von Nele Dittmar
Aufhänger für die Ad Hoc-Gruppe „Selbständiger Erwerb im digitalen Kapitalismus“ auf dem DGS-Kongress war die Frage, ob und wie sich das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie (z.B. von Vorgesetzten) und Abhängigkeiten (z.B. von Marktzwängen), das für solo-selbstständige Erwerbsarbeit prägend ist, im „digitalen Kapitalismus“ verändert. Welche Rolle spielen die großen Plattformunternehmen, die mit Philipp Staab als „proprietäre Märkte“ begriffen werden können? Welchen Einfluss haben Formen und Techniken der Arbeitsorganisation, die mit dem Begriff „digitaler Taylorismus“ belegt werden? Dabei sollte Selbstständigkeit (bzw. im Kontext der Ad hoc-Gruppe: Solo-Selbstständigkeit) aber nicht nur als eingebettet in den Markt oder in Märkte, sondern auch in „Kultur“ und „Haushalt“ begriffen werden. Entsprechend wurden die sechs Vorträge der Session gruppiert.
Zunächst setzte sich Christopher Grieser von der TU Berlin mit dem Begriff der „Plattform“ auseinander. In der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion ist der Plattformbegriff zwar allgegenwärtig, er bleibt jedoch theoretisch unzureichend ausgearbeitet. Es lassen sich zwei Stränge in der Forschung identifizieren, in denen einerseits Plattformen als Markt-Intermediäre gesehen werden, andererseits als technische Infrastruktur. Ausgehend von der empirischen Beobachtung, dass Plattformen immer weniger nur als eine dieser beiden Varianten auftreten, entwickelte Grieser seinen eigenen Begriff von Plattformen als infrastrukturzentrierte, zentral organisierte Märkte. Dabei wird die Infrastruktur durch die Plattform kontrolliert und deren Nutzung ist zentral für die Marktteilnahme. Als Infrastruktur werden kollektiv nutzbare, sozio-technische Ressourcen verstanden. Die Integration der Dimensionen „Markt“ und „Infrastruktur“ erlaubt es, verschiedene Plattformen mit einem Konzept in den Blick zu bekommen und in einem Koordinatensystem gemäß dem Grad der Infrastrukturorientierung und dem Grad der Marktorganisation einzuordnen. Sei beides besonders stark ausgeprägt, komme das in den Blick, was Staab als „proprietärer Markt“ bezeichnet. Als letztes beleuchtete Grieser Implikationen für selbstständige Erwerbsarbeit auf Plattformen in den beiden Dimensionen „Markt“ und „Infrastruktur“. „Plattformarbeit“ biete niedrige Einstiegshürden (aufgrund geringer Transaktionskosten und dem Zugang zu sozio-technischen Ressourcen), führe zu einer Homogenisierung von Kreativ-Erzeugnissen (über algorithmisch erzeugte Bewertungen und eine vereinheitlichende Tendenz der Technik) und verringere die Autonomie Selbstständiger durch mehrfache Plattformabhängigkeit (aufgrund der Nachfrageaggregation durch Plattformen und der Abhängigkeit von Plattformressourcen).
Im zweiten Vortrag beleuchteten Dominik Klaus (Universität Wien) und Johanna Hofbauer (Wirtschaftsuniversität Wien) ein neu entstehendes „digitales“ Tätigkeitsfeld: die virtuelle Assistenz. Eine virtuelle Assistenz bietet – selbst solo-selbstständig – organisatorische und administrative Dienstleistungen (z.B. E-Mails sortieren, Präsentationen vorbereiten) für fast ausschließlich ebenfalls solo-selbstständige Kund*innen an. Bei der virtuellen Assistenz handelt es sich um ein feminisiertes Arbeitsfeld, oft wird die Tätigkeit als Neben- oder Brückentätigkeit ausgeführt und noch besteht ein unklares Kompetenzprofil. Wie bei anderen selbstständigen Tätigkeiten gestaltet sich z.B. die Grenzziehung zwischen „Arbeit“ und „Leben“ schwierig. Klaus und Hofbauer beschrieben das neue Feld anhand einer ersten Typisierung der Arbeitenden: virtuelle Assistenzen des ersten Typs – „reisend arbeiten“ – verdienen sich quasi am Strand ein wenig dazu. „Vereinbarkeitsorientiert arbeiten“ vor allem Mütter mit Sorgeverpflichtungen. „Karriereorientiert arbeiten“ schließlich diejenigen, die mit einer höheren Arbeitsauslastung und eigenen Spezialisierungen arbeiten, sowie ihrerseits schon „Ausbildungsangebote“ für virtuelle Assistenzen anbieten. Innerhalb des Feldes lassen sich – mit Blick auf die gebildeten Typen – Distinktionsversuche beobachten, die vor dem Hintergrund von Befürchtungen einer Entwertung des „Berufs“ und einer verstärkten Preiskonkurrenz zu sehen sind.
Die nächsten beiden Beiträge thematisierten unterschiedliche Formen der Solo-Selbstständigkeit im Online-Raum, bei denen insbesondere Entgrenzung und Grenzziehungen zwischen „Öffentlichem“ und „Privatem“ eine Rolle spielen. Fabian Hoose und Sophie Rosenbohm vom IAQ an der Universität Duisburg-Essen beschäftigten sich mit der digitalen Solo-Selbstständigkeit von (Video-)Blogger*innen. Sie gingen insbesondere den Fragen nach, welche Motive für und Ansprüche an ihre Tätigkeit (Video-)Blogger formulieren und ob bzw. wie Plattformregeln ihre Arbeitspraktiken beeinflussen. Als Antriebsfedern, der Tätigkeit zum Erwerb nachzugehen, sehen die Blogger*innen die Möglichkeit, selbstbestimmt und ohne Chef*in zu arbeiten, einer kreativen Tätigkeit nachzugehen und etwas für eine Community zu tun, die auch direkt Feedback gibt. Diesen Motiven der individuellen Freiheit und Selbstverwirklichung stehen allerdings Abhängigkeiten gegenüber: einerseits sind auch die (Video-)Blogger*innen mit den „klassischen“ Herausforderungen Solo-Selbstständiger konfrontiert, wie der Entgrenzung von Arbeit und Leben und fehlender sozialer Absicherung. Hinzu kommen spezifische Abhängigkeiten durch Plattformen und ihre Algorithmen. Beispielsweise zwingen die Empfehlungsmechanismen auf Plattformen dazu, „Inhaltskonjunkturen“ zu befolgen und sie verlangen regelmäßige Aktivität. Hinzu kommen Ansprüche der „Community“, die zum Beispiel die permanente Verfügbarkeit „ihrer“ Blogger*innen erwartet, und eine schwierige Grenzziehung zwischen dem, was öffentlich gemacht wird und dem, was privat bleiben soll. Um diesen Abhängigkeiten zu entkommen, so ein Fazit der Präsentierenden, sehen einige (Video-)Blogger*innen ihre Tätigkeit nur als Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung ihrer Selbstständigkeit.
Der zweite Vortrag in diesem Block von Simone Schneider (University of Cambridge) befasste sich mit der digitalen Solo-Selbstständigkeit von „adult webcam performers“. Hierbei geht es um die Arbeit meist weiblicher Sexarbeiter*innen im Internet, angeboten auf Plattformen, die für ihre Vermittlungsleistung einen (recht großen) Teil der Einnahmen der Sexarbeiter*innen erhalten. Diese Arbeit ist prekär, zum Beispiel aufgrund wechselnden Einkommens, die Sexarbeiter*innen werden aber insbesondere mit dem Versprechen großer Autonomie bei der Arbeit geworben. Schneider arbeitete in ihrem Vortrag die Grenzziehungsarbeit der Sexarbeiter*innen um die Aspekte „intimacy“ und „authenticity“ heraus. Beides werde von den Kund*innen eingefordert, so dass die Sexarbeiter*innen vermitteln müssten, ihre Tätigkeit gerade nicht als Arbeit zu verstehen, auch wenn sie selbst davon leben. Gleichzeitig versuchen sie die Grenze zu ihrem Privatleben aufrechtzuerhalten bzw. in ständiger Grenzarbeit neu zu ziehen. Besonderheiten der digitalen Sexarbeit sieht Schneider insbesondere in dieser Dynamik der Grenzarbeit und der Online-Offline-Grenze. Intimität und Authentizität können „angeboten“ werden, solange sie im Online-Raum verbleiben. Dieses Angebot birgt aber gleichzeitig die Gefahr, dass die Kund*innen ihrerseits versuchen, die Online-Offline-Grenze zu durchbrechen. Ein Risiko, für dessen Management die Sexarbeiter*innen selbst verantwortlich sind. Neben mangelnder Unterstützung seitens der Plattformen seien die „digitalen“ Sexarbeiter*innen im Gegensatz zu „analogen“ besonders vereinzelt.
