Nische und Mainstream

Es gibt Menschen in unserer Gesellschaft, für die Ernährung und Landwirtschaft ein wichtiges Thema ist. Das geht nicht nur so weit, dass diese es bereits als eine politische Handlung auffassen, sich anders zu ernähren wie zum Beispiel vegan oder rohköstlich. Auch wird dem gesamten globalen Ernährungssystem (auch Agri-food-System genannt) diagnostiziert, sich in einer Krise zu befinden. Auf der anderen Seite gibt es ebenfalls Menschen in unserer Gesellschaft – unter ihnen auch Soziolog/innen -, die von dieser globalen Krise noch nie etwas gehört haben. Weder nehmen sie die Fast-Foodisierung als Krise wahr, noch die Demonstrationen unter dem Slogan „Wir haben es satt“, die jährlich im Januar aus Anlass der Grünen Woche in Berlin mit jeweils mehreren 10.000 Teilnehmer/innen stattfinden. Die Leute selbst, sind also unterschiedlicher Meinung darüber, was soziale Wirklichkeit ist und was nicht und wie sie zu bewerten sei.

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Die Sehnsucht nach der perfekten Dyade

Zum Valentinstag 2016 gab Eva Illouz in einem Essay in der Tageszeitung Haaretz den Rat, man möge doch statt der Liebesbeziehung zu huldigen lieber Freundschaften feiern. Sie argumentiert dabei folgendermaßen: Liebe – im Gegensatz zu Freundschaft – ist an ekstatische Gefühle gebunden, deren Grundlagen – seien diese (neuro-)biologisch, (neuro-)psychologisch, sozial konstruiert oder all dies gleich- und wechselseitig – zur Unkontrollierbarkeit neigen, zur Obsession. Dabei, so Illouz, sei eine gewisse Dringlichkeit zu beobachten, etwa wenn wir die andere Person begehren, berühren wollen und uns dafür in Autos und Züge setzen, das Land verlassen und den Schlaf vergessen. Diese führe final zu Schmerz. Der Schmerz orientiert sich in der Ausdrucksform am Status der eingegangenen Liebesbeziehung. Zu Beginn äußere er sich in Unsicherheit, dann in Eifersucht, zuletzt bestehe immer die Gefahr der Trennung. Illouz wünscht sich daher eine höhere Wertschätzung der Freundschaft, schließlich sei sie frei von Eifersucht, von Tragödie und böte sich damit auch nicht zur lächerlichen Darstellung in Komödien an. Freundschaft – so Illouz‘ kritischer Schluss – sei kapitalistisch nicht verwertbar: „friendship is a feeling experienced in freedom“. Nun ist Illouz nicht die einzige, die sich mit dem Spannungsfeld zwischen Liebe – ob romantisch oder partnerschaftlich – und Freundschaft beschäftigt und sich auf die eine oder andere Seite schlägt. Häufig essayistisch wird mal die Lebensweise als Single einem dichten Netzwerk aus Freundschaftsbeziehungen beschworen, wird thematisiert, wie sich aus Freundschaft endlich Liebe entwickelt oder Konflikte zwischen Freundschaft und Liebe beschrieben. Aber sind die Beziehungsformen wirklich so konträr? Wo sind aus soziologischer Perspektive nun also die Unterschiede, wo die Gemeinsamkeiten? „Die Sehnsucht nach der perfekten Dyade“ weiterlesen

Der zweite Eindruck: Soziale Ungleichheit und die Diskursforschung

Nach einer Mittagsvorlesung über die Entwicklung der Einkommensverteilung in den USA fand eben der Workshop „‚Überflüssige‘, ‚Prekariat‘, ‚Hartzer’… Zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit(-soziologie) und Diskurs(-forschung)“ statt. In vier Vorträgen loteten die Vortragenden an unterschiedlichen Empirien aus, inwiefern sich die Diskursforschung eignet, die Konstruktion von Ungleichheit in den Blick zu nehmen und welche Rolle die Soziologie bzw. die Sozialwissenschaften für die Genese von Gruppen, die sie dann beobachtet, besitzen. Ein Disclaimer: kritisch und nörglerisch wird mein Fazit nicht ausfallen, da ich eine der Organisatorinnen der Gruppe (gem. mit Paula-Irene Villa) bin und dementsprechend für die Themenwahl und die Auswahl der Beiträge verantwortlich.

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Kommentiert! (Weshalb ein Blog kein Oberseminar ist)

Bevor ich in den kommenden Beiträgen wieder zu soziologischen Beobachtungen komme, ist es mir ein Anliegen, noch einen weiteren Meta-Artikel abzusetzen. Und zwar zum Thema der Nichtnutzung der Kommentarfunktion aus Gründen der Zurückhaltung.

