Seminare und studentische Beteiligung

Dieser Blogeintrag erreicht Sie aus New York: Das spielt für Sie keine Rolle, für meinen Kopf umso mehr, dem noch die Ohren aus einem Harlemer Jazz Club dröhnen.

Vergangene Woche habe ich zum ersten Mal überhaupt nach didaktischen Hilfestellungen zur Seminargestaltung gesucht (mein erstes Mal, by the way): Was tun, wenn der Vorbereitungs-Aufwand und der Beteiligungs-Ertrag in keinem Verhältnis zueinander stehen? Wenn bei allem Engagement der Eindruck bestehen bleibt, dass kein Funke überspringt?

Üblicherweise gelingt dieser ‚Übersprung’, so meine Erfahrung, infolge der eigenen Faszination fürs Thema, für einen Text, für die Soziologie. Darin ist kein Automatismus eingebaut, es bedarf vielmehr einer intensiven Vorbereitung auf die einzelne Sitzung: Diese Intensität drückt sich nicht in der Länge der dafür aufgebrachten Zeit, sondern im Maß der Konzentration auf den die Grundlage für die Seminarsitzung bildenden – eigenen oder den fremden – Text aus. Es ist jene Art der Zuwendung, durch die man selbst im Vertrautesten etwas Neues, Unvertrautes, erkennt, bei der einem ein Licht aufgeht, weil man irgendetwas sieht, was man vorher nicht gesehen hat, bei der sich ein Aha-Effekt einstellt, weil man etwas versteht, was man vorher als unverständlich ausgeblendet hat,  oder eine Verknüpfung zwischen dem Gelesenen und dem hergestellt werden kann, was einen warum auch immer gerade brennend interessiert. Und schon ist die Vorbereitung keine Pflichtübung mehr, sondern ein fast atemloses Wissen-Wollen, Weiter-Wissen-Wollen – vermutlich tatsächlich ein Lernen (was ich gerade mit Achim Brosziewski und Christoph Maeder zu klären versuche).

Und dann brennt es mir auf den Nägeln, im Seminar darüber zu reden. Nicht vorzutragen, auch wenn ich zum Monologisieren neige, sondern reden im ganz alltäglichen Verstande, hin und her argumentieren, streiten, sich gegenseitig ins Wort fallen, sich mit Beispielen, Bildern, Metaphern, Analogien auszudrücken versuchen, um von anderen auf Unstimmigkeiten, Widersprüche, andere Lesarten des Textes hingewiesen zu werden.

Natürlich geht das nur bis zu einer Obergrenze von 20-25 Seminarteilnehmern.  Und natürlich sind die Wortbeiträge unterschiedlich verteilt: es ist in keiner Weise ein herrschaftsfreier Diskurs. Aber hin und wieder gelingt es, meine ich jedenfalls, die bei uns so diskursrelevanten Statusunterschiede (anders als hier in Amerika, so sagt man), in den Hintergrund treten zu lassen (heißt: meine Diskursmacht nicht gegen das bessere Argument auszuspielen).

Und weil ich im Seminar ganz ‚normal’ reden will, sträube ich mich gegen (Hochschul-)Didaktik. Ich mag keine Rollenspiele, Arbeitsgruppen, Flipcharts und Kärtchen, weil sie dieses Gespräch verhindern – in aller Regel jedenfalls.

Zu ihrer Irritation versuche ich meinen Studenten sogar, jene Idee des ‚Referats’ aus dem Kopf zu bringen, die sie, so meine ich, aus der Schule mitbringen: eine möglichst gelungene Performance in einer vorgegebenen Zeit abzuliefern, in der möglichst unangreifbar alles dargestellt wird, was die Referentin meint, das die Dozentin hören will, was bedeutet, sicherheitshalber so nah am Text zu bleiben wie möglich. Die unterstützenden Powerpoint-Präsentationen sind dann häufig nichts anderes als Exzerpte, bei denen sich lediglich die Frage stellt, nach welchen Kriterien der eine Punkt aufgegriffen, der andere weggelassen wird (wenn es nicht offensichtlich jeder Gedanke ist, der ein wenig hermetisch daher kommt, weil der Satz kompliziert ist oder der Verweisungszusammenhang nicht entschlüsselt werden kann); hin und wieder zeichnet sich in diesem Exzerpt tatsächlich eine von der eigenen abweichenden hochinteressante Lesart ab).

Ich versuche den Teilnehmern meiner Seminare – und ich rede hier von den für mich idealen Form mit einer Gruppengröße von 20-25 Personen – klar zu machen, dass ich Ihre Aufgabe in der Referenten-Rolle (analog zu meiner in den ersten Sitzungen) darin sehe, einen Input, nein: ihren Einstieg in unser Gespräch über das Seminarthema zu liefern, d.h. etwas (so) auszuführen, dass sich ein wissenschaftlicher Austausch entspannt. Hierfür weise ich im bzw. mit dem Seminarprogramm auf Texte hin, über die es sich m.E. zu reden lohnt (was zeitökonomisch sinnvoll, eigentlich aber ein Fehler ist).