Die letzten beiden Vorträge befassten sich – so könnte man zusammenfassen – mit Integration und Teilhabe über plattformvermittelte Arbeit. Iris Nowak und Wiebke Frieß von der Universität Hamburg stellten erste Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zum Thema „Teilhabe durch Crowdworking“ vor. Das Projekt geht der Frage nach, wie Personen mit erschwerter Partizipation am Erwerbsleben – konkret: Menschen mit Beeinträchtigungen, Sorgeverpflichtungen und aus strukturschwachen Regionen – über Crowdwork Teilhabechancen eröffnet werden könnten. Crowdwork wird als komplett online erbrachte Tätigkeit definiert. Obwohl verschiedene Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, lässt sich sagen, dass Crowdwork zurzeit in Deutschland noch nicht sehr verbreitet ist. Darüber hinaus gibt es kaum Studien zu Crowdwork und Menschen mit geringeren Partizipationsmöglichkeiten am Erwerbsleben. Es lassen sich aber einigen Annahmen formulieren, inwiefern Crowdwork für diese Menschen Chancen auf Teilhabe bietet: beispielsweise durch die Flexibilität von Ort und Zeit bei Crowdwork, den Wegfall des Arbeitswegs, die Nicht-Sichtbarkeit des Körpers oder die nicht-verbale Kommunikation. In der Praxis zeigt sich allerdings, dass diese theoretischen Vorteile so nicht zum Tragen kommen. Es bestehen zum Beispiel technische Zugangs- und Nutzungshürden und die große Flexibilität der Arbeit ist beispielweise nicht vorteilhaft für viele Menschen mit psychischen Einschränkungen. Die Präsentierenden folgern, dass auch Crowdwork strukturell an einer/m gesunden „Normalarbeiter*in“ ohne Sorgeverpflichtung orientiert sei. Gleichzeitig zeigen erste Erhebungen des Projekts, dass insb. Menschen mit Beeinträchtigungen beim Crowdwork überrepräsentiert sind und auch ihre Beeinträchtigung als Grund für ihre Tätigkeit „in der Crowd“ angeben.
Als letzte präsentierte Jasmin Schreyer von der Universität Stuttgart ihre Ergebnisse aus Untersuchungen im Bereich der Essenlieferdienste. In ihrem Vortrag „Solo-selbstständige Erwerbsarbeit: Monopole versus Kooperative“ verglich sie die Plattform Foodora (mittlerweile in Lieferando aufgegangen) mit der Kurier-Kooperative „Crow“. Den Grundprinzipien von Plattformorganisationen (Organisation, Partizipation, Technik) stellte sie die Grundprinzipien von Kooperativen gegenüber. Dem Prinzip der Identität gemäß sind die Arbeitenden auch die Eigentümer. Das Prinzip Demokratie wird verwirklicht über den Grundsatz: ein Mitglied – eine Stimme. Das Prinzip „Förderung/Subsistenz“ zielt auf ein Einkommen zur Reproduktionssicherung. Ein großer Unterschied zwischen Foodora/Lieferando und der Kooperative ist in der Rolle der Technik zu sehen. Während im ersten Fall Technik als Macht- und Disziplinierungsinstrument eingesetzt wird und die Kommunikation mit den „Riders“ (fast) ausschließlich digital abläuft, bildet die App im Falle der Kooperative nicht den zentralen Koordinationsmechanismus, vielmehr wird diese menschlichen Dispatchern überlassen. Außerdem wird im Fall der Kooperative das Risiko der Erwerbsarbeit zum Teil wieder von den einzelnen Riders in das Kollektiv verlagert, was aber auch mit dem Druck einhergeht, sich dort ständig aktiv einzubringen. Damit zeigte sich auch bei diesem Beispiel „digitaler“ Solo-Selbstständigkeit die Problematik (die im Feld aber nicht als solche empfunden wird) der Verwischung der Grenze zwischen Arbeit und Leben. In der Diskussion zu beiden Beiträgen wurde aufgeworfen, dass das integrative Prinzip der Kooperative selbst ausschließend wirken kann, weil Menschen mit anderen Verpflichtungen (z.B. Sorge für andere) die Teilhabe daran erschwert sein könnte.
Abschließend strich Isabell Stamm drei Konfliktlinien heraus, die selbstständige Erwerbsarbeit im digitalen Kapitalismus zu prägen scheinen: Autonomie steht besonderen Abhängigkeiten gegenüber, in vielen Fällen steht die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit unter (Aushandlungs-)Druck und den an „gute Arbeit“ gestellten Ansprüchen und Erwartungen steht oft Prekarität gegenüber.
Die Ad Hoc-Gruppe „Selbstständiger Erwerb im digitalen Kapitalismus“ wurde organisiert von Andrea Bührmann, Lena Schürmann und Isabell Stamm und war eine Veranstaltung des Arbeitskreises „Die Arbeit der Selbstständigen“ der DGS-Sektion Arbeits- und Industriesoziologie.
Ein Gedanke zu „Ad Hoc-Gruppe: Selbständiger Erwerb im digitalen Kapitalismus und seine Einbettung in Markt, Haushalt und Kultur am 21.9.2020“
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