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Widerworte gegen das Lob der Videokonferenzen.

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(@Jo Reichertz)
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Themenstarter  

Forschung ist nicht nur unter Coronabedingungen gemeinsames Arbeiten und Kommunizieren mit Anderen.  Auch die Vielen, die (scheinbar) allein über ihren Büchern oder über ihren Daten sitzen, betreiben dann explizit eine kommunikative Konstruktion von wissenschaftlichen Weltdeutungen, wenn sie beginnen, die eigenen Überlegungen mit anderen (Kollegen und Kolleginnen, wissenschaftlichen wie nicht-mitwissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) zu besprechen und zu diskutieren.

Jedoch vor diesem expliziten kommunikativen Mit- und Gegeneinander mit konkreten Anderen findet in der Regel schon vorher eine gedankliche Kommunikation mit anderen Kollegen und Kolleginnen statt; denn während man liest und/oder Daten analysiert, findet man in den Arbeiten anderer oft Parallelen, Widersprüche und Weiterführungen und Kommentare zu dem gerade Gelesenen oder dem gerade Analysierten. Kurz: Auch schon vor dem Gespräch mit anderen findet in Gedanken eine kommunikative Auseinandersetzung über Daten oder Theorien statt.

Sowohl die gedankliche alsauch die explizite Kommunikation sind außerordentlich fruchtbar, und ich bin sicher, dass noch keine wissenschaftliche Entdeckung oder eine gute Idee monologischentstanden ist. Stets sind das eigene Denken und die eigenen Entdeckungen eingebunden in einen gedanklichen oder tatsächlichen, durchaus streitbaren Diskurs mit Kollegen und Kolleginnen, die noch leben, und anderen, die schon vor Jahrhunderten verstorben sind. Wissenschaftlicher Fortschritt basiert deshalb immer auf Dialog, also Kommunikation. Dies hat sich auch zu Coronazeiten nicht verändert. Aber die Bedingungen.

Verändert hat sich nämlich, dass man jetzt Gespräche über das, was einem durch den Kopf geht und was man gerne einmal mit anderen Aug in Aug besprechen möchte, dass all dies jetzt telefonisch oder per Videokonferenz erfolgt bzw. zu erfolgen hat. Letzteres ist wichtig, da verschiedene Hochschul- und Institutsleitungen sehr dringlich darauf hinweisen, dass gemeinsame Forschung in einem Raum vorerst (bis September 2020) nicht möglich sein wird. Dienstliche Besprechungen (und das schließt gemeinsame Forschung mit ein) mit mehr als zwei Personen sollen vorrangig digital durchgeführt werden und nur im Ausnahmefall in Präsenz. Die Vorgaben beinhalten auch, dass die Vorgesetzten die Beschäftigten in ihrem Bereich dazu anhalten müssen, während ihrer Anwesenheit physische Kontakte untereinander auf ein Mindestmaß einzuschränken und die Abstandsregelungen einzuhalten (alle Bestimmungen sind den Vorgaben einer deutschen Hochschule entnommen).

Diese neuen Rahmenbedingungen, die für eine längere Zeit (Monate, Jahre?) den Rahmen des Alltags wissenschaftlicher Zusammenarbeit vorgeben, verändern wissenschaftliche Forschung qualitativ – und nicht nur ein wenig. Auch wenn einem der Zeitgeist in einer solchen Situation gerne zuraunt: „Look at the bright side of life!“ (was angesichts der aktuellen Lage von manchen als Hohn empfunden wird), erscheint es mir angemessen (bevor ich die Not zur Tugend verkläre), auf den Teil wissenschaftlicher Forschung zu blicken, der nicht mehr oder nur sehr schwer möglich ist, wenn wir gemeinsam via Telefon- oder Videokonferenz forschen (wobei es einen großen Unterschied macht, ob man mit mehreren telefoniert oder eine Videokonferenz durchführt).

Allerdings ist allen diesen medialen Formen der kommunikativen Handlungsabstimmung gemeinsam, dass sie einen etwas formaleren Rahmen haben, dass man sich klar verabredet, genaue Zeiten festsetzt für Beginn und Ende, oft auch Protokoll führt oder das Tonband mitlaufen lässt. Obwohl all dies auch bei Forschung unter Anwesenden in der Regel der Fall ist, verändert die höhere Formalität und vor allem der Umstand, dass es kein informelles Vorher und Nachher gibt, die Kommunikationssituation massiv – sowohl für Forschung als auch für die Gruppenintegration (und nur diese beiden Handlungsbereiche will ich hier ansprechen). Denn dieser formellere Rahmen macht es unwahrscheinlicher, dass Halbgares und Informelles zur Sprache kommt. Dass man etwas Noch-nicht-recht-Bedachtes dahinsagt, einfach im und durch Aussprechen ausprobiert, dass man (wie Kleist so treffend erläutert hat) den Gedanken im Sprechen mit anderen langsam verfertigt, all das fällt leicht weg. Dabei wäre es in der Forschung, aber auch in der Betreuung von Studierenden, Promovierenden, Habilitierenden und Projektmitarbeiter*innen so wichtig.

Aber auch die praktische Zusammenarbeit in einem Team ist davon betroffen: Träfe man sich nicht im Netz, sondern statt dessen an einem konkreten Ort, in einem konkreten Haus zu bestimmten Zeiten, dann gäbe es dort immer ein Vorher, ein Nachher und die Pausen dazwischen – alles Gelegenheiten, zwischen Tür und Angel, am Wasserspender, in der Cafete, an der Bar bei einem Glas Wein, Bier oder Brause Informelles kurz anzusprechen und miteinander abzustimmen.

Kurz: Die informelle Handlungsabstimmung, die in allen Organisationen von großer Bedeutung ist, leidet durch Telefon- und Videokonferenzen. Selbst wenn man versucht, in Videokonferenzen das Informelle zu simulieren (durch Pausen und das informelle Gespräch vorher und nachher) wird dennoch wegen des medialen Rahmens, der Aufzeichnungen prinzipiell ermöglicht, das Informelle zum Formellen. Damit verliert das Informelle seine Kraft – sowohl seine innovative wie seine integrierende.

Findige Marktbeobachter haben diese Lücke schnell erkannt und bieten deshalb schon Kurse für ‚digitales Führen von Mitarbeiter*innen im Homeoffice‘ für 119,00 Euro an ( https://www.dashoefer.de/online-seminar/coronavirus-mitarbeiter-im-homeoffice-fuehren.html?wa=MA-15550&utm_source=PC9-MANA_XS-AM-CHO&utm_medium=cem&utm_campaign=MA-15550). Allerdings fehlen noch preisgünstige Kurse für die andere Seite – nämlich Kurse für digitales Geführtwerden – was auch nicht so einfach ist.

Telefon- und Videokonferenzen sind jedoch keine Lösung für gemeinsames Forschen und Teamintegration zu Coronazeiten, sondern sie sind nur Krücken. Deshalb sollte man m.E. in nächster Zeit nicht alle seine Chips auf digitale Handlungsabstimmung setzen, sondern auch und verstärkt nach nicht-virtuellen Räumen suchen, in denen gemeinsame Forschung und Gruppenintegration leichter möglich sind. So kann man sich (zum Glück kommt der Sommer) auch in Außenanlagen, auf dem Campus, in Parks, auf Wiesen und in Gärten treffen – also überall, wo mehr Platz und Luft ist, aber dennoch Begegnung. Man kann aber auch gezielt in der Universität oder im Institut nach größeren Seminar- oder Vortragräumen suchen, die man zu Arbeitsräumen umbauen kann, in denen hinreichend Abstand gehalten und zugleich gemeinsam gearbeitet werden kann. All das wird nicht immer und nicht für alle Zwecke gehen, aber es verbessert das Klima für gute und effektive Zusammenarbeit. Zumindest ein wenig.


   
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