Ein kurzer Überblick über den aktuellen Zustand des Rades anstatt eines weiteren Entwurfs für seine Neuerfindung: Cas Muddes „The Far Right Today“

Dass eine Partei rechts von der Union in den Bundestag und im großen Rahmen in Landesparlamente einzieht, ist in der jüngeren deutschen Geschichte ein Novum.[1] Der sich so einstellende Eindruck einer Zeitenwende wurde durch zeitgleiche Entwicklungen in den USA (Trump) und dem Vereinigten Königreich (Brexit) noch verstärkt. Entsprechend ist die publizistische und wissenschaftliche Debatte über den jüngeren Aufstieg der Rechten hierzulande durch die Wahrnehmung geprägt, dass es sich um ein neues Phänomen handele, das neuer Erklärungen und Kategorisierungen bedürfe.

Diese Wahrnehmung trägt leider dazu bei, dass die bestehende Forschungsliteratur zu Rechtsparteien und Populismus in den aktuellen Debatten verhältnismäßig wenig Berücksichtigung findet[2] – und diese Forschungsliteratur ist umfangreich. Denn obwohl es in den letzten Jahren zweifelsohne zu qualitativen Veränderungen kam, ist die Etablierung von Rechtsparteien in europäischen Demokratien insgesamt weder neu, noch ist sie eine Wiederkehr des frühen 20. Jahrhunderts, für die man nur historische Literatur bemühen könnte: Parteien der gegenwärtigen Populist Radical Right in Italien, Frankreich, Dänemark, Österreich, Ungarn, Kroatien, der Slovakei, der Schweiz, Belgien und den Niederlanden sind schon vor Jahren oder Jahrzehnten feste Bestandteile der jeweiligen Parteiensysteme geworden – und diese Parteienfamilie war bereits vor der aktuellen Welle von Erfolgen und Aufmerksamkeit die bestbeforschte in Europa. Entsprechend sind viele der aktuell ausgefochtenen Kontroversen (Kultur vs. Ökonomie, Protestwahl vs. Überzeugungswahl etc.) bereits mehrfach durchgespielt worden.

Nichts von alldem spricht dagegen, diese Fragen weiterzuverfolgen und neu zu diskutieren. Schließlich gibt es unbestreitbar neue Entwicklungen – und selbst wenn es sie nicht gäbe, könnten neue Perspektiven doch neue Erkenntnisse bieten. Jedoch könnte die Berücksichtigung der bestehenden Literatur davon abhalten, mit allzu großem Elan in Sackgassen zu rennen, die in der Vergangenheit bereits mehrfach vermessen wurden.

Cas Muddes dieser Tage erscheinendes Buch The Far Right Today bietet die Chance, einen Überblick über den Forschungsstand der Vergangenheit und Entwicklungen der Gegenwart zu erlangen, ohne hunderte Aufsätze und Bücher zu wälzen. Anders als Teile der gegenwärtigen Publizistik zum Thema ist Muddes Buch nicht mit dem Anspruch formuliert, das Rad neu zu erfinden; vielmehr bietet es auf 180 Seiten einen in zehn Kapitel strukturierten Überblick über den aktuellen Zustand des Rades.

Cas Mudde: The Far Right Today (2019, Polity)