Dieses Gespräch kommt besser in Gang, wenn nicht einfach der Textinhalt nacherzählt, sondern über die eigene Leseerfahrung berichtet wird, d.h. die Stellen angesprochen werden, hinter die man im Falle des von mir in Hinweisen zum wissenschaftlichen Arbeiten anempfohlenen aktiven Lesens bei der Lektüre ein Frage- oder ein Ausrufezeichen setzt, die man (warum auch immer – aber genau dieses Warum kann expliziert werden) farbig hervorhebt oder an denen man einen Querverweis notiert.

Die Inhaltsangabe-Referaten tolerieren wir, weil oder in der Annahme, dass sie uns das Leben leichter machen, und den Seminarteilnehmern, die den Text nicht gelesen haben (wofür wir nach ‚Bologna’ immer mehr Verständnis haben), die Gelegenheit zum Mitreden geben. Das übliche Referat erfüllt diesen Zweck überhaupt nicht, weil der Inhalt des Textes in atemberaubender Geschwindigkeit heruntergerasselt wird, um das ‚Referat’ möglichst schnell hinter sich zu bringen – ich pointiere hier absichtlich, wohlwissend, dass ich den meisten Studierenden in ihrem Bemühen, eine gute Leistung abzuliefern, unrecht tue (aber darin besteht schon ein Missverständnis: zu meinen, das Referat für sich genommen sei die ‚Leistung’, und nicht die Übernahme der Verantwortung für die Interaktion bzw. genauer: Kommunikation).

Meine Input-Idee finde ich nur ganz selten realisiert – ich vermute, vor allem aus zwei Gründen: zum einen spreche ich selber von Referaten und rufe damit falsche Assoziationen auf. Vielleicht würde es schon helfen, von Gesprächseinstiegen (Plural!) zu sprechen; zum anderen ist hier kein zusammenhängender Vortrag mehr sinnvoll, der nicht unterbrochen werden darf – und Studierende reagieren häufig sehr unwillig, wenn man sie unterbricht, weil sie dann keine ‚runde’ Performance abliefern können. Angedacht ist vielmehr eine Moderatorenrolle über die ganze Sitzung hinweg, in der das Gespräch, das sich unter Beteiligung vieler Diskutanten weit vom Text weg bewegen kann, immer wieder auf einen Punkt zurücksteuert wird, den man – nicht die Dozentin,  sondern die Referentin – selber gern besprochen haben will.

Um mehr als den moderierenden Studierenden und mich ins Gespräch einzubinden, experimentiere ich mit den schon erwähnten Reading Response Papers. In diesen kurzen, ca. zweiseitigen Texten sollen die Studierenden gewissermaßen ihre Leseerfahrung dokumentieren. Sie bestehen im wesentlichen aus zwei Teilen: einer kurzen Inhaltswiedergabe und einem Kommentar, die in der Regel ungleich ausfallen, weil wir uns sicherer fühlen, eine (Kurz-)Zusammenfassung zu schreiben statt eine Einschätzung abzugeben. Während ich im 2xzweistündigen Seminar pro Woche hier in Boston im Lauf der 16 Semesterwochen 5 solcher ResponsePaper abfordere, war der Arbeitsaufwand für die Karlsruher Studenten mit 3 etwas geringer. Hier wie da können sie ihrem Interesse und Zeitplan entsprechend sowohl die Texte als auch Termine frei wählen, mit der leichten Einschränkung hier, nicht mehr als einen Text pro Woche zu wählen, damit sich die Textkenntnis ein wenig über die Themenschwerpunkte des Semesters verteilt. Schon bei einem, noch besser bei zwei bis drei Papers pro Sitzung, die am Tag vorher publik gemacht werden müssen, lasse, lassen sich Verständnisschwierigkeiten bei der Lektüre leicht ermitteln. Mitunter aber sind die Reviews hervorragend und bieten reichhaltigen Diskussionsstoff – besser als dies bei Spontaneingaben im Sitzungsverlauf der Fall ist.

Dieses Seminarverständnis kann ich mit meinen Bostoner Undergraduates derzeit nicht realisieren – vielleicht eignet es sich überhaupt nicht vor dem 3. Studienjahr, vielleicht nur für Studierende mit wissenschaftlichen Ambitionen, vielleicht gar nicht zum Studieren (letzteres würde ich aus eigener Erfahrung nicht gelten lassen wollen)?

Dies dürfte eine ganze Reihe von Gründen haben – meine mangelnde Eloquenz und die Abweichung von gewohnten Lehrkonzepten dürften keine unwesentliche Rolle spielen.

Meine Versuche, ins Gespräch mit meinen amerikanischen Studenten zu kommen, sind ebenso angestrengt wie anstrengend. Meine als Gesprächsangebote intendierten Nachfragen, mit denen ich sie dazu bringen will, Gehörtes und Gelesenes zu hinterfragen oder miteinander in Verbindung zu bringen, kommen – im Nachhinein besehen – vermutlich ein wenig inquisitorisch oder zumindest examinatorisch daher. Jedenfalls haben sie nicht den erwünschten Effekt: ich bekomme zwar hin und wieder eine Antwort, aber es kommt nicht wirklich eine Unterhaltung in Gang. Meine Mutmaßung, dass die Fragen, mit denen ich ja tatsächlich vor allem etwas in Erinnerung rufen will, zu einfach sind und sich die Studierenden schlicht langweilen, scheint falsch zu sein. Sie sind sich offenbar eher nicht ganz im Klaren darüber, worauf ich hinaus will, was natürlich auch an unpräzisen Formulierungen und dem Mangel an Reformulierungen liegt. Ein Problem,  das mir eine Studentin – sehr vorsichtig, sehr höflich – zurückgemeldet hat, besteht offenbar aber auch darin, dass ich nicht genug Zeit zum Antworten lasse: Das ist deshalb interessant, weil damit das Problem der individuell und kulturell unterschiedlich getakteten Gesprächspausen angeschnitten ist. Ich beginne im Seminar nicht aus Ungeduld, sondern dann und deshalb selber die Antwort zu geben, wenn und weil mein Warten meine eigene Höflichkeitsgrenze zu überschreiten  beginnt.

Angesichts dessen habe ich nun angefangen, mit Arbeitsgruppen zu experimentieren: Im Vorgriff auf das Thema habe ich die Studierenden zu Beginn der Sitzung untereinander Fragen – eine inhaltliche, eine methodologische – diskutieren lassen, die mir bei der Lektüre des Textes entstanden sind. Jeweils zwei Gruppen hatten die gleiche Frage, so dass ich im Vergleich sagen kann: je kleiner die Gruppe, je inhaltlicher die Frage, je konkreter die Aufgabenstellung desto besser – alles didaktisch ein alter Hut.

Verunreinigt hatte ich die ‚Versuchsanordnung’ allerdings dadurch, dass ich vorher alle Reading Response Paper, die mich seit Semesterbeginn erreicht hatten, mit kurzen Kommentaren versehen zurückgegeben hatten (die Seminargestaltung habe ich in früheren Blogeinträgen beschrieben).  Diskutiert und die Diskussionsergebnisse im Plenum vorgestellt haben nun vor allem diejenigen, die darüber schriftlich ein – vorwiegend positives – Feedback von mir bekommen hatten. Besonders intensiv, wirklich beeindruckend, aber hat sich eine Person beteiligt, der ich im Anschluss an die vorherige Sitzung schon zurückgemeldet hatte, dass sie ein „exzellentes“ Review geschrieben hatte – mit der Bitte, es in der nächsten Sitzung vorzulesen.

Prinzipiell fällt auf, dass diejenigen intensiver diskutieren, die bereits ein, zwei oder sogar drei solche Papiere geschrieben haben. Das ist weniger bemerkenswert als der Umstand, dass der überwiegende Teil derjenigen, die fleißig Response Papers schreiben, von mir für die ersten Wochen zur In Class Presentation eingeteilt worden war.

Irgendetwas bewirken sicherlich auch die Arbeitsgruppen: Beteiligung scheint aber vor allem etwas mit Feedback  und: mit Aufgabenverteilung zu tun zu haben. All das muss überprüft und ggf. auch für die Zukunft bedacht werden – aber bestimmt nicht in New York City!


[1] Jo Reichertz kann besser einschätzen, ob das mit dem verwandt ist, was Peirce mit „Abduktion“ zu fassen versucht. Ich vermute, dass es der Kern von „Lernen“ ist, den Achim Brosziewski und Christoph Maeder soziologisch zu fassen versuchen.

 

2 Gedanken zu „Seminare und studentische Beteiligung“

  1. Klingt ja alles ganz super und sehr lobenswert. Was ich noch nicht ganz verstanden habe, ist, mit welche gängigen Prüfungsform für Lehrveranstaltungen im Bachelorsystem diese Form des Seminars kompatibel sein soll?

    Spätestens wenn am Ende des Semesters in einer Prüfung, die Reliabilität, Objektivität und Validität erfordert, die freie Diskussion zu Themen gefordert sein sollte, dürfte es bei der Bewertung doch erhebliche Schwierigkeiten geben.

    Um derartigen institutionellen Zwängen zu begegnen, die auch bestimmte freie Formen der Unterrichtsgestaltung erschweren, lohnt sich dann vielleicht doch mal ein Blick in die Hochschuldidaktik als eine wissenschaftliche Disziplin, die sich dem Problem aus pädagogischer, soziologischer und psychologischer Perspektive annimmt.

    1. Lieber Herr Karbacher,

      ähnlich wie ich das für Boston ausgeführt hatte, setzt sich die Leistung in meinen Seminaren in unterschiedlicher Gewichtung aus Referat, Hausarbeit und aktiver Beteiligung zusammen. Wie letztere zu gestalten (schriftlich, mündlich) und zu bewerten ist, ist für mich eine offene Frage, die hier auch schon andiskutiert worden ist. Über diesbezügliche Lektürehinweise aus der Hochschuldidaktik freue ich mich. Die für die quantitative Sozialforschung gängigen Gütekriterien scheinen mir allerdings nicht weiterzuhelfen.

      Beste Grüße
      Michaela Pfadenhauer

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