Vom Einander-Verstehen und der Besetzung von Begriffen

Es geht stark auf Weihnachten zu, da wird es Zeit über gegenseitiges Verstehen nachzudenken (das sollte ja eine Kernkompetenz jedes Soziologen sein).

Also: Verstehen wir einander noch? Zunächst: Wie komme ich auf diese Frage? Liest man die bisherigen Papiere aus dem Akademie-Gründungsprozess, dann fallen immer wieder Begriffe auf, die dort einerseits zentral zu sein scheinen, weil sie in schöner Regelmäßigkeit wiederholt werden. Es fällt aber auch auf, dass sie wie selbstverständlich verwendet werden und – mehr noch – so, als sei zweifelsfrei festgestellt, was sie bedeuten. Und zwar für die Soziologie insgesamt. Diesen Sprach-Duktus finden wir auch anderswo: In der Psychologie ist es der naturwissenschaftlich orientierten Test-Psychologie erschreckend gut gelungen, die klinische und kritische Psychologie einschließlich der Sozialpsychologie zu marginalisieren. In der Erziehungswissenschaft beobachten wir gerade die Anfänge einer ähnlichen Bewegung, wenn die Empirische Bildungsforschung mit dem Argument der Evidenzbasiertheit ihrer Befunde immer mehr Raum und Ressourcen im Fach beansprucht. Dort hat man immerhin den Anstand, das eigene Tun mit einem spezifischen Label zu benennen und nicht die Bezeichnung Erziehungswissenschaft engzuführen. Allerdings finden wir auch im Fall der Empirischen Bildungsforschung pejorative Konnotationen gegenüber der Erziehungswissenschaft: Es wird der Eindruck erweckt, die residuale Erziehungswissenschaft forsche nicht empirisch – was aber nur für wenige Bereiche dort zutrifft.

Aber kehren wir zu unserem eigenen Fach zurück: Neben dem Begriff der ‚Evidenz‘, der auch in der Soziologie um sich greift, sind auch die Begriffe ‚Analyse‘, ‚Hypothese‘, ‚Erklärung‘, ‚wissenschaftlich‘, ‚repräsentativ‘, ‚Daten‘, ‚Empirie‘, ‚Theorie‘, ‚objektiv‘, ‚subjektiv‘ vorzügliche Kandidatinnen, um über Sprachspiele und Sprachpolitik nachzudenken.

Ich knüpfe dazu wiederum an den aktuellen Fall der Akademie-Gründung an – nicht um „Akademie-Bashing“ zu betreiben, sondern weil er in seiner Aktualität ein gutes Dokument für die schon länger zu beobachtende sprachliche Entfremdung soziologischer Denktraditionen voneinander ist. Nehmen wir etwa das Statement des Konstanzer Kollegen Thomas Hinz, seines Zeichens Gründungsvorsitzender der Akademie, der sich gegenüber der Konstanzer Universitätszeitung wie folgt zu den Zielen der Akademie äußert:

„Empirisch-analytische Soziologie liefert – im Unterschied zur traditionellen Soziologie – möglichst präzise und empirisch belastbare wissenschaftliche Analysen zu gesellschaftlichen Problemen. Die Akademie für Soziologie möchte durch ihrer Aktivitäten sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in der Öffentlichkeit stärker verbreiten, kontroverse Debatten führen und damit zu einer wissenschaftlich fundierten, evidenzbasierten Politikberatung beitragen“ [1]

Auf den ersten Blick scheint daran nichts zu beanstanden zu sein: Soziologie als empirische Wissenschaft, die ihre Gegenstände selbstverständlich analysiert. Und wer wollte die Ergebnisse unseres forschenden Bemühens nicht erfolgreich in der Öffentlichkeit sichtbar machen und zu kontroversen Debatten beitragen, gerne auch zur Beratung einer Politik, über die viele von uns immer wieder die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, weil sie von so wenig soziologischem Sachverstand getrübt ist.

Andererseits baut Hinz hier einen Gegensatz auf, der hellhörig machen sollte: Die „empirisch-analytische Soziologie“, die die Akademie für sich reklamiert, wird, wie man in der dokumentarischen Analyse sagen würde, vor einem negativen Gegenhorizont präsentiert, der „traditionellen Soziologie“. Aha. Diese traditionelle Soziologie – deren Heimat wir dann wohl in der DGS vermuten müssen – ist also demgemäß eher nicht empirisch und analytisch. Und ihrer Befunde dann wohl auch nicht „evidenzbasiert“.

Dem in der Analyse von Texten geschulten Auge drängt sich der Verdacht auf, dass da ein ganz spezifisches Verständnis von „Evidenz“ und „empirischer“ Analyse gemeint ist. Und zwar eines, das sich im Rahmen der axiomatischen Messtheorie und des kritischen Realismus bewegt.

