Was heißt Systemrelevanz?

Im politischen Diskurs hat sich in der Corona-Krise die Unterscheidung systemrelevanter/nicht-systemrelevanter Berufe hierzulande durchgesetzt. Im Zuge des Lockdowns wurde offensichtlich, welche Berufsgruppen und welche Institutionen unverzichtbar sind, um die Gesellschaft am Laufen zu halten. Im Fokus steht pandemiebedingt der gesamte Gesundheitssektor, von Gesundheitsämtern über Krankenhäuser hin zu stationären und mobilen Pflegediensten. Systemrelevant sind in diesem Sinne alle Bereiche der Daseinsvorsorge, die sogenannte kritische Infrastruktur. Die derzeitige Krise macht die Bedeutung von Infrastrukturen, die normalerweise geräuschlos funktionieren, insofern sichtbar und bestätigt somit umgekehrt die These von Bowker/Leigh Star, dass Infrastrukturen „becomes visible upon breakdown“. Zu den Bereichen der Daseinsvorsorge gehört vorrangig die Lebensmittelversorgung (landwirtschaftliche Erzeugung inkl. Spargelstechen (!), Verarbeitung und Vertrieb sowie der Lebensmittelhandel). Aber auch das Transport- und Verkehrswesen, die Abfallwirtschaft, Informations- und Kommunikationstechnik, Energieversorgung, Sicherheit und Katastrophenschutz wie Polizei und Feuerwehr sowie Post- und Paketzustelldienste zählen dazu [i]. „Was heißt Systemrelevanz?“ weiterlesen

Diversitätsprobleme im Expertentum: Die Coronakrise als Kontrastmittel für Schieflagen im Wissenschaftssystem

Führt man sich den Entstehungsprozess der Leopoldina-Stellungnahme vor Augen, den Heike Schmoll in der FAZ inzwischen erläutert hat, fragt man sich, weshalb man sich überhaupt die Mühe einer wissenschaftssoziologischen Analyse gemacht hat, wenn es von Seiten der Autorinnen nur heißt, sie waren selbst erstaunt, dass aus diesem kollaborativen Arbeitsauftrag „ein so vergleichsweise rationaler Text“ ad hoc zustande gekommen ist, selbst wenn er nicht allen internen „Ansprüchen gerecht werden konnte“. Der Politik scheint es so aber ausgereicht zu haben, denn sie ist den Empfehlungen an einer besonders umstrittenen Stelle bekanntlich gefolgt. „Diversitätsprobleme im Expertentum: Die Coronakrise als Kontrastmittel für Schieflagen im Wissenschaftssystem“ weiterlesen

Exit-Strategien. Grenzen wissenschaftlicher Politikberatung

Für heute [i] ist die politische Entscheidung angekündigt, ob der gesellschaftliche Shutdown noch über die bisher vorläufig festgesetzte Frist (19. April 2020) hinausgehen wird. Bundeskanzlerin Merkel wird sich mit den Ministerpräsidentinnen am Nachmittag in einer Videokonferenz über mögliche Lockerungen verständigen. Um die Politik in dieser schwierigen Entscheidung zu beraten, wurde durch den NRW-Ministerpräsidenten und Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) ein eigener 12-köpfiger Expertenrat Corona ins Leben gerufen, um konkrete Exit-Strategien zu entwickeln.

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Medienkonflikte der Wissenschaft: Zur Wissenschaftskommunikation in Zeiten von Corona (Teil 1)

Die Corona-Pandemie wird nicht nur als Paradefall für Wissenschaftskommunikation gehandelt, sondern sie gibt auch einen besonders interessanten Fall für die empirische Wissenschaftskommunikationsforschung ab [i] . Selten waren Wissenschaftlerinnen derart präsent in den Medien wie in der aktuellen Krisensituation. Besonders der Podcast von NDR-Info „Das Coranavirus-Update mit Christian Drosten“ hat sich zum Publikumsmagneten entwickelt. Gestartet Ende Februar 2020, hat der werktägliche Podcast von Beginn an eine enorme Reichweite entwickelt mit inzwischen rund acht Millionen täglichen Downloads. Drosten, Professor und Leiter des Instituts für Virologie an der Charité Berlin, ist hierzulande die Stimme und das Gesicht der Wissenschaft in der COVID-19-Krise. Aber gerade der Hype um seine Person wird, wie er selbst betont, inzwischen zu einer besonderen Bürde. Aus der Medialisierungsforschung sind solche Personalisierungseffekte in der Wissenschaftskommunikation bekannt. Es stellt sich hier die grundsätzliche Frage, ob ein Mehr an Wissenschaftskommunikation nicht auch nichtintendierte Nebenfolgen produziert, die dem Vertrauen in Wissenschaft und damit der Legitimation politischer Entscheidungen eher schaden als nützen.

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Auf unbestimmte Zeit geschlossen. Stimmungsbilder aus dem Kiez

Seit fünf Tagen gelten bundesweit neue Maßnahmen im Umgang mit dem Corona-Virus. Statt eine Ausgangssperre zu verhängen, haben sich Bund und Länder am Sonntag auf ein erweitertes Kontaktverbot verständigt. Geltungsdauer: mindestens zwei Wochen. Seither ist es nur noch erlaubt alleine bzw. höchstens mit einer Person (außerhalb der Familie) nach draußen zu gehen.

