgebaut werden, um Antisemitismus auch in anderen gesellschaftlich relevanten Bereichen – dem Gesundheitswesen, Arbeitsämtern, Kitas – in seinen alltäglichen Auswirkungen auf Juden:Jüdinnen zu untersuchen. Notwendig dafür ist allerdings ein Verständnis von Antisemitismus, welches diesen nicht lediglich als Ideologie und Weltanschauung, sondern auch als eine Form von antijüdischer Diskriminierung begreift.[17] Konzepte und Erkenntnisse aus der Rassismusforschung können dabei zu einem stärkeren Verständnis derselben beitragen.

Literatur

[1] Insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion, doch leben auch etwa 14.000 Israelis in Deutschland, von denen ein Großteil jüdisch ist, vgl. Mediendienst Integration. 2023. Judentum. https://mediendienst-integration.de/gruppen/judentum.html. Zugriff: 06.09.2024; Statistisches Bundesamt. 2022. 12521-0002: Ausländer: Deutschland, Stichtag, Geschlecht/Altersjahre/Familienstand, Ländergruppierungen/Staatsangehörigkeit. https://www-genesis.destatis.de/genesis/online. Zugriff: 07.05.2024.

[2] Holz, Klaus. 2001. Nationaler Antisemitismus: Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg: Hamburger Edition. Siehe auch der Beitrag von Astrid Messerschmidt im SozBlog: https://blog.soziologie.de/2024/06/rassismus-und-antisemitismuskritik-in-den-aktuellen-gewaltverhaeltnissen/#more-6061, Zugriff: 06.09.2024.

[3] Adorno, Theodor W. 2001 [1951]. Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin und Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, S. 200.

[4] Siehe etwa Decker, Oliver, Johannes Kiess, Ayline Heller, und Elmar Brähler, Hrsg. 2022. Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten: Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismus Studie 2022. Gießen: Psychosozial Verlag; Zick, Andreas, Beate Küpper, und Nico Mokros, Hrsg. 2023. Die distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Bonn: Dietz.

[5] Chernivsky, Marina, und Friederike Lorenz. 2020. Antisemitismus im Kontext Schule: Deutungen und Umgangsweisen von Lehrer:innen an Berliner Schulen. Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment. Berlin. https://zwst-kompetenzzentrum.de/wp-content/uploads/2020/11/Forschungsbericht_2020.pdf. Zugriff: 06.09.2024; Bundesverband RIAS. 2020. Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017-2020. Berlin. https://report-antisemitism.de/documents/2023-02-28_Isolierte_Situation_Web.pdf. Zugriff: 06.09.2024; Beyer, Heiko, und Ulf Liebe. 2020. Diskriminierungserfahrungen und Bedrohungswahrnehmungen von in Deutschland lebenden Juden. Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 4 (1): 127-148; Schäuble, Barbara. 2017. Antisemitische Diskriminierung. In Handbuch Diskriminierung, Hrsg. Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani, und Anna Cornelia Reinhardt. Wiesbaden: Springer VS.

[6] Auch in der Rassismusforschung hat es viele Jahre sowohl in der Wissenschaft als auch in der pädagogischen Praxis eine Konzentration auf die Täter:innen gegeben. Erst nach jahrzehntelangen migrantischen Kämpfen um Anerkennung und Partizipation hat eine Verschiebung begonnen (Foroutan et al. 2018).

[7] https://www.jewishdatabank.org/api/download/?studyId=1185&mediaId=bjdb%5c2021_World_Jewish_Population_AJYB_(DellaPergola)_DB_Public.pdf#page=73, Zugriff 06.09.2024.

[8] Zick, Andreas, Andreas Hövermann, Silke Jensen, Julia Bernstein, und Nathalie Perl, Hrsg. 2017. Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland. Ein Studienbericht für den Expertenrat Antisemitismus. Bielefeld: Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, S. 17.

[9] FRA – European Union Agency for Fundamental Rights. 2013. Diskriminierung und Hasskriminalität gegenüber Juden in den EU-Mitgliedstaaten: Erfahrungen und Wahrnehmungen im Zusammenhang mit Antisemitismus. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2013-discrimination-hate-crime-against-jews-eu-member-states_de.pdf, S. 55f. Zugriff: 06.09.2024.

[10] Hinz, Thomas, Anna Marczuk, und Frank Multrus. 2024: Studentisches Meinungsklima zur Gewalteskalation in Israel und Gaza und Antisemitismus an deutschen Hochschulen. Working Paper Nr. 16, Cluster of Excellence “The Politics of Inequality”. Konstanz: Universität Konstanz. https://doi.org/10.48787/kops/352-2-1a59j9v824fmw4, S. 16-19.

[11] Graevskaia, Alexandra, Katrin Menke, und Andrea Rumpel. 2022. Institutioneller Rassismus in Behörden – Rassistische Wissensbestände in Polizei, Gesundheitsversorgung und Arbeitsverwaltung. IAQ-Report 2022/2. DOI: 10.17185/duepublico/75438. Neuburger, Tobias und Christian Hinrichs. 2021. Mechanismen des institutionellen Antiziganismus. Kommunale Praktiken und EU-Binnenmigration am Beispiel einer westdeutschen Großstadt. Forschungsbericht für die unabhängige Kommission Antiziganismus. Hannover: Institut Bildung-Forschung-Qualifikation e.V. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/UKA/Forschungsbericht_Mechanismen_des_institutionellen_Antiziganismus.pdf; Gomolla, Mechtild, und Frank-Olaf Radtke. 2009. Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: Springer VS.

[12] Karakayali, Juliane und Kron, Stefanie (2023): Institutional Racism and Refugee-Policies in the Context of the Ukraine War. On the Situation of Third-country Refugees in Berlin. In: movements- journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 7 (2), S. 21-43. Online verfügbar movements-journal.org

[13] Weiss, Karin. 2002. Zwischen Integration und Ausgrenzung: Jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland. In Jahrbuch für Antisemitismusforschung 11, Hrsg. Stefanie Schüler-Springorum, 249–270. Berlin: Metropol.

[14] https://twitter.com/RubenGerczi/status/1733822237021536561 (Zugriff: 05.09.2024).

[15] Chernivsky/ Lorenz 2020.; Bernstein, Julia. 2020. Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Weinheim: Beltz Juventa.

[16] Chernivsky, Marina, Friederike Lorenz, und Johanna Schweitzer. 2020. Antisemitismus im (Schul-)Alltag – Erfahrungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und junger Erwachsener. Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment. Berlin.

https://zwst-kompetenzzentrum.de/wp-content/uploads/2021/04/Forschungsbericht_Familienstudie_2020.pdf, S. 60. Zugriff: 06.09.2024.

[17] Schäuble 2017.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert