Epistemologische und methodologische Herausforderungen globaler Modernität

Der globale Durchbruch moderner Sozialstrukturen, Lebensverhältnisse und institutioneller Arrangements stellt Wissenschaft, Politik und Wirtschaft vor neue Herausforderungen. Zu den größten Herausforderungen der Sozialwissenschaften gehören die Abkehr von gewohnten Forschungsroutinen und Deutungsmustern einerseits sowie die systematische Ausweitung des Horizonts wissenschaftlicher Beobachtung andererseits. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein konnte die Soziologie der Moderne sich mit gutem Grund auf den Westen konzentrieren, weil die nichtwestliche Welt die Transition zur Moderne weithin noch vor sich hatte, mithin nur wenig Anschauungsmaterial für Analysen von Modernität bot.

Die heutige Situation ist eine andere. Mit dem globalen Durchbruch moderner Sozialverhältnisse verliert der Westen seine epistemologische Sonderstellung und reicht das Studium westlicher Erscheinungsformen nicht mehr aus, um empirisch gehaltvolles, verallgemeinerungsfähiges Wissen über „die“ Moderne zu gewinnen. Wer jetzt noch generalisiert, was auf womöglich kontextuell spezifische Bedingungsfaktoren zurückzuführen ist, droht provinziell zu werden. Das ist der berechtigte Kern der Kritik am West- bzw. Eurozentrismus von Teilen der einschlägigen Theoriebildung: Europa und Nordamerika lassen sich nicht länger als Synonyme für Modernität behandeln, denn mit der Heraufkunft der globalen Moderne wird die Identifikation „der“ Moderne mit „dem“ Westen hinfällig. Die Soziologie der Moderne muss, der Entwicklungsrichtung ihres Gegenstands folgend, selbst global werden.

Für ein an Prämissen des methodologischen Nationalismus geschultes Denken, das dazu disponiert, sich auf innerhalb der „eigenen“ Landesgrenzen stattfindendes Sozialgeschehen zu konzentrieren, ist die Entwicklung einer globalen Soziologie kein leichtes Unterfangen. Dass neun von 10 sozialwissenschaftlichen Publikationen aus Ländern des Westens stammen, macht es nicht einfacher, weil das, in Verbindung mit der durch den methodologischen Nationalismus beförderten Verengung des Beobachtungshorizonts, den Eindruck erweckt und laufend bestärkt, sozialwissenschaftlich relevantes Geschehen spiele sich primär im Westen ab. Die Konventionen des Forschungsbetriebs erfordern den Anschluss neuen Wissens an existierende Wissensbestände, und in den Sozialwissenschaften tragen diese Bestände überwiegend einen räumlich beschränkten (westlichen, nordamerikanischen, europäischen, in den meisten Fällen noch deutlich „lokaleren“) Index. Die Konzentration sozialwissenschaftlicher Forschungskapazitäten im Westen bewirkt, dass das Gros des vorhandenen Wissens Ergebnis westlicher (Selbst-)Analyse ist. Vor diesem Hintergrund drängt der Eindruck, der (moderne) Westen „sei“ gleichsam die (moderne) Welt, sich förmlich auf, denn die genannten Konventionen lenken den Blick fast zwangsläufig auf den Westen, während das „Andere“, das es auch noch gibt, durch Auslagerung in „Orchideenfächer“ entsorgt, in seiner kognitiven Sprengkraft entschärft wird: Was nicht zum mainstream zählt, braucht nicht rezipiert zu werden, „muss man nicht kennen“, und was man nicht kennt, kann auch nicht irritieren.

Dieses Denken bestimmt die Praxis der Sozialwissenschaften so sehr, dass auch außerhalb des Westens angesiedelte Forschungseinrichtungen sich ihm schwer entziehen können – was einerseits verbreitet Abwehrreflexe auslöst (Stichworte „Kulturimperialismus“, „Indigenisierung“ usw.), ihm andererseits noch scheinbar zusätzliche Evidenz verleiht. Unter heutigen Bedingungen droht es gleichwohl zu einer Erkenntnisblockade zu werden. Solange das Zentrum der Moderne im Westen lag, gingen die Impulse für den sozialen Wandel vorwiegend vom Westen aus. Auch Nachzügler konnten sich daher berechtigterweise auf die Speerspitzen der Entwicklung im Westen konzentrieren, um sich, mit Marx zu sprechen, ein Bild von der eigenen Zukunft zu machen. Aber das ist nicht mehr der Fall. Der Euro- und der Westzentrismus der Vergangenheit hatten ihre Grundlagen im Tatsächlichen. Diese Grundlagen sind mittlerweile entfallen bzw. in Erosion begriffen.

Verdeutlichen lässt sich das mit Hilfe einer Periodisierung von Phasen der Modernität. Periodisierungen sind stets nachträgliche Konstrukte, die dem Erkenntnisinteresse folgen, unter dem ein geschichtlicher Prozess analysiert wird. Analysiert man die Geschichte der Moderne unter dem Aspekt der Verschiebung ihrer Kräfte- und Entwicklungszentren, dann kann man sie in drei Phasen unterteilen: in die der eurozentrischen, westzentrischen und polyzentrischen Moderne.

Die eurozentrische Moderne, in die auch die Entstehung der Sozialwissenschaften fällt, bildet die erste Phase. Unabhängig davon, ob man die Moderne im späten 15. bzw. frühen 16. Jahrhundert oder erst im ausgehenden 18. Jahrhundert beginnen lässt, und allen Relativierungen zum Trotz, die das neuere Schrifttum zur Globalgeschichte an der These der Einzigartigkeit der europäischen Moderne vornimmt, darf als gesichert gelten, dass das, was sich in dieser Phase an modernen Arrangements herauskristallisiert, im wesentlichen europäische Phänomene sind. Über Prozesse der Kolonialisierung und der Besiedelung kommen auch andere Kontinente und Kulturkreise mit Aspekten von Modernität in Berührung, aber Europa bildet das unangefochtene Zentrum der Moderne (Edward Tiryakian), ist Agent und Impulsgeber für lange Zeit auch weitgehend auf den eigenen Kontinent beschränkte Modernisierungsprozesse – kurzum: „ist“ praktisch die Moderne (Walter Mignolo), denn andernorts gibt es das damit Gemeinte noch nicht oder allenfalls in rudimentären Ausprägungen. Am Ende dieser Phase, etwa gegen 1900, dominiert Europa den gesamten Globus, steht Großbritannien an der Spitze des größten, weltumspannendsten Imperiums aller Zeiten, und ist der Rest der Welt zur europäischen Peripherie geschrumpft: wirtschaftlich, politisch, militärisch, kulturell.

In der zweiten, als westzentrische Moderne bezeichneten Phase verliert Europa sein Monopol auf die Moderne und geht die europäische in der westlichen Moderne auf, in der nun freilich Nordamerika den Ton angibt. Seit den 1870er Jahren beginnen die aus ehemaligen europäischen Kolonien hervorgegangenen Vereinigten Staaten von Amerika die größten und entwickelsten Länder Europas wirtschaftlich zu überflügeln. Nach dem Ersten Weltkrieg positionieren sie sich auch politisch als Weltmacht, und der Zweite Weltkrieg besiegelt endgültig ihren Aufstieg zur Führungsmacht des Westens. Die Institutionen der im Anschluss daran errichteten Weltordnung tragen maßgeblich ihre Handschrift, und wenngleich der Kalte Krieg und die Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion das lange Zeit überdecken, avancieren die USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wenigstens kurzfristig, zu „dem“ Leitbild von Modernität schlechthin. Sie bilden das Zentrum der Weltwirtschaft, ihre führenden Unternehmen, Universitäten, Forschungseinrichtungen usw. setzen global die Standards, ihre Massenmedien werben für den „American Way of Life“, ihre Eliten propagieren amerikanisches bzw. westliches Ideengut als universell gültige, weltweit verbindliche Wertmaximen, und ihre Flotten durchkreuzen alle Weltmeere. Den unzähligen aus kolonialer Herrschaft entlassenen staatlichen Neugründungen empfehlen sie sich unumwunden als Modell zur Nachahmung, und da Amerikanisierung vielerorts negative Beiklänge hat, zieht die wissenschaftliche Begleitforschung es vor, von „Modernisierung“ zu sprechen (so Lerner bereits 1958).

Der Beginn der dritten, mit dem Begriff der polyzentrischen Moderne belegten Phase lässt sich grob auf das Millennium terminieren. Ihre Ursprünge reichen bis in die Anfänge der Entkolonialisierung, in gewisser Weise sogar bis in die 1870er Jahre zurück, als Japan sich auf einen Modernisierungspfad begibt, der es vor dem Kolonialisierungsschicksal seiner Nachbarn bewahrt, später selbst zur Kolonialmacht aufsteigen lässt, vor allem aber demonstriert: Die Moderne ist kein Alleinstellungsmerkmal des Westens, auch andere können den Sprung in die Moderne schaffen. Der eigentliche Wendepunkt liegt gleichwohl später, koinzidiert mit dem Zusammenbruch der Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg. Am Übergang zum 21. Jahrhundert ist dieser Prozess so weit vorangeschritten, dass moderne Arrangements erstmals die Lebensverhältnisse der Mehrheit der Weltbevölkerung bestimmen.

