Nische und Mainstream

Es gibt Menschen in unserer Gesellschaft, für die Ernährung und Landwirtschaft ein wichtiges Thema ist. Das geht nicht nur so weit, dass diese es bereits als eine politische Handlung auffassen, sich anders zu ernähren wie zum Beispiel vegan oder rohköstlich. Auch wird dem gesamten globalen Ernährungssystem (auch Agri-food-System genannt) diagnostiziert, sich in einer Krise zu befinden. Auf der anderen Seite gibt es ebenfalls Menschen in unserer Gesellschaft – unter ihnen auch Soziolog/innen -, die von dieser globalen Krise noch nie etwas gehört haben. Weder nehmen sie die Fast-Foodisierung als Krise wahr, noch die Demonstrationen unter dem Slogan „Wir haben es satt“, die jährlich im Januar aus Anlass der Grünen Woche in Berlin mit jeweils mehreren 10.000 Teilnehmer/innen stattfinden. Die Leute selbst, sind also unterschiedlicher Meinung darüber, was soziale Wirklichkeit ist und was nicht und wie sie zu bewerten sei.

Für die Menschen, seien sie nun Wissenschaftler/in oder nicht, welche sich für die Krise des globalen Agri-Food-Systems interessieren, ist ein soziales Phänomen beziehungsweise eine soziale Bewegung besonders interessant. Dieses Phänomen ist die Community Supported Agriculture (CSA) – in Deutschland auch Solidarische Landwirtschaft genannt. Wirtschaftlich gesehen ist sie vernachlässigbar. Als politische Bewegung ist sie in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern klein. Sie besitzt aber eine große symbolische und mediale Strahlkraft, die über die Filterblase der sozial bewegten Landwirtschaftsszene hinausreicht.

Vom Grundprinzip stellt die Solidarische Landwirtschaft eine besondere Betriebsform dar, bei der Konsument/innen einem landwirtschaftlichen Betrieb die veranschlagten Betriebskosten des kommenden Betriebsjahres bezahlen und im Austausch hierfür einen Teil der landwirtschaftlichen Produktion – meist Obst und Gemüse – erhalten, wie gut oder wie schlecht die Anbausaison auch ist. Diesen Anteil an der Ernte holen die Teilnehmer/innen selbstorganisiert ab. Zuweilen ist es obligatorisch auf dem Hof regelmäßig auszuhelfen oder sich in der Hofgruppe zu engagieren. Grundmotiv ist dabei, die etablierten Rollen von Konsumenten und Produzenten zu ändern. Zwischen Landwirt/innen und Konsument/innen soll eine persönliche Beziehung entstehen, die Rollen von Produzenten und Konsumenten sich zum Teil auflösen, indem die Konsument/innen an den Betriebsentscheidungen partizipieren – zum Beispiel was wann wie angebaut wird – und auf dem Hof aushelfen. Gleichzeitig ändert sich die Beziehung zu den Konsumprodukten – man weiß nun woher sie kommen und von wem sie angebaut werden.

In Deutschland existieren laut Aussage des Netzwerkes Solidarische Landwirtschaft 151 Höfe (beziehungsweise Initiativen in Gründung), die Solidarische Landwirtschaft betreiben beziehungsweise betreiben wollen (www.solidarische-landwirtschaft.org/solawis-finden/solawi-hoefe-initiativen/). Im Vergleich zu anderen Ländern, in denen es über 1.000 Höfe gibt, sind das sehr wenige.

Das Interesse bei Aktivist/innen der auf Landwirtschaft bezogenen sozialen Bewegungen an Solidarischer Landwirtschaft ist sehr hoch. Ebenso gibt es ein relativ übergroßes Interesse bei Wissenschaftler/innen an diesen Initiativen. Das Interesse ist so hoch, dass die Initiativen zur Solidarischen Landwirtschaft überlastet sind von den Anfragen. Das Netzwerk Solidarische Landwirtschaft hat aus diesem Grund eine Abteilung eingerichtet, welche die Forschungsanfragen koordinieren soll, bereits bestehende Studien sammelt, aber auch die Initiativen an der Formulierung der Forschungsfragen beteiligen soll (www.solidarische-landwirtschaft.org/das-netzwerk/arbeitsgruppen/forschung/).