#StayAtHome ist und bleibt die Devise, um die Verbreitung des Virus einzudämmen.

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Ausgangssperre – hin oder her?

Es ist Samstag. Die Corona-Krise bestimmt immer stärker unser tägliches Leben. Seit meinem letzten Blogpost vor fünf Tagen hat sich die Zahl der Infizierten hierzulande von 5.813 auf 20.705, die Zahl der am Corona-Virus Verstorbenen von 13 auf 72 erhöht. Eine dramatische Entwicklung der Fallzahlen war vorherzusehen. Anfang letzter Woche wurden deshalb seitens der Bundesregierung weitere Maßnahmen angekündigt, um die dynamische Ausbreitung zu verlangsamen. Neben der bundesweiten Schließung von Kitas und Schulen betrifft dies nun auch die Schließung von Einzelhandelsgeschäften jenseits der Grundversorgung des täglichen Bedarfs (Supermärkte, Apotheken, Poststellen etc.), deren Umsetzung Sache der Länder ist und nun sukzessive erfolgt. In Bayern wurde die Geschäftsschließung auch auf Friseure, Bau- und Gartenmärkte ausgeweitet. In Berlin wurden am Mittwoch die Öffnungszeiten von Restaurants und Gaststätten reduziert auf die Zeit zwischen 6 und 18 Uhr, in Rheinland-Pfalz sind sie ab heute sogar ganz für den Publikumsverkehr geschlossen, Abhol- und Lieferservices bleiben erhalten.

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Gesellschaft unter Spannung. Was kann die Soziologie zur Bewältigung der Corona-Krise beitragen?

Jedes Gespräch, ob privat oder beruflich, ist momentan von einem einzigen Thema dominiert und das ist der individuelle und gesellschaftliche Umgang mit dem Corona-Virus. Der Ausbruch des Corona-Erregers wurde von der WHO inzwischen als Pandemie eingestuft, nach dem ersten Ausbruch in China sind inzwischen offenbar 148 Länder betroffen. Innerhalb der letzten Woche hat sich auch hierzulande die Krisensituation massiv verschärft. Die Gesellschaft steht enorm unter Spannung [i]. Aus diesem Grund weiche ich jetzt von meinem ursprünglichen Schreibplan des Blogs ab, um den Fokus auf die derzeitige Krise und ihre Bewältigung zu richten. Es erfolgt allerdings keine Analyse, sondern zunächst eine Dokumentation der dynamischen Entwicklung der letzten Tage, verbunden mit der offenen Frage: Welches Wissen kann und sollte speziell die Soziologie zur Krisenbewältigung beitragen?

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Das Medium 2.0 ist die Botschaft (2/2)

Bloggen für oder gegen den Ruhm?

Kann sich das Schreiben eines Blogs für eine Wissenschaftlerin lohnen? Aus reputationstaktischer Sicht sicher nicht. Dies ungeachtet dessen, dass in einigen Fächern der Ruf laut wird, ein „digital scholarship“ [i] auszubilden. Hier und anderswo ist es der begutachtete Fachartikel, der auf das Reputationskonto einzahlt. Alles andere, ob Sammelbandbeiträge, aufwändige Rezensionen oder eben Blogbeiträge sind in der Regel nicht peer-reviewed, daher zählen sie (vielerorts) nicht [ii]. Wissenschaftliche Karrierefibeln würden einem daher raten, sie gar nicht erst zu schreiben. Warum aber der standardisierte und begutachtete Aufsatz zum Goldstandard im eigenen Fach zu werden scheint, bleibt in einer Hinsicht rätselhaft. Dafür muss man nur auf die experimentellen Naturwissenschaften schauen, allen voran die Biowissenschaften, in denen die Definitionsmacht bestimmter Zeitschriften über wissenschaftliche Qualität ihren Anfang genommen hat. Mit der globalen wissenschaftlichen Expansion und der Anwendung journalbasierter Indikatoren und Ratings wurde die Was-Frage durch die Wo-Frage abgelöst, „publish-in-top- journals-or-perish“.

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Das Medium 2.0 ist die Botschaft (1/2)

Das Schöne an Blogs ist, dass sie kommunikative Freiräume generieren. Weder Thema, Stil noch Zeichenlänge sind vorbestimmt. Ich kann also schreiben, was und wie ich es will in den kommenden zwei Monaten, in denen ich den SozBlog bespielen darf. Ich muss mich nicht mit rigiden Formatrichtlinien herumschlagen. Kein Verlag und keine Deadlines sitzen mir im Nacken. Einzig das imaginierte Publikum bildet ein Korrektiv, das mein Schreiben in gewisse Bahnen lenkt. Wen dieser Blog tatsächlich erreicht und wie er aufgenommen wird, ist unklar. Das ist und war auch bei gedruckten Publikationen nicht anders. Der Unterschied liegt vielmehr in dem Hervortreten der Person hinter dem Text und der Möglichkeit, mit ihr direkt ins Gespräch zu kommen. Die Haltung der eigenen Fachcommunity Blogs und anderen sozialen Medien gegenüber scheint insgesamt bislang eher zurückhaltend bis skeptisch. Warum eigentlich?

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