Prekarisierung Unbound? Über alte und neue Ungleichheiten und prekäre Allianzen. Ein Intro

In knapp zwei Wochen liegen die Semesterferien vor uns und danach steht schon – diesmal unter dem Zeichen der Krise – der 37. DGS-Kongress an. Für die kommenden zwei Sommermonate kommt uns die Ehre zu, das Ruder für den DGS-Blog zu übernehmen und auch wir möchten die Gelegenheit nutzen, einige Gedanken zu Krisen zu formulieren.

In der Geschlechter- und Ungleichheitsforschung verortet, beschäftigen wir uns mit vielfältigen Phänomenen, die als krisenhaft oder in der Krise befindlich wahrgenommen werden – angefangen mit der Krise der Erwerbsarbeit über die Krise des männlichen Ernährermodells, die (globale) Reproduktionskrise, die Krise der europäischen Migrationspolitik bis hin zur Krise des Kapitalismus. Der Krisenbegriff scheint – wenngleich ein schillernder Begriff – gegenwärtig geradezu in der Luft zu liegen. Dies mag auch den Erfolg des französischen Ökonomen Thomas Piketty mit erklären, der Bestseller-Listen mit der These anführt, dass der Kapitalismus ungerecht sei und per definitionem Krisen hervorruft.

In unseren Überlegungen, die wir im Juli und August zur Diskussion stellen, nehmen wir jedoch auf einen anderen Begriff Bezug, der in enger Verwandtschaft zum Krisenbegriff steht und auch ähnlich schillernd ist: Es soll um Prekarisierung gehen und damit um ein Konzept, über das in der Soziologie im vergangenen Jahrzehnt eine stärkere theoretische und empirische Auseinandersetzung stattfand. Um die eben erwähnte Assoziationskette auf Prekarisierung zu übertragen, lässt sich etwa anführen, dass Erwerbsarbeit prekär geworden ist und das eng mit ihr verbundene männliche Ernährermodell erodiert, das wiederum die geschlechterdifferente Zuweisung von Männern in die Erwerbssphäre und von Frauen in die Sphäre der Haus- und Fürsorgearbeit zur Grundlage hat. Diese Prekarisierungsprozesse und ihre unterschiedlichen Schwerpunkte stehen in den kommenden Blog-Einträgen im Zentrum, weswegen sie hier nur kurz angedeutet werden.

Zunächst bleibt festzuhalten, dass zu dem heute prekär gewordenen Normalarbeitsverhältnis (NAV) niemals alle Menschen Zugang hatten. Von seinen Privilegien ausgenommen waren vor allem Frauen, die oft auf die Reproduktionssphäre verwiesen waren (und häufig noch sind). Auch die Arbeitsbedingungen von Migrant_innen entsprachen häufig nicht dem NAV, zudem waren und sind sie oft rechtlichen Restriktionen und vielfältigen weiteren Diskriminierungen ausgesetzt. Wie wir in unserem nächsten Blog-Eintrag ausführen, werden Menschen auf der Flucht in eine prekäre Lebenslage gedrängt, weil ihnen kein Recht auf Asyl gewährt wird und viele im ersten Jahr ihres Aufenthalts sogar unter Arbeitsverbot stehen. Das männliche Ernährermodell hat des Weiteren kaum Relevanz für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, da es auf der Norm der Heterosexualität basiert. Prekarisierung ist vor diesem Hintergrund also kein neues Phänomen – neu ist aber durchaus, dass auch (heterosexuelle, weiße) Männer häufiger als früher prekär in Erwerbsarbeit eingebunden sind.

Neben dem Verlust männlicher Privilegien in der Erwerbssphäre zeichnet sich gegenwärtig für einige Frauen, für einige Migrant_innen und für einige nicht-heterosexuelle Lebensgemeinschaften die Tendenz ab, dass ihre Ungleichheiten auch als Ungerechtigkeiten wahrgenommen werden. Für sie werden politische Maßnahmen lanciert, die sich an Gleichheit orientieren. Auch hier nur in aller Kürze: Durch etablierte Instrumente wie Gender Mainstreaming oder die in Betracht gezogene Einführung einer Frauen-Quote sollen vielfältige Benachteiligungen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt abgebaut werden. Mit dem Schengener Abkommen gilt für eine ausgewählte Gruppe von Migrant_innen auch in Deutschland das Prinzip der Freizügigkeit. Geichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, die in einer sogenannten Eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, werden in jüngster Zeit, wohlgemerkt von der Tendenz her, der Ehe gleichgestellt, auch wenn sie noch von zentralen Rechten, etwa dem vollen Adoptionsrecht, ausgenommen sind.