Eine der Hauptfragen der Studien zur Solidarischen Landwirtschaft ist, welche Motive die Teilnehmer/innen an den Initiativen haben und inwiefern sie zu einer ökologischen Alternative zum globalen Agri-Food-System beitragen. An erster Stelle steht nicht, selbstgezogenes Gemüse zu konsumieren, sondern die Erfahrung der Gemeinschaftlichkeit. Eckert (2013) weist noch auf etwas anderes hin: practices movements also auf Praxis bezogene soziale Bewegungen schaffen durch ihre Tätigkeit selbst einen Freiraum. Die CSA kann als eine solche practice movement aufgefasst werden. Die Teilnehmer/innen eignen sich einen Teil der Lebensmittelproduktion an, sie können den Erfolg dieser Wiederaneignung beobachten, wobei der Erfolg im Einzelnen vollkommen unabhängig von der Verbreitung dieser Praktiken ist, und auch unabhängig davon, ob diese Praktiken eine Zukunft besitzen.

Was aber, neben der persönlichen Erfahrung einer erfolgreichen Wiederaneignung wollen die Initiativen politisch? Dass sie politisch sind verdeutlicht der Umstand, dass die Initiativen wollen, dass die Idee Verbreitung findet. Websites und Netzwerke werden gepflegt. Die Grundidee scheint zu sein, ein Modell zu entwickeln, das überall angewendet wird und die Ernährungskultur – also die Weise, wie und woher wir unsere Nahrung beziehen und uns ernähren – zu revolutionieren, indem das Modell aus seiner Nische heraustritt und zum Mainstream wird.

Schließen wir einen Augenblick die Augen und versuchen uns eine solche Welt vorzustellen, in der die solidarische Landwirtschaft Mainstream ist.

(…)

Sicherlich stellt sich jeder etwas anderes vor und die Antwort auf die schon nicht mehr wissenschaftliche aber politische Frage, ob „wir“ eine solche Zukunft wollen, mag unterschiedlich ausfallen.

Viele wissenschaftliche Studien zur CSA scheinen von jener Zukunftsvision gefärbt zu sein und sie als gut zu bewerten. Damit identifizieren sie die Initiativen der solidarischen Landwirtschaft als Vorreiter einer Ernährungswende. Dadurch werden sie nicht zu unwissenschaftlichen Studien, sondern zu Mode-two-Studien und produzieren How-to-do– Wissen. Jede/r bastelt sich ein Experiment oder Labor, ist kreativ und anders. Er oder Sie träumt nicht nur, sondern tut auch etwas. Er oder Sie analysiert nicht nur, sondern ist so nah wie möglich am gesellschaftlichen Experimentierkessel und darf mitmachen.

Würde CSA tatsächlich eine Alternative sein, wären die Diskussionen irgendwie anders, irgendwie mehr politischer :-) Es müsste zum Beispiel eine Fraktion geben, die gegen CSA ist und ihre Verbreitung bekämpft.

Andererseits glauben die Aktivist/innen selbst nicht an die oben genannte Idee. Sie gehen von einem geringen potentiellen Verbreitungsgrad aus und sehen den Wert dieser Initiativen gerade in ihrem symbolischen Wert – dass die Teilnehmer/innen nachhaltige Landwirtschaft selbst erfahren, oder dass in der breiteren Öffentlichkeit eine Alternative zum globalen Agri-Food-System deutlich wird.

Das „How-to-do-Wissen“ ist ein wenig genauso ignorant wie oben genannte Ignoranten, welche die Probleme des modernen Agri-Food-Systems nicht zur Kenntnis nehmen (wollen). Wer sagt denn, dass „wir“ die andere Welt, die möglich ist, überhaupt wollen? Oder eine Alternative bestehende Probleme tatsächlich auch lösen kann? Und wer behauptet, dass ein Problem überhaupt relevant oder relevanter ist als andere?