Positionierung auf dem Feld

Anders als die in der öffentlichen Debatte meistbeachteten Bücher wartet Muddes Band dementsprechend auch nicht mit einer einzigen griffigen These auf, durch die der Aufstieg des Rechtspopulismus mit einem Streich erklärt oder die von ihm ausgehende Gefahr für die Demokratie auf den Punkt gebrachten werden soll. Wollte man dem Buch doch eine einzige These zuschreiben, müsste diese gerade lauten, dass das Phänomen zu widersprüchlich und vielfältig ist, als dass irgendeine One-size-fits-all-Deutung aufrechtzuerhalten wäre. Gleichwohl beschränkt sich das Buch nicht auf ein informiert schulterzuckendes „It’s complicated“, sondern bietet auf Grundlage von Forschungsliteratur und Beobachtungen jüngerer Entwicklungen einen strukturierten Überblick über das Feld: Im Einzelnen geht es um Konzepte, Geschichte, Ideologie, Organisationsformen, Personen, Handlungsmuster, Ursachen, Folgen, Reaktionen und Geschlechterverhältnisse. Abgeschlossen wird der Band durch zwölf zusammenfassende Thesen sowie einen Service-Teil mit Zeitleiste, Glossar und weiterführender Literatur zu den einzelnen Kapiteln.

Dabei stellt das Buch freilich kein neutrales Spiegelbild der Forschungslandschaft im Miniaturformat dar, sondern ist durch die Positionen des Autors auf diesem Feld geprägt. Auf zwei sei hier verwiesen:

Erstens argumentiert Mudde seit vielen Jahren dafür, dass sich die Erforschung der Far Right den Parteien und ihren Ideologien selbst (also der Angebotsseite) zuwenden solle, anstatt allein auf die Wähler_innenbasis (also die Nachfrageseite) zu schauen. Für dieses Ansinnen gibt es gewichtige Argumente: Eine allein nachfrageseitig-sozialstrukturelle Perspektive könnte beispielsweise nur bedingt erklären, warum es in Spanien lange keine Partei rechts der PP im Parlament gab, die Rechtspartei Vox dann aber 2019 fast aus dem Stand mit einem zweistelligen Ergebnis einziehen konnte – eine korrespondierende kurzfristige Verschiebung der Sozialstruktur ist kaum plausibel. Neben den durch die Katalonien-Krise verursachten Dynamiken dürfte diese Verschiebung vor allem dadurch bedingt sein, dass anders als zuvor nun ein Angebot vorhanden ist, das eine zuvor zwar bestehende, aber politisch unwirksame Nachfrage aktiviert. Auch der rasante Aufstieg der AfD in Deutschland ist nicht auf entsprechend immense nachfrageseitige Verschiebungen zwischen 2012 und 2017 zurückzuführen, sondern nur mit Blick auf die Dynamiken der Partei selbst zu verstehen. Andersherum sind die grundlegenden länderübergreifenden Veränderungen in der Rechten ohne eine Einbeziehung nachfrageseitiger Dynamiken nicht zu erklären. Daher betont Mudde die Betrachtung der Angebotsseite vor allem als Korrektiv für eine allzu starke Fokussierung auf die Nachfrageseite. Im Endeffekt plädiert er dafür, Nachfrageseite, äußere Angebotsseite (wie positionieren sich die anderen Parteien), innere Angebotsseite (wie positionieren sich die Rechtsparteien) sowie kurzfristige politische (Krisen-)Dynamiken zusammenzudenken.

Zweitens positioniert sich Mudde regelmäßig gegen einen medialen, publizistischen und wissenschaftlichen Hype um die Far Right, der dieser letztlich helfe. Während sich also die meisten Forscher_innen wünschen, dass ihr Gebiet endlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhält, wünscht sich Mudde zumindest etwas weniger von bestimmten Formen der Aufmerksamkeit. Dieses Unterfangen ist nicht paradox: Zwar erzeugt Mudde mit seinem eigenen Wirken inklusive des vorliegenden Buches immer wieder neue Aufmerksamkeit, jedoch geht dies erkennbar mit dem Bestreben einher, die Art der Aufmerksamkeit zu verändern – hin zu einer Betrachtung, die er für sachlich hält und die die von der Far Right für die Demokratie ausgehende Gefahr weder übertreibt noch verharmlost (eine goldene Mitte, die freilich die meisten für sich beanspruchen würden).