Ich selbst bin eine passive Blogleserin. Ich kommentiere selten und noch seltener schreibe ich mehr als eine Zeile Kommentar. Artikel, die mir gefallen, empfehle ich via Facebook oder Twitter weiter. Über Artikel, die mir missfallen, ärgere ich mich still oder lästere darüber in Personal Messages mit Freund*innen. Daher habe ich mich sehr über die vielen Kommentare, die ich bekomme, gefreut. Die Kommentarsituation ist aufregend, weil es schnelles Feedback gibt und ich mit Leuten diskutieren kann, deren theoretischen und praktischen Hintergrund ich nicht kenne, mit denen ich ohne diesen Blog vielleicht nie ins Gespräch gekommen wäre. Manche Menschen schreiben so bedacht und aufwändig, dass sie Stunden dafür gebraucht haben müssen. Das ist ein großes Geschenk. Ich war also von Anfang an sehr glücklich mit „meinen“ Kommentator*innen und habe mir gar nicht weiter Gedanken dazu gemacht…

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Frische Lebensmittel. Qualitätskonventionen und die Organisation der Kühlkette in den USA, Deutschland und Asien

Essen kann verderben oder durch zu lange Lagerung Keime und Bakterien ansetzen, so dass Menschen beim Verzehr krank werden. Dies zu vermeiden, ist ein Grundproblem, mit dem Lebensmärkte historisch schon immer zu kämpfen hatten. So unterscheiden sich die USA, Europa und Asien grundsätzlich in den Qualitätskonventionen (Diaz-Bone/Salais 2012; Bessy 2012; Diaz-Bone 2012; Kädtler 2012), was „frische Lebensmittel“ sind, und entsprechend sind Produktionsketten komplett unterschiedlich organisiert, um Hygiene sicherzustellen und das Verderben von Nahrungsmitteln zu vermeiden.

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Lebensmittel einkaufen. Vertrauen, Konsum und moderne Gesellschaft in Deutschland und Asien

In Deutschland kaufen heute die meisten Verbraucher ihre Lebensmittel im Supermarkt oder in sog. Betrieben des „Außer-Haus-Konsums“, also Gaststätten, Imbissbuden und Kantinen. Produziert wird unser Essen in industrieller Massenproduktion in komplexen, differenzierten, globalisierten Produzenten-Zulieferer-Ketten. Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Blick nach Asien, und ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt, dass unser Konsumverhalten ein relativ neues Phänomen ist. „Lebensmittel einkaufen. Vertrauen, Konsum und moderne Gesellschaft in Deutschland und Asien“ weiterlesen

Unternehmen, die es nicht geben dürfte (2): Die Privatmolkerei Bauer

Nicht nur der Erfolg der Firma Müller-Milch, auch der Erfolg der Privatmolkerei J. Bauer GmbH & Co. KG[1] lässt sich mit der neoklassischen Theorie nicht erklären – allerdings aus völlig anderen Gründen als bei Müller. Die Firma Bauer hat nämlich in den ersten hundert Jahren ihrer Firmengeschichte keine Werbung gemacht – sich also aus Perspektive der Lehren des modernen Marketing geweigert, direkt mit ihren Kunden zu kommunizieren und sie so mit Informationen zu versorgen. Dennoch war sie in den 1980ern einer der Marktführer auf dem Joghurt-Markt.

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Nicht jeder isst das Gleiche, oder: Verbrauchertypen und Esstypen

Wie bereits in der Diskussion über den Zusammenhang von Geschlecht, Milieu und Konsum angedeutet, sind nicht alle Verbraucher gleich – „den Konsumenten“ gibt es also nicht. Dennoch lassen sich oft in bestimmten Kulturkreisen, sozialen Milieus, ethnischen, Alters- oder Geschlechtergruppen typische Muster des Konsums identifizieren.

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Qualitätskonventionen auf dem Milchmarkt

Ökonomische Konventionen sind nicht nur lokal unterschiedlich, sie unterscheiden sich auch innerhalb eines Marktes für bestimmte Marktsegmente – und sind damit ein wesentliches Mittel, um das sog. Koordinationsproblem (Beckert 2007) zu lösen: Aufgrund der Differenzierung der Produktionskette in Zulieferer, Produzenten, Handel und Konsumenten stellt sich die Frage, wie diese Komplexität gehandhabt und die Marktteilnehmer so koordiniert werden können, dass eine Aufrechterhaltung der Wertschöpfungskette möglich ist. Wie etwa findet ein Verkäufer den richtigen Käufer? Wie wird die richtige Menge produziert?