Polyzentrisch ist die globale Moderne in mindestens zweierlei Hinsicht: einmal im Blick auf die von Luhmann akzentuierte Eigenlogik gesellschaftlicher Teilsysteme, die sich politischer Regulierung (zu) entziehen (suchen) und deren „Autonomiebestrebungen“ durch das Globalisierungsgeschehen der letzten ca. drei Jahrzehnte einen enormen Schub erhalten haben. Das ist seit langem Gegenstand weitverzweigter Diskussionen und hat nicht zuletzt zur Entplausibilisierung jener Ineinssetzung von Gesellschaft und Nationalstaat geführt, die diesen als einen in sich geschlossenen „Container“ fasst, der seine „inneren“ Angelegenheiten weitgehend selbst und unabhängig von „äußeren“ Einflüssen regelt. Der zweite Aspekt, unter dem die globale Moderne sich als polyzentrisch beschreiben lässt, findet demgegenüber erst neuerdings vermehrt Beachtung: die abermalige Verschiebung der Gravitationszentren der modernen Gesellschaft im Zuge ihrer weltweiten Ausdehnung. Unter diesem Aspekt meint Polyzentrizität die Auflösung der Zentrum-Peripherie-Verhältnisse der zurückliegenden zwei bis fünf Jahrhunderte. Da diese Auflösung ein gradueller Prozess ist, ist, zumindest mittelfristig, nicht damit zu rechnen, dass an die Stelle des alten Zentrums ein neues Zentrum tritt, das alle anderen komplett dominiert. Vielmehr steht zu erwarten, dass es, bei einer gewissen Konzentration auf Nordamerika, Westeuropa und die entwickelteren Teile Asiens, zu einer Proliferation von Zentren an unterschiedlichen Orten in allen Teilen der Welt kommt. Manche Beobachter sprechen deshalb auch von Multipolarität.

Hier nun liegt der Ansatzpunkt für die genannten Herausforderungen der Sozialwissenschaften. So wie der Durchbruch der globalen Moderne das relative Gewicht des Westens in wirtschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher, kultureller Hinsicht mindert, so impliziert er epistemologisch seine relative Entwertung als Forschungsgegenstand. Methodisch erfordert das eine Neujustierung von Beobachtungsinstrumenten und -routinen im Sinne eines methodologischen Globalismus. Ulrich Beck und andere propagieren seit geraumer Zeit einen methodologischen „Kosmopolitismus“. Die dahinter stehende Idee speist sich aus ähnlichen Motiven und weist auch in dieselbe Richtung, leidet aber an der normativen Aufladung des Begriffs. Methodologischer Globalismus wird unter den veränderten Bedingungen nämlich auch für diejenigen zu einem Gebot der Stunde, die den normativen Zumutungen des Kosmopolitismus skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen; selbst eingefleischte (methodologische) Nationalisten werden es sich künftig nicht mehr leisten können, Introspektion als den Normalfall sozialwissenschaftlicher Analyse zu behandeln und den Rest der Welt auszublenden. Mit der Herausbildung multipler Zentren ohne klare Rangordnung vervielfältigt sich nämlich die Zahl der Akteure und Orte, die Einfluss auf das Sozialgeschehen nehmen. Die globale Moderne ändert nicht nur die neu in die Moderne Eintretenden, sie verändert auch die Umwelt aller anderen. Und deshalb tut, selbst wer sich nur für das „eigene“ Land oder die „eigene“ Region interessiert, gut daran, sich auf die neue Konstellation einzustellen.

Der methodologische Globalismus, den das erforderlich, der es aber auch möglich macht, steckt noch sehr in den Anfängen. Trotzdem muss er nicht „ex nihilo“ kreiert werden, sondern kann sich Anregungen bei Vorbildern holen, die es dafür ansatzweise bereits gibt. Zu denken wäre etwa an die Publikationen vieler Unterorgansationen der Vereinten Nationen, an die Analysen zahlreicher globaler think tanks und/oder Nichtregierungsorganisationen, an einzelne (soziologische) Forschungsprogramme wie z.B. den Neoinstitutionalismus Stanforder Provenienz oder Ingleharts World Values-Studien usw. Wer sich auf wissenschaftlichem Niveau über die soziale Welt im Ganzen informieren möchte, wird hier schon heute durchaus gut bedient.

Wer es dagegen vorzieht, sich auch künftig (allein) in vertrauten Gefilden zu bewegen, mag das tun, sollte aber Abstand von verallgemeinernden Aussagen nehmen, die dem wissenschaftlichen Erwartungsstil inhärent, bei räumlicher Engführung des Gegenstands jedoch nur selten sachlich gedeckt sind – es sei denn, sie bewegen sich auf so hoher Abstraktionsstufe, dass lokale Besonderheiten keine Rolle spielen. Aber auch das kann nur wissen, wer auf die Welt – statt lediglich einige ihrer Segmente – fokussiert.