Diese Tendenzen der Gleichheit vollziehen sich aber mit erheblichen Ausschlüssen: Bei genauer Betrachtung sind es vor allem (gut qualifizierte) erwerbstätige Frauen, die in den Genuss sozialpolitischer Privilegierungen kommen (dafür steht etwa die Einkommensersatzleistung Elterngeld), während erwerbs- und arbeitslose Frauen aus der Grundsicherung fallen können, weil sie mit dem Rechtskonstrukt der Bedarfsgemeinschaft auf die Unterstützung ihrer Familien verwiesen werden. Für Migrant_innen zeichnet sich Gleichheit in Bezug auf ihren rechtlichen Zugang zum Arbeitsmarkt nur ab, wenn sie EU-Staatsbürger_innen sind. Aber auch hier muss erwähnt werden, dass etwa unter dem Stichwort der „Armutsmigration“ gegen Einwanderer_innen aus den EU-Ländern Bulgarien und Rumänien medial und politisch Stimmung gemacht wird. Für Angehörige sogenannter Drittstaaten gelten erhebliche Restriktionen im Zugang zu öffentlichen Gütern und zum Arbeitsmarkt, sie werden geradezu in irreguläre Beschäftigung gedrängt. Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften werden nur partiell anerkannt: wenn sie sich dem Lebensmodell der bürgerlichen Kleinfamilie nähern. Andere queere Gemeinschaften des Zusammenlebens haben keinen Zugang zu den neuen Rechten.

In aller Kürze lässt sich also eine paradoxe Gleichzeitigkeit festhalten: Einerseits zeichnet sich mehr Gleichheit ab, andererseits bestehen viele Ungleichheiten, die u.a. mit dem Ernährermodell etabliert wurden, für bestimmte Gruppen fort und es sind auch neue hinzugekommen oder haben sich verschärft. So weit – so unübersichtlich.

Diese Gleichzeitigkeit aus Tendenzen der Gleichheit und neuen und alten Ungleichheiten wird begleitet von einem Diskurs, der sich ungleichheitsverleugnender Rhetoriken bedient – und der als Anti-Genderismus bezeichnet wird.

Positionen dieses Diskurses haben häufig gemein, dass sie die Geschlechterforschung als Feindbild und Motor allen Übels aufbauen. So wird der Geschlechterforschung unterstellt, sie habe eine neue männerfeindliche Herrschaft etabliert. Zudem wird sie als Anti-Wissenschaft inszeniert, ihr fehle es an Wissenschaftlichkeit. Nachzulesen lässt sich dies beispielhaft beim Zeit-Kolumnisten Harald Martenstein, der im Juni 2013 den programmatischen Artikel Schlecht, Schlechter, Geschlecht publizierte. Nachgelesen werden kann aber auch eine Replik von Paula-Irene Villa und Sabine Hark, die auf dem kommenden DGS-Kongress zudem eine Ad-Hoc-Gruppe zum Anti-Genderismus veranstalten.

In diesem Becken schwimmen aber durchaus sehr unterschiedliche Fische. Auch wenn sich nicht alle anti-genderistischen Positionen nur auf „gender“ beziehen, ist ihnen in der Regel das Stilmittel des Tabubruchs gemein: „Man wird ja noch einmal sagen dürfen“, so lautet häufig ihr Refrain. Mit viel Furore wird behauptet, dass man in Deutschland von Sittenwächtern der politischen Korrektheit zurückgepfiffen wird, wenn man den Mut aufbringt und „Wahrheit“ ausspricht – wobei diese „Wahrheit“ durchaus auch Diffamierungen bedeuten kann.

Der Buchtitel des Schriftstellers Akif Pirincci bringt viele Positionen des Anti-Genderismus gut auf den Punkt: Deutschland von Sinnen: Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer. Auch der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin haut in dieselbe Kerbe. Aber nicht alle teilen die Positionen ihrer lautesten Vertreter, wie sie Pirincci und Sarrazin bilden.

Interessanterweise bedienen auch einige Frauen – häufig jung und hochqualifiziert – den Anti-Genderismus, in dem sie den Feminismus als dogmatisch oder gar als männerhassend verklären. Frauen sollen nicht jammern, sie sollen sich gefälligst anstrengen. Wenn sie Leistung erbringen, werden sie auch Erfolge haben, so ein zentrales Motiv der Argumentation. Auch das oben erwähnte Stilmittel des Tabubruchs ist ihnen eigen. Die ehemalige Familienministerin Kristina Schroeder und ihre damalige Referatsleiterin im Ministerium Caroline Waldeck inszenierten den Bruch mit dem Feminismus in ihrer 2012 erschienen Schrift Danke, emanzipiert sind wir selber! Abschied vom Diktat der Rollenbilder. Um noch ein jüngstes Beispiel zu bemühen, sorgten die Journalistinnen Theresa Bäuerlein und Friederike Knüpling mit der These für Aufregung, durch den Feminismus würden Männer an ihrer Entfaltung beschnitten. Das ganze nennen sie Tussikratie. Warum Frauen nichts falsch und Männer nichts richtig machen können.