Definitionen und Kategorisierungen

In der gegenwärtigen Debatte wird Mudde in erster Linie für seine Definition des Populismusbegriffes zitiert – dieser zufolge ist Populismus eine dünne Ideologie, die einen Gegensatz zwischen einem als homogen gedachten guten Volk und einer korrupten Elite konstruiert und die die Herstellung echter Volkssouveränität einfordert. Jedoch betont Mudde bereits seit einiger Zeit, dass politische Gegenwartsdiagnosen weniger auf Populismus als vielmehr auf den Aufstieg und die Normalisierung der Far Right und ihrer Kernideologie des Nativismus zielen sollten – und eben dies tut er im vorliegenden Buch.

Dabei geht er in Anlehnung an Norberto Bobbio davon aus, dass die Linke und Rechte sich in erster Linie durch ihren Blick auf soziale Ungleichheiten unterschieden: Die Linke betrachte diese als künstlich und negativ, die Rechte als natürlich und positiv. Die Rechte unterscheidet Mudde dann zunächst in konservative und liberale Mainstream Right und Far Right. Letztere unterscheide sich von ersterer dadurch, dass sie liberaler Demokratie ablehnend gegenüberstehe. Innerhalb der Far Right seien dann wiederum Radical Right und Extreme Right zu unterscheiden. Die Extreme Right lehne – zum Beispiel als Neofaschismus – Demokratie offen und direkt ab. Die Radical Right dagegen berufe sich durchaus positiv auf Demokratie, lehne aber den Liberalismus ab und stehe somit im Widerspruch zur liberalen Demokratie.

Der Populismus im oben definierten Sinne dagegen liegt quer zu den meisten dieser Unterscheidungen: Populismus könne links oder rechts, Mainstream Right oder Radical Right sein – nur mit der Extreme Right sei er nicht vereinbar, weil er eine positive Berufung auf Demokratie und Volkssouveränität beinhalte.[3]

In der (großen) Schnittmenge von Radical Right und Populismus schält sich das heraus, was seit längerem im Zentrum von Muddes Forschung steht und ihm zufolge die gegenwärtige Far Right dominiert: Die Populist Radical Right. Diese zeichne sich durch eine Kombination aus drei Kernideologien aus: Erstens Nativismus verstanden als ein Nationalismus, der eine Priorisierung der eigentlichen Volkszugehörigen gegenüber migrantischen und anderen Minderheiten einfordert; zweitens Autoritarismus verstanden als Streben nach einer klar geordneten Gesellschaft, in der Abweichung bestraft sind; drittens Populismus im oben genannten Sinne. Der geläufige Begriff des Rechtspopulismus bzw. Right-Wing Populism spielt dagegen bei Mudde nur eine untergeordnete, insbesondere historische Rolle.

Cas Muddes Konzeption zur Kategorisierung von Rechtsparteien

Kontinuitäten und Veränderungen

Mudde zeichnet eine historische Skizze der Transformationen der Far Right nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Dabei unterscheidet er, wie es gängig geworden ist, mehrere „Wellen“: Die erste, als neofaschistisch beschriebene Welle von 1945 bis 1955 umfasste demnach vor allem Anhänger_innen des alten Faschismus und Nazismus, die sich im neuen politischen System zu positionieren suchten, bei Wahlen aber – vom Movimento Sociale Italiano abgesehen – marginal blieben. Die zweite, als rechtspopulistisch charakterisierte Welle von 1955 bis 1980 sei dann weniger von einem „ewiggestrigen“ Festhalten an der faschistischen Vergangenheit als von populistischem Protest gegen bestimmte Aspekte der Nachkriegsgegenwart – etwa Wohlfahrtsstaat und Bürgerrechtsbewegung – getrieben gewesen. Größere Wahlerfolge seien auch hier die Ausnahme geblieben. Dies habe sich erst mit der dritten, als Radical Right benannten Welle von 1980 bis 2000 deutlich geändert, in der sich zunächst in Westeuropa Parteien wie Vlaams Blok/Vlaams Belang, Lega Nord, Freiheitliche Partei Österreichs, Schweizerische Volkspartei und Front National in den Parteiensystemen ihrer Länder etablierten, indem sie eine nativistische Anti-Migrations-Agenda in den Mittelpunkt stellten. Nach der Transformation der mittel- und osteuropäischen Länder seien auch dort Rechtsparteien dieser dritten Welle aufgestiegen, deren Nativismus sich aber weniger gegen Migration als gegen andere Minderheiten im Inneren gerichtet habe. Mit der Jahrtausendwende habe schließlich die aktuell noch andauernde vierte Welle eingesetzt, die durch die Reaktion auf drei Entwicklungen geprägt sei: auf den islamistischen Terrorismus seit 2001, auf die ökonomische Krise seit 2008 und auf die Krise des Migrationsregimes seit 2015. Entsprechend seien die Positionierung gegen Islam und Muslim_innen, die Thematisierung bestimmter ökonomische Dynamiken und die neuerliche Ablehnung von Migration in den Fokus der Mobilisierung gerückt, wobei die Parteien ihre Erfolge in Wahlen abermals steigern konnten.