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Praktiken des Haareschneidens. Verankerung von Wissen in ökonomischen Konventionen auf dem Friseurmarkt

Auf allen modernen Märkten ist Wissen ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Die Schwierigkeit besteht nicht nur darin, das Wissen weiterzugeben (denn nicht Alles, was es über ein Produkt zu wissen gibt, steht in Büchern), sondern auch darin, die hochdifferenzierte Produktionskette aufrechtzuerhalten. So ist etwa die Herstellung eines eigentlich so simplen Produkts wie des Joghurts mittlerweile so komplex wie die eines Autos, und es stellt sich die zusätzliche Frage, wie man die Produktion über viele verschiedene Firmen und noch dazu große Distanzen hinweg organisiert, ohne den Überblick zu verlieren.[1]

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Wissen und Markt

Wissen ist heute ein bedeutender Wettbewerbsfaktor. Wissen bedeutet nicht nur „Wissensvorsprung“ (und die damit verbundenen Innovationen), sondern auch das Wissen darum, wie man die Differenzierung moderner Märkte handhabt. Insgesamt lässt sich im Ernährungsbereich im Bereich des Wissens eine Verschiebung der erforderlichen Wissensbestände weg vom Verbraucher hin zu „Experten“ insbesondere im Bereich der Produktion beobachten.

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Unternehmen, die es nicht geben dürfte (1): Müller-Milch

In den Blog-Beiträgen dieser Woche über das Verhältnis von Politik und Wirtschaft, Lobbyismus und Machtspiele auf Märkten habe ich argumentiert, dass auf Märkten auch noch andere Faktoren eine Rolle spielen als den in der Neoklassik postulierten Preis- und Qualitätswettbewerb. So dürfte es etwa die Molkerei Alois Müller GmbH & Co. KG, den Hersteller von beliebten Produkten wie „Müllermilch“, „Joghurt mit der Ecke“ und „Froop“, laut Neoklassik nicht geben – oder zumindest dürfte er nicht so erfolgreich sein.[1]

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Konsumgütermärkte als komplexe Interaktionsketten. Ein Zwischenfazit

Anfang März hatte ich mir das Ziel gesteckt, meine Zeit auf diesem Blog einerseits zu nutzen, um verschiedene Textformate auszuprobieren, andererseits in dieser Zeit (im Sinne der „Public Sociology“, die Soziologie als Krisenwissenschaft deutet, die Deutungsangebote bereitstellt) ein aktuelles Thema herauszugreifen und zu diskutieren. Da ich selbst mich sehr stark für Märkte interessiere, habe ich angesichts der Lebensmittelskandale der vergangenen Monate den Lebensmittelmarkt als konkretes Beispiel einen Konsumgütermarkt ausgewählt, mit der Absicht, einen Beitrag zu dem Versuch leisten, moderne (Lebensmittel-)Märkte und die Risikoproduktion auf diesen Märkten besser verstehen. Da ich jetzt ungefähr bei der Hälfte meiner Schreibzeit angekommen bin und am Montag (zumindest hier in Berlin) die Vorlesungszeit anfängt, ist dies ein guter Zeitpunkt, um ein Zwischenfazit zu ziehen: Was habe ich bisher gemacht? Wie ordnen sich die bisherigen Beiträge in das Gesamtgefüge ein? Und was plane ich noch, in den nächsten Wochen zu schreiben?

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Grenzen inmitten der Stadt einziehen. Die Konstruktion des Heiligen im öffentlichen Raum

Laut Georg Simmel gehört zu den Eigenheiten der modernen Gesellschaft ihre Ambivalenzglobale Trends gehen mit lokalen Besonderheiten einher. Ein Beispiel für solche lokalen Beharrlichkeiten ist der thailändische Buddhismus. Wie überall, verliert die Religion im Zuge der Modernisierung auch in Thailand auf den ersten Blick an Bedeutung. Sie verschwindet (scheinbar) aus dem Alltag und wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt – räumlich symbolisiert dadurch, dass der moderne Mensch in Großstädten wie Bangkok lebt, während der Mönch klassischerweise in Klöster in Wäldern und Bergen abseits jeglicher Zivilisation pilgert und sich dort zurückzieht. Diese Pilgerschaften werden neuerdings zurück in den öffentlichen Raum inmitten der Stadt geholt – wodurch sich die Frage stellt, wie man in einer modernen Metropole die Grenzen zwischen Heiligem und Profanen zieht.

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Spielende Chinesen, oder: Sich von der Wirklichkeit überraschen lassen

Ich habe gestern geschrieben, dass ich – anders als Volker H. Schmidt – nicht sicher bin, ob wir es in Asien mit denselben Modernisierungstendenzen wie in Europa zu tun haben, oder ob verschiedene asiatische Regionen eigene Entwicklungspfade beschreiten. Wie immer in der empirischen Sozialforschung besteht die Gefahr, das zu sehen, was man sucht, weshalb ich dafür plädiert habe, dass wir erst einmal viel genauer auf Details zu achten und sich ggf. von der Wirklichkeit überraschen zu lassen. Ein Beispiel für ein solches Überraschungserlebnis ist das in Deutschland medial vermittelte Bild vom ernsthaften, betriebsamen und ständig arbeitenden Chinesen. Schaut man genauer hin, stellt man fest, dass die Chinesen (auch) ein sehr verspieltes Volk sind.

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