Man mag sich die Frage stellen, warum wir uns überhaupt mit diesen leicht zu entkräftenden (mit Blick auf die angeblich nicht mehr vorhandenen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern etwa: 1. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung) Positionen beschäftigen wollen. Dies hat zwei Gründe: Zum Einen sind all die genannten Bücher Bestseller und scheinen damit einen besonderen Nerv der Zeit zu treffen, den es soziologisch in den Blick zu nehmen gilt. Zum Anderen haben wir den Eindruck – wir formulieren hier bewusst vorsichtig – dass der neuralgische Punkt des Anti-Genderismus darin besteht, dass damit versucht wird, Prekarisierung in den Griff zu bekommen. Unsere These lautet, dass der Anti-Genderismus auf vielfältigen Ebenen eine Reaktion auf den Verlust von männlichen und heterosexuellen Privilegien ist. Deshalb möchte wir in den folgenden Blog-Postings diskutieren, dass der Anti-Genderismus die Geschlechterforschung und mit ihr Politiken der Antidiskriminierung als zentrale Ursachen derzeitiger Verunsicherungen und Bedrohungen darstellt, was pointiert formuliert zu einem geringen Anteil richtig und einem großen Anteil falsch ist. Dabei wird sich nicht jeder Blog-Eintrag dezidiert anti-genderistischen Positionen widmen, der Anti-Genderismus wird auch nicht als Sparring-Partner herausgefordert, vielmehr wird ein Verständnis von Prekarisierung erarbeitet, das mehr Licht in das Dunkel der erwähnten paradoxen Gleichzeitigkeit aus Tendenzen der Gleichheit und neuen und alten Ungleichheiten wirft.

Hierbei präsentieren wir (zwar) auch Befunde laufender und abgeschlossener eigener Forschungsprojekte, vor allem aber möchten wir uns auf die Suche begeben, bisher wenig beachtete „Allianzen“ zusammendenken, Fragen aufwerfen und zur Diskussion einladen – in diesem Sinne freuen wir uns auf die nächsten Wochen.

5 Gedanken zu „Prekarisierung Unbound? Über alte und neue Ungleichheiten und prekäre Allianzen. Ein Intro“

  1. danke für diesen beitrag zum diskurs insbesondere im hinblick auf den anti genderismus, der nicht nur in der brd an „fahrt“ aufnimmt, siehe die demos in Frankreich zum schutz der familie. manche gehen sogar dazu über personen in den gender studies direkt anzugreifen. das hat mit dem austausch unterschiedlicher weltsichten in einer demokratie nur noch wenig zu tun, hier manifestiert sich blanker hass.

  2. Danke. Und: Bin auf Weiteres gespannt! Auch darauf, ob Eure These der Prekarisierung etwas anderes meint als die Deutung von Anti-Genderismus als anti-modernistisch.
    Ich stimme Euch übrigens zu in der Annahme, dass der Anti-Genderismus Vieles aus der Geschlechterforschung ganz richtig versteht – und noch mehr ganz falsch. Vielleicht interessiert Euch meine ppt-Sicht der Dinge? Hier: https://dl.dropboxusercontent.com/u/786142/genderdings_std_sozkongress_PIV.pptx
    Freue mich auf weiteren Austausch!

    1. Vielen Dank für die PPP! Unsere These ist durchaus auch anti-modernistisch gemeint, in dem Sinne, dass der Anti-Genderismus eine Bearbeitung der Herausforderungen der „Postmoderne“ darstellt – das Einbrechen der Kontingenz, De-Ontologisierung etc. Zielte darauf deine Frage? Unsere These meint aber noch mehr: Wir schlagen einen Prekarisierungsbegriff vor, mit dem wir die wechselseitigen Prekarisierungsdynamiken eines Brüchigwerden von Doxa einerseits und alten und neuen Ungleichheiten andererseits zur Konvergenz bringen wollen. Dazu aber in den kommenden Wochen mehr…
      MM

  3. „Man mag sich die Frage stellen, warum wir uns überhaupt mit diesen leicht zu entkräftenden […] Positionen beschäftigen wollen.“

    Sie konzentrieren sich auf populäre Polemiken, weil die Positionen der Geschlechterforschung (im engeren Sinne) innerhalb der Sozialwissenschaften ansonsten gänzlich unumstritten sind, nicht wahr?

    (Verlassen Sie eigentlich ab und zu Ihr intellektuelles Ghetto?)

    1. Ich hätte eine Bitte. Vielleicht können Sie ein paar Quellen nachlegen? Würde mich einfach interessieren, inwieweit und von welcher Seite die angesprochenen Positionen innerhalb der Sozialwissenschaften vertreten werden. Das wäre dann ja auch vermutlich ernster zu nehmen als die genannten Polemiken.

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