Neben den angedeuteten ideologischen Transformationen benennt Mudde vor allem in zwei weiteren Bereichen Unterschiede zwischen den Wellen: in der Wähler_innenbasis und im Grad der Marginalisierung bzw. Normalisierung. In Bezug auf die Wähler_innen beobachtet er – die zunehmenden Wahlerfolge lassen kaum einen anderen Schluss zu – eine Verbreiterung der Basis. Zunächst habe sie primär aus Anhänger_innen des alten Faschismus bestanden und sei dann von überproportional von Kleinunternehmer_innen getragen worden. In der dritten Welle habe eine Proletarisierung in dem Sinne stattgefunden, dass die Rechtsparteien nun immer mehr Arbeiter_innen mobilisieren konnten. In der vierten Welle habe sich die Basis dann quer durch alle Klassen ausgeweitet – wobei sowohl die Basis als auch das politische Personal trotz prominenter Ausnahmen disproportional männlich geblieben seien.

Parallel zu diesem Prozess habe auch eine politische Normalisierung der radikal Rechten und ihrer Ideologie stattgefunden. In der ersten Welle seien die Rechtsparteien (von Italien abgesehen) durch einen weitgehenden antifaschistischen Konsens fast völlig isoliert gewesen, was sich auch in der zweiten Welle nicht grundlegend geändert habe. In der dritten Welle sei die Ausgrenzung brüchiger geworden und in der vierten in vielen Ländern gänzlich zusammengebrochen, sodass Parteien der Far Right in verschiedenen Formen an Regierungen beteiligt waren und sind.

Radikal rechte Politik als Normalität und Pathologie

Auch wenn es in The Far Right Today nicht die eine griffige These gibt, so gibt es mit der soeben angesprochenen Frage nach Normalisierung und Mainstreaming von radikal rechten Parteien und ihren Positionen doch einen Themenkomplex, auf den das Buch immer und immer wieder zurückkommt. Seine Zentralität ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass sich fünf der zwölf Thesen im Abschlusskapitel darauf beziehen.