Der Ernährungstrend geht in eine andere Richtung, das zeigen Studien zum Ernährungsverhalten. Es hilft wenig auf der deskriptiven Ebene zu bleiben, wenn es um solidarische oder ökologische Landwirtschaft geht. Mich interessieren die Gründe, warum manche Menschen etwas als ein Problem erachten und andere aber nicht sowie die Bedingungen für die Fähigkeit zur Reflexion darüber, dass es neben der eigenen auch andere Sichtweisen auf die soziale Wirklichkeit gibt, in denen bestimmte Probleme ignoriert und bestimmte Lösungsvorschläge als Bedrohung der eigenen Lebensweise empfunden werden.

Für die Anzahl der Höfe im Ausland: Schlicht et al. 2012: 22, 29. Schlicht, S.; Volz, P.; Weckenbrock, P.; Le Gallic, T. (2012): Community Supported Agriculture: An overview of characteristics, diffusion an political interaction in France, Germany, Belgium and Switzerland. ACTeon, die Agronauten.

Zu den Practice Movements: Eckert, Julia (2015): Practice Movements: The Politics of Non-Sovereign Power. In Della Porta, Donatella, Diani, Mario (Hrsg.), The Oxford Handbook of Social Movements. 568-575.

Ein Gedanke zu „Nische und Mainstream“

  1. „Vom Grundprinzip stellt die Solidarische Landwirtschaft eine besondere Betriebsform dar, bei der Konsument/innen einem landwirtschaftlichen Betrieb die veranschlagten Betriebskosten des kommenden Betriebsjahres bezahlen und im Austausch hierfür einen Teil der landwirtschaftlichen Produktion – meist Obst und Gemüse – erhalten, wie gut oder wie schlecht die Anbausaison auch ist.“

    „Solidarische Landwirtschaft“ verhindert der Kapitalismus so wenig wie er genossenschaftliche Unternehmen schon immer formal-liberalistisch zugelassen hat.

    Bisher sind alle gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen gescheitert, weil sie pleite gegangen und/oder durch Korruption dekadent geworden sind.

    Eine sozialrealistische Soziologie untersucht an dieser Stelle im Gegensatz zu den emotional-ideologisch motivierten, üblichen sozialkonstruktivistischen „Wir wünschen uns was!“-Phantasien“, die als Wissenschaft verkauft werden, die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklung.

    Dabei stehen zwei Fragen im Vordergrund:

    1.) Welche Machtverhältnisse steuern diese sozialen Prozesse und die Wahrscheinlichkeit der Resultate?

    2.) Welche emotional-ideologischen und formalen Strukturen spielen hierbei die entscheidende Rolle?

    Die liberalistische Freiheits- und die sozialistische Gemeinschaftsideologie identifizieren Markt mit Kapitalismus!

    Sozialrealistisch-wissenschaftlich, jenseits gesinnungsethischer Präferenzen, ist eine genauere Unterscheidung dieser zwei emotional-ideologisch abgesoffenen Begriffe möglich!

    Marx war ein dilettantischer Ökonom und ein hervorragender Soziologe!

    Mein Vorschlag zur Aufklärung dieser emotional-ideologischen, einseitigen Selbstverständlichkeiten, ein Artikel aus meinem Blog:

    „Die Soziologie des Marktes und die Soziologie des Kapitalismus!

    Eine WISSENSCHAFTLICHE Soziologie, die ich in meiner „Soziologie des Unbewussten“ und in meinem „methodologischen Strukturalismus“ skizziere und die sich auf die Entstehung von STRUKTUREN und auf deren WIRKUNG auf die VerhaltensVERTEILUNGEN konzentriert, geht von folgenden Hypothesen aus:

    1.) Ein Markt ist eine evolutionär entstandene, dezentrale STRUKTUR, die als STRUKTUR die VerhaltensVERTEILUNG der Menschen in ihrem wirtschaftlichen Verhalten determiniert und DAMIT Wohlstand und die optimale Verteilung knapper Güter und Dienstleistung URSÄCHLICH schafft. Soziologisch führt der Vergleich mit einer bürokratisch organisierten PLANwirtschaft historisch und systematisch zu einer eindeutigen Schlussfolgerung in dieser Hinsicht.

