Manche Hochschulpolitiker*innen haben angesichts der Coronakrise gehofft, dass alle Internetmuffel, von denen es selbst in der Wissenschaft noch viele geben soll, jetzt endlich (ein)sähen, wie wertvoll und tragfähig Onlineportale sind, dass man mit ihrer Hilfe genauso gut kommunizieren könne wie leibhaftig, dass man in Zukunft Reisen und Räume (ein)sparen könne, weil alle eingesehen hätten, dass Telefon- und Videokonferenzen so effektiv sind. Kämmerer teilen diese Sicht der Dinge, Forschende eher weniger.
Mir scheint, dass sich der kameralistische Optimismus zu früh freut, einfach deshalb, weil es keinen Grund für Optimismus gibt. Deutliche Zeichen für eine tiefgreifende Desillusionierung sieht man nämlich schon nach ein paar Wochen digitaler Forschung via Skype, Zoom, Microsoft Teams oder Abobe Connect etc. Viele Kollegen*innen fürchten mittlerweile die (vielen) Videokonferenzen – nicht nur, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes heftige Kopfschmerzen verursachen, sondern auch, weil die Erfahrung zeigt, dass Videokonferenzen, aber auch Telefonkonferenzen, fürchterlich anstrengendsind, dass sie in vieler Hinsicht mehr Arbeit mit sich bringen und dabei nur begrenzt effektiv sind. Sicherlich bringen Telefon- und Videokonferenzen auch eine Reihe von Vorteilen und eröffnen neue Möglichkeiten – dennoch können sie m.E. nur Krücken sein, die dann sinnvoll sind, wenn man anders nicht weiterkommt. Ob diese neuen Möglichkeiten die durch sie verursachten Probleme aufwiegen, das muss die Zukunft zeigen.
Natürlich ist es nicht egal, ob man sich einer Video- oder Telefonkonferenz bedient. Das sind zwei deutlich verschiedene Medien, die Unterschiedliches ermöglichen und deshalb auch andere Folgen haben: Nutzen und Nachteile dieser Medien hängen von verschiedenen Faktoren ab. Es macht nämlich einen Unterschied, ob man zu dritt, zu zehnt oder mit dreißig Kollegen*innen kommuniziert. Es macht auch einen Unterschied, ob man anweisen, sich absprechen, gemeinsam diskutieren oder gemeinsam interpretieren will. Und es macht einen Unterschied, ob Vorgesetzte anwesend sind oder nicht. Gruppengröße, die kommunikative Gattung und die soziale Gliederung der Gruppe sind also relevante Faktoren – alles Faktoren, die auch für gemeinsame Kommunikation unter Anwesenden relevant sind. Welche Folgen sie für die einzelnen Formen der medialen wie nichtmedialen Handlungsabstimmung haben, ist bislang nur in Ansätzen untersucht worden. Sicher ist nur, dass diese Medien sich in Form und Leistung signifikant voneinander unterscheiden, schon allein dadurch, dass sie einige Handlungen möglich und andere unmöglich machen, dass sie also Kommunikation durch ihr Medienformat formatieren. Sie besitzen nicht nur einen eigenen zwingenden Blick, sondern haben auch eine jeweils spezifische Gestaltungskraft. Schon allein deshalb kann man nicht generalisieren, weder von einem Medium auf das andere, noch von einer kommunikativen Gattung auf die andere, noch von einer kleinen Gruppe auf eine große. Vermuten kann man allerdings, dass Video- und Telefonkonferenzen sich besser für Mitteilungen, Anweisungen, Vorträge und Absprachen eignen, während sie überall dort, wo aktive Zusammenarbeit und gemeinsame Problemlösungen angestrebt werden, nicht so überzeugend ist.
Aber hier ist noch viel zu forschen.
Weil man also sich vor schnellen Generalisierungen hüten sollte, werde ich mich im Weiteren auf die Stärken und Schwächen der digitalen Handlungsabstimmung bei kollaborativen Forschungsprozessenkonzentrieren – und dabei vor allem Videokonferenzen im Blick haben. Ich werde also solche Prozesse betrachten, in denen gemeinsam Texte, Bilder oder Videos gemeinsam in einer Gruppe ausgewertetwerden – eine Methode, die in der qualitativen/interpretativen Sozialforschung sehr weit verbreitet ist und die von der Unterstellung lebt, dass jeder und jede der Gruppe kompetent ist, Bedeutsames beizutragen.
Erst einmal und ganz trivial und alltäglich - trotz aller Versprechungen von Anbietern der Hard- und Software solcher Plattformen funktioniert die Technik oft nur sehr ruckelnd. Manchmal geht überhaupt nichts und man endet unverrichteter Dinge. Meist jedoch vergeht erst eine längere Zeit, bis alle zu sehen und zu hören sind. Aber selbst, wenn alle Verbindungen stehen, schalten sich immer wieder Bild und Ton ab. Hinzu kommt, dass die Übertragungskapazitäten oft überfordert sind, was an der Hardware der einzelnen Teilnehmer*innen liegen kann, an deren Internetverbindungen und Providerverträgen, aber auch der Kapazität der jeweiligen Plattform und der jeweiligen Tages- und Wochenzeit. Das ist alles bekannt und das wird sich mit der Zeit und mit Erfahrung sicherlich minimieren. Aber sicher ist auch, dass es nie völlig auszuschalten ist.
Wenn dann, neben der Bild- und Tonverbindung auch noch besondere Anforderungen hinzukommen, nämlich dass man in einer Gruppe von 6-10 Personen gemeinsam einen Text oder gar ein Video analysieren möchte, dann bricht meist die jeweilige Plattform zusammen. Mir ist es bislang noch nicht gelungen, ein stabiles Software-Paket zu finden, das in der Lage ist, mehrere Menschen zusammenzubringen, die gleichzeitig einen Film ansehen und diesen Film gemeinsam interpretieren können. (Hinweise sind sehr willkommen!!) Oft muss man Zwischenlösungen erfinden. Eine Variante von uns: alle Teilnehmenden haben auf ihren Rechnern den zu analysierenden Film (was Datenschützern den Schweiß auf die Stirn treibt) und man schaut sich in mühevoller Kleinarbeit mittels Zeitleiste gemeinsam bestimmte Teile des Videos auf dem eigenen Rechner an interpretiert dann gemeinsam den Film. Das bringt eine Fülle von Verweisungsproblem mit sich, das führt zu Wiederholungen, zu Ungenauigkeiten und zu Missverständnissen – was natürlich viel Zeit (und Nerven) kostet.
Videokonferenzen gibt es (im Hinblick auf die eröffneten kommunikativen Bahnen) zwei sich stark unterscheidenden Idealtypen: Auf der einen Seite gibt es die, welche ohne eine/n Administrator*in arbeiten und bei denen alle Beteiligten ihr Mikrophon und ihre Kamera eingeschaltet haben; auf der anderen Seite gibt es die, bei denen ein/e Administrator*in alle Beteiligten einlädt und dann explizit zulässt. Zudem haben die Administrator*innen das Recht, das Bild und den Ton der Beteiligten abzustellen bzw. die Beteiligten haben die Möglichkeit, ihr Bild und ihren Ton abzustellen. Jedes Setting hat Vor-und Nachteile, die sich auf die Zielerreichung deutlich auswirken.
Besonders gut kann man diese Vor- und Nachteile bei der Organisation des Sprecherwechsels beobachten. Von der Kommunikationswissenschaft, die schon seit einiger Zeit Videokonferenzenuntersucht, ist wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, dass ein Hauptproblem von Videokonferenzen darin besteht, dass die turn-taking-machinery, also der ‚Mechanismus‘, der den Sprecherwechsel erleichtert, nicht mehr reibungslos funktioniert. Kann man bei gegenseitiger Anwesenheit durch Körperspannung, Augenkontakt, Räuspern oder Knacklautekenntlich machen, dass man sprechen will, sodass der jeweils Sprechende sich darauf einstellen kann (und gegebenenfalls schneller weiterspricht oder eine Pause macht), so sind diese vorsprachlichen Formen der Anmeldung von Kommunikationsabsichten bei Videokonferenzen kaum einsetzbar - vor allem, weil man in Videokonferenzen andere nicht implizit adressieren kann, sondern nur explizit.
Es gibt nicht die Möglichkeit, jemanden anzusehen oder auf jemanden zu zeigen oder sich auf jemanden auszurichten, man kann sich nur an der Kamera ausrichten. Niemand, der auf seinem Bildschirm mein Kamerabild sie, weiß, wen ich adressieren möchte, außer ich nenne explizit einen Namen. Kurz: Die Verständigungsarbeit oder besser: die Arbeit zur Herstellung einer aufeinander bezogenen Kommunikation, eines kommunikativen Mit- und Gegeneinanders, erfordert sehr viel mehr Aufmerksamkeit für die anderen Beteiligten, aber auch für mich selbst. Aus einer habituellen Routine, die bei leibhaftiger Kommunikation im Vollzug ist, wird ein bewusstes Agieren, ein bewusstes Gestalten der Konversation, und das während der gesamten Videokonferenz.
Aber auch die anderen, sehr viel direkteren Mittel der Erreichung des Sprecherwechsels können (abhängig vom Setting der Videokonferenz) nicht eingesetzt werden. In der Kommunikation unter Anwesenden kann man nämlich seinen Wunsch zur Redeübernahe dadurch anmelden, dass man während der andere noch spricht, ein, zwei oder drei Wörter äußert und