Dabei wiederholt Mudde seine bereits in der Vergangenheit prominent vertretene These, bei der Populist Radical Right handele es sich nicht um eine normale Pathologie, sondern um eine pathologische Normalität. Eine normale Pathologie (Der Begriff stammt aus einem 1967 erschienenen Aufsatz von Scheuch/Klingemann) läge vor, wenn die Far Right in allen Demokratien in stetigem, aber geringem Maße aufträte, dabei aber als klar als stigmatisierte Abweichung von der demokratischen Norm marginalisiert bliebe. Dies könne man in Bezug auf die in den meisten Demokratien präsente und weitgehend marginale Extreme Right tatsächlich sagen, nicht aber in Bezug auf die Radical Right. Diese sei heute in ganz anderer Weise Teil der Normalität liberaler Demokratien: Weder sei sie quantitativ marginal, noch seien die Parteien politisch klar ausgegrenzt (in Deutschland ist dies noch weitgehend der Fall, in vielen anderen Ländern aber nicht), noch seien ihre Inhalte von denen der Mainstream-Parteien kategorisch zu trennen. Nativistische Kampagnen gegen Migration und andere Minderheiten fänden sich eben auch im Mainstream. Zwar seien die Inhalte von Radical Right und Mainstream nicht identisch, aber die Unterschiede seien eher graduell als kategorisch. Mudde spricht sowohl davon, dass die Radical Right Inhalte des Mainstreams radikalisiere, als auch davon, dass der Mainstream Inhalte der Radical Right übernehme und somit normalisiere.

Diese Prozesse seien mitunter so weit fortgeschritten, dass bei einigen Parteien der konservativen Parteienfamilie mittlerweile unklar sei, ob sie nicht selbst der Radical Right zugerechnet werden müssten. Mudde spricht insbesondere von der britischen Conservative Party und den US-amerikanischen Republican Party, in Deutschland könnte man diese Frage auch in Bezug auf die CSU stellen.

Unklarheiten, offene Fragen und Leerstellen

Auch wenn Mudde seine Thesen mit einiger Entschlossenheit und Verweis auf Forschungsliteratur vertritt, bleiben Unklarheiten, offene Fragen und Leerstellen, von denen ich hier vier andeute:

1. In Bezug auf den zentralen Themenbereich von Normalisierung und Mainstreaming stellt sich die Frage, inwiefern nicht die umgekehrte Darstellung ebenso vertretbar wäre: In einem entsprechend weitem Zeithorizont könnte man die These vertreten, dass manche Formen nativistischer Gewalt in liberalen Nachkriegsdemokratien von vornherein völlig normalisiert waren, in den letzten Jahrzehnten aber so weit denormalisiert wurden, dass die entsprechenden Positionen heute als radikal rechts gelten. Beispielhaft sei hier auf das Massaker an über 200 Angehörigen der algerischen Minderheit durch die Pariser Polizei 1961, auf die massive staatliche Gewalt gegen die Bürgerrechtsbewegung in den USA sowie auf den staatlich organisierten Antiziganismus durch restaurierte NS-Behörden in der Bundesrepublik Deutschland verwiesen. All diese staatlich organisierte nativistische Gewalt wurde zu einer Zeit ausgeübt, als die Far Right Mudde zufolge marginal war. Analoges ließe sich auch in Bezug auf weniger drastischen gesellschaftlich normalisierten Nativismus sowie auf autoritäre Normen in den Bereichen Geschlecht und Sexualität konstatieren, die Rechtsparteien heute vertreten. Vor diesem Hintergrund erscheint das Verhältnis von Nativismus, Autoritarismus, Normalität und Far Right in der Nachkriegsgeschichte ambivalenter als es Muddes Darstellung vermuten lässt. Das Verhältnis von Normalisierung und Denormalisierung müsste mit verschiedenen Zeithorizonten in Bezug auf verschiedene Bereiche genauer reflektiert werden. In einigen dürfte der jüngere Aufstieg der Far Right dann eher als ein Rückzugsgefecht denn als Vormarsch erscheinen – oder als Anfang einer gegenläufigen Entwicklung.

2. Mudde legt großen Wert auf genaue Begriffsbildung und eine entsprechende Kategorisierung der Parteien. Dabei zeigen sich zwei Probleme: Zum einen sind viele der Parteien so fluide und unklar zu fassen, dass eine klare Kategorisierbarkeit eher die Ausnahme als die Regel ist; dies gilt umso mehr, weil eine offene Ablehnung der Demokratie politisch sehr nachteilig wäre, sodass Bekenntnisse zur Demokratie in der offiziellen Parteiliteratur zwar nicht unerheblich sind, aber auch nicht für bare Münze genommen werden müssen. Zum anderen ist schon auf rein begrifflicher Ebene zweifelhaft, ob die kategorische Trennung von extremer (also offen antidemokratischer) Rechter und Populismus wirklich so zwingend ist, wie es bei Mudde scheint. Wie Jan-Werner Müller anhand von Carl Schmitts „Demokratietheorie“ dargelegt hat, können das populistische Bekenntnis zur Volksherrschaft und das nationalsozialistische Bekenntnis zum Führerstaat durchaus zusammengehen. Beide Probleme führen dazu, dass Muddes strenge Begriffsbildung manchmal zu schematisch für den fluiden Gegenstand wirkt und mithin droht, das „extreme“ Potenzial „populistischer“ Rechtsparteien wegzudefinieren.

3. Mudde skizziert verschiedene Kontroversen der Forschungsliteratur und löst diese wiederholt so auf, dass die als Gegensätze auftretenden Seiten sich bei genauerer Betrachtung als komplementär erwiesen. Dies ist insgesamt überzeugend und könnte manchem Verrennen in Sackgassen vorbeugen. An einigen Stellen geht es aber etwas zu schnell und harmonisch. So löst Mudde die Kontroverse zwischen der Protestwahlthese (die rechten Parteien werden nur gewählt, um die Ablehnung gegen den Mainstream auszudrücken) und Überzeugungswahlthese (die rechten Parteien werden aus Zustimmung zu ihrer Ideologie gewählt) so auf, dass beides vereinbar sei: Die Wähler_innen könnten ja gerade gegen die Mainstream-Parteien protestieren, weil sie sich in ihrer radikal rechten Einstellung durch diese nicht repräsentiert sähen, und ihre Stimme den Rechten entsprechend zugleich aus Zustimmung zu deren Ideologie geben. Hinter dieser Synthese verschwindet aber der begrifflich plausible und empirisch beobachtbare Unterschied zwischen Fällen, in denen Wähler_innen mehr von der frustrierten Ablehnung der anderen Parteien oder mehr von der überzeugten Zustimmung zur Ideologie der Rechtsparteien motiviert sind (ohne dass man das eine deswegen für weniger problematisch halten müsste als das andere).

4. Mudde wählt eine relativ breit international vergleichende Perspektive, wobei er sich auf (mehr oder minder) liberale Demokratien mit gegenwärtig aktiven dezidierten Rechtsparteien beschränkt – also insbesondere auf Länder der Europäischen Union und Nordamerikas sowie auf Israel, Indien, Australien, Brasilien und Japan. In diesem breiten Panorama bildet die Türkei eine eigenartige Leerstelle: Mudde erwähnt sie nur, wenn er im Verhältnis von Religion und Far Right kurz auf die MHP als (mittlerweile) dezidiert islamische Partei der Far Right eingeht. Die regierende AKP bleibt aber außen vor, obwohl sie doch die zentralen Kriterien für Populist Radical Right Parties (Nativismus, Autoritarismus, Populismus) erfüllen dürfte und auch im internationalen Kontext betrachtet erhebliche Bedeutung hat. Ebenso wäre eine Einordnung anderer islamistischer Parteien (wie etwa der Ennahda im zunehmend liberaldemokratischen Tunesien) von Interesse gewesen.

Fazit

Unterm Strich ist Cas Muddes The Far Right Today für verschiedene Leser_innengruppen eine lohnende Lektüre: Wer die Forschungsdebatte der letzten Jahrzehnte nicht oder nur Bruchstückhaft kennt (also die meisten von uns) erhält hier einen knappen Überblick mit zahlreichen Verweisen zum Weiterlesen. Wer die Debatte doch umfänglich kennt (und wer tut das schon?), erhält ein komprimiertes Update zu Muddes 2007 erschienenem und sehr viel umfangreicherem Buch Populist Radical Right Parties in Europe sowie dem 2016 erschienenen Reader The Populist Radical Right.


[1] Oft wird vergessen, dass dies zu Beginn der Bundesrepublik durchaus Teil der Normalität war, zwischen 1961 und 2017 gab es im Bundestag jedoch keine Fraktion rechts der Union.

[2] Ein anderer Faktor dürften Publikationszwänge und die sich dadurch verstärkende Tendenz zu „Quick-and-Dirty“-Schnellschüssen sein, der wir alle unterliegen.

[3] Wie Mudde in Populist Radical Right Parties in Europe ausführlicher darlegt, hält er von der seiner Ansicht nach selbstwidersprüchlichen Kombination populistisch und extrem abgesehen fast alle anderen Möglichkeiten für plausibel und sieht auch empirische Beispiele: populistische radikale Rechte, populistische, aber nicht radikale Rechte (etwa als neoliberaler Populismus), nichtpopulistische radikale Rechte (etwa als Befürwortung nativistischer Elitendemokratie) und nichtpopulistische nichtradikale Rechte (als Mainstream-Konservatismus).

2 Gedanken zu „Ein kurzer Überblick über den aktuellen Zustand des Rades anstatt eines weiteren Entwurfs für seine Neuerfindung: Cas Muddes „The Far Right Today““

  1. Theorie und Empirie!

    Eine Reduktion der Komplexität als Zusammenfassung zu „Cas Mudde“ von Dr. Biskamp:

    „Wollte man dem Buch doch eine einzige These zuschreiben, müsste diese gerade lauten, dass das Phänomen zu widersprüchlich und vielfältig ist, als dass irgendeine One-size-fits-all-Deutung aufrechtzuerhalten wäre.“

    Sie führt allerdings wieder zur bekannten und von mir bereits erwähnten, antiwissenschaftlichen Pluralismus- und Komplexitätsideologie zeitgenössischer konstruktivistischer Soziologie.

    Aus Hypothesen auf der Basis plausibler Theorien werden aus empirisch erfassten statistischen KORRELATIONEN durch die Methodologie der kausalen Inferenz statistische KAUSALITÄTEN.

    Judea Pearl beschreibt dies eingehend in seinem Buch mit seinem Konzept der „ladder of causation“:
    https://www.amazon.de/Book-Why-Science-Cause-Effect/dp/046509760X/ref=sr_1_1?__mk_de_DE=ÅMÅŽÕÑ&crid=SODMJPLCQ42C&keywords=judea+pearl&qid=1568108440&s=gateway&sprefix=judea%2Caps%2C264&sr=8-1.

    Diese Vorgehensweise impliziert eine Einheit von Theorie und Empirie, informationstechnisch formuliert von „Modell und Daten“, die in der Soziologie keineswegs gegeben ist, wie die Abspaltung der „Akademie für Soziologie“ eindrucksvoll beweist.

    Dem operanten Konstruktivismus der deontologisierten Systemtheorie fehlt für sein riesiges Begriffs-Kartenhaus die anschlussfähige Empirie.

    Der quantitativen wie der qualitativen Soziologie fehlt eine ontologisch/epistemologische fundierte Theorie, die statistische Daten für kausale Zusammenhänge WISSENSCHAFTLICH-ERKLÄREND nutzen kann.

    Meine falsifizierbare Hypothese für die Ursache dieses unerträglichen Zustandes:

    „Der Konstruktivismus ist eine Geisteskrankheit der Intellektuellen, denen der realistische, intuitive Zugang zum Ganzen fehlt!“

    Erst spät habe ich als langjähriges Mensa-Mitglied (seit 1985) mit Verwunderung festgestellt, dass viele IQ-Hochbegabte bei nichtlinearer Komplexität vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen!

    Sie können dann ein Thema nicht der historischen Situation entsprechend zu Ende denken und Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden bzw. gelangen nicht von der Analyse zu einer realistischen Synthese.
    Die Differenz von eindimensionalem Relativismus und ontologisch-hierarchischer Relativierung wird nicht begriffen.

    Ihnen fehlt das für die ganzheitliche Erfassung der jeweiligen Komplexität notwendige Abstraktionsvermögen.

    Der durch Kant angestoßene anthropozentrische Größenwahn des Menschen, erreicht im kindischen, postmodernen Relativismus/Konstruktivismus seinen derzeitigen Höhepunkt.

    Ernst von Glasersfeld z.B., der Konstruktivist ist, hält Kant für einen Vorläufer des Konstruktivismus. Siehe dessen „Konstruktivistische Gedanken bei Kant“ (Manuskript, S. 1 von 3): „Was mich stets interessierte, war aufzuzeigen, dass Kant immmer wieder Gedanken formulierte, die ganz in die konstruktivistische Denkweise passen.“ Als Beleg zitiert von Glasersfeld eine Passage aus Kants „Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen“: „Dieser Verstand aber ist ein gänzlich actives Vermögen des Menschen; alle seine Vorstellungen und Begriffe sind bloss seine Geschöpfe, der Mensch denkt mit seinem Verstand ursprünglich, und er schafft sich also seine Welt.“

    Die Welt von Pippi Langstrumpf und der Villa Kunterbunt könnte nicht besser beschrieben werden.

    Kein Realist leugnet, dass es verschiedene Perspektiven bei der Annäherung an objektive Realitäten und Wahrheiten gibt.
    Ob das Glas Wasser als halb voll oder halb leer SUBJEKTIV wahrgenommen wird, ändert aber NICHTS an der Tatsache, dass eine bestimmte Menge Wasser OBJEKTIV messbar im Glas vorhanden ist.

    Ein Konstruktivist verwechselt die phänomenologische Ebene des „wie nehme ich wahr“ (Epistemologie) mit der realistischen Ebene des „was nehme ich wahr“ (Ontologie).

    Der dominierende Sozialkonstruktivismus in der zeitgenössischen akademischen Soziologie entpuppt sich damit als Sackgasse für die Soziologie als WISSENSCHAFT: http://bds-soz.de/wp-content/uploads/2016/06/SOZIOLOGIEHEUTE_FEBERausgabe2017_Schwartz.pdf.

    Ein prägnantes Beispiel ist Niklas Luhmann, bei dem persönlich ich damals aus Überzeugung studiert habe und der mittlerweile zum Kult für bodenlose, narzisstische Intellektualisten geworden ist.

    Sein ÄQUIVALENZfunktionalismus ist ein wunderbares Beispiel für die unabweisbare Tatsache, dass der Konstruktivismus ein infantiles, antirealistisches, geisteskrankes Glücksspiel (natürlich auf höchstem Niveau) ist, in dem 6 Richtige im Lotto so wahrscheinlich erscheinen wie 3 Richtige!

    Eine KomplexitätsIDEOLOGIE ist das Ergebnis seiner Wirkung (http://bds-soz.de/?p=1060).

    Der intellektualistische Konstruktivismus-Kaiser ist WISSENSCHAFTLICH nackt und die Intellektuellen bewundern seine Kleider!

    Diese Erfahrung deckt sich mit den philosophischen Spekulationen des genialen Logikers Kurt Gödel (Unvollständigkeitstheoreme), der die unaufhebbare Differenz zwischen Wahrheit und Beweis logisch-mathematisch bewiesen hat.

    Er spricht im Rahmen seiner rationalen Metaphysik beim Zugang zur Wahrheit von der rationalen Intuition auf der Basis von Erfahrung UND Abstraktionsvermögen als unabdingbare Voraussetzung für die realistische Entdeckung objektiver Wahrheiten und Realitäten.

    Weitere Beispiele für die Geisteskrankheit: https://soziologiedesunbewussten.blogspot.com/2019/06/konstruktivistischer-schwachsinn.html

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