    2.) NICHT das individuelle Verhalten der Menschen ist die Primär-Ursache für diese wirtschaftlichen Prozesse, sondern die soziale STRUKTUR, der Markt.

    3.) Aufgrund der SOZIALEN Prozesse, die die Basis für die wirtschaftlichen Prozesse des Marktes bilden, tendiert JEDER Markt dazu, zu einer imperialistisch-kapitalistischen STRUKTUR zu degenerieren, die die immensen Vorteile des dezentral angelegten Marktes pervertiert und zu eine IDEOLOGIE des Marktes mutiert.

    4.) Die sozialen Prozesse, die dazu führen, dass aus einem genialen Verteilungs- und Entdeckungsmodell (v. Hayek) ein ideologisches Manipulationsinstrument, der Kapitalismus als IDEOLOGIE, wird, beruhen, wie alle SOZIALEN Prozesse, auf der Dominanz von Macht und Gewalt in physischer und psychischer Hinsicht.

    Beispiele: 
    a) Auf einer Kaffeefahrt wird er alten Dame von einem genialen Verkäufer eine Decke, die einen normalen MARKTwert von 5 € hat, für 200 € verkauft. Hier bestimmen NICHT Angebot und Nachfrage den Preis, sondern die Fähigkeit des Verkäufers, massiv PSYCHISCH zu manipulieren.

    b) Zentralistische Werbung mit Milliarden-Aufwand manipuliert die Nachfrage durch die Manipulation des UNBEWUSSTEN der Konsumenten. Der „Marlboro-Mann“ und die Tabak-Industrie schaffen es z.B. , das archetypische SYMBOL der Freiheit genial zu benutzen und in den „Genuss“ des Glimmstengels zu projizieren, der FREIHEIT zur systematischen „Freiheit“ der Selbstverstümmelung pervertiert. Wenn das kein Beweis für die Magie und Gewalt der Werbung ist, was dann??

    c) Zölle verhindern den dezentralen, gleichberechtigten Zugang von Billiganbietern zu Weltmärkten und damit eine marktgerechte Entwicklung von weltweitem Angebot und weltweiter Nachfrage.

    d) Zentralbanken steuern zentralistisch den Geld- und Kapitalmarkt über den
    Zins-Mechanismus und deformieren damit systematisch den Markt für die
    Finanzierung der REALwirtschaft zugunsten einer absurden kapitalistischen
    KAPITALwirtschaft, die über den Zinseszins einen WachstumsZWANG verursacht, der exponentiell und selbstzerstörerisch ist.

    Wer diese SOZIOLOGIE der STRUKTUREN zu Ende denkt, erkennt, dass nur die aktive GESTALTUNG SOZIALER Prozesse und STRUKTUREN die Probleme lösen kann, die ansonsten offensichtlich in einen GESELLSCHAFTLICHEN Abgrund führen.

    Märkte ohne die aktive Gestaltung der SOZIALEN STRUKTUREN und Prozesse (nicht der Inhalte, nur flächendeckende VERbote sind in Ausnahmefällen sinnvoll) durch einen starken MINIMALstaat werden durch strukturelle und individuelle Macht/Gewalt (physisch und psychisch) zur zentralistisch kontrollierten und manipulierten Ausbeutung der Masse/Mehrheit missbraucht.

    Nur eine WISSENSCHAFTLICHE Soziologie in dem angedeuteten Sinn, die soziale STRUKTUREN und ihre WIRKUNGEN begreift und erklärt, kann in einer medial-wissenschaftlich manipulierten und VERblödeten WIRKLICHKEIT aus der Sackgasse, in die die Zivilisation geraten ist, herausführen, natürlich verbunden mit entsprechenden sozialen Prozessen, die auf Macht/Gewalt (psychisch und physisch) beruhen.“

Kommentare sind geschlossen.