Es ist interessant zu sehen, dass sich so ein in den Grundzügen recht altbackenes Konzept empirisch-soziologischer Analyse von z.B. praxistheoretischen, sozialkonstruktivistischen, wissenssoziologischen oder pragmatistischen Analyse dadurch abzusetzen versucht, dass letztere als „traditionell“ bezeichnet werden – obwohl sie doch in ihren empirisch analytischen Verfahren eher neuer sind als die hypothetiko-deduktiven Verfahren der quantifizierenden Sozialforschung. Auch „traditionell“ wird hier also pejorativ besetzt. Alle also, die nicht die empirisch-analytische Soziologie betreiben, die im Mittelpunkt der Aktivitäten der Akademie stehen soll, werden also als altbacken qualifiziert, irgendwie out, nicht mehr zu gebrauchen. Und der Begriff des Analytischen wird so für einen Spezialfall des Analysierens reserviert, während praxeologische, interpretative, rekonstruktive Analysen sozialer Zusammenhänge dann nicht mehr in einem emphatischen Sinne als analytisch zu gelten scheinen.

Wie der Kollege Brüderl in einer Replik auf einen meiner vorangegangen Blog-Beiträge schrieb, „will die Akademie im Kern eine auf klaren, präzisen Analysen basierende Soziologie – und damit eine verständliche Soziologie – fördern“. Können aber Analysen präziser sein, als die Verhältnisse, die analysiert werden? Was an der realen Komplexität der Verhältnisse sollen wir als Wirklichkeitswissenschafterinnen in unseren Analysen aussparen, damit diese „klar“ und „verständlich“ werden? Handelt es sich dann eigentlich noch um „präzise“ Analysen, wenn sie doch so vieles, z.B. den Kontext, aussparen?

Verstehen wir also noch das gleiche unter „Evidenz“, „Analyse“ oder „Theorie“? Können wir uns noch darüber verständigen, was alles als empirische Analyse gelten soll? Mir scheint, dass schon so ein vermeintlich einfacher Begriff, wie der der „Daten“ in der Soziologie (aber auch in Nachbardisziplinen) keinem einheitlichen Verständnis mehr unterliegt. Diese begrifflich Ausdifferenzierung ist weder der analytischen Soziologie anzulasten, noch stellt sie das eigentliche Problem dar. Sie ist nur eine Konsequenz für die zunehmende Differenzierung unseres Faches. Ein Problem ist es aber, wenn ein jeweils bestimmtes Verständnis dieser soziologisch und empirisch-methodisch zentralen Begriffe als gesetzt verstanden wird, diese Begriffe also diskursiv geschlossen werden, statt die Debatte über sie fachöffentlich zu führen und gerade damit die Soziologie als einheitliches Fach fortwährend zu reproduzieren. Voraussetzung für einen solchen Fachdiskurs ist aber die wechselseitige Anerkennung – genau daran aber scheint es zu hapern.

Ein Zeichen für gute Wissenschaft ist nicht das Schließen, sondern das Öffnen von Begriffen. Die Arbeit am Begriff ist zentraler Teil (nicht nur) unserer Wissenschaft. Die dabei entstehende Ungewissheit ist nicht immer angenehm, aber gleichwohl ein wesentliches Erkenntnismittel. Ein schönes Gedankenspiel über die Frage, wem die Begriffe gehören, bietet Theodor W. Adorno in seinen Minima Moralia an. Er schreibt:

„Bange machen gilt nicht. – Was objektiv die Wahrheit sei, bleibt schwer genug auszumachen, aber im Umgang mit Menschen soll man davon nicht sich terrorisieren lassen. Es gibt da Kriterien, die fürs Erste ausreichen. Eines der zuverlässigsten ist, daß einem entgegengehalten wird, eine Aussage sei „zu subjektiv“. Wird das geltend gemacht und gar noch mit jener Indignation, in der die wütende Harmonie aller vernünftigen Leute mitklingt, so hat man Grund, ein paar Sekunden mit sich zufrieden zu sein. Die Begriffe des Subjektiven und Objektiven haben sich völlig verkehrt. Objektiv heißt die nicht kontroverse Seite der Erscheinung, ihr unbefragt hingenommener Abdruck, die aus klassifizierten Daten gefügte Fassade, also das Subjektive; und subjektiv nennen sie, was jene durchbricht, in die spezifische Erfahrung der Sache eintritt, der beurteilten convenus darüber sich entschlägt und die Beziehung auf den Gegenstand anstelle des Majoritätsbeschlusses derer setzt, die ihn nicht einmal anschauen, geschweige denken – also das Objektive.“ [2].

Vielleicht findet der eine oder die andere darin einen erbaulichen Gedanken.

Eine erfreuliche Weihnachtszeit allerseits!

 

[1] Thomas Hinz in Uni’kon. Magazin der Universität Konstanz, Heft 67, S. 49, 2017.

[2] Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt 1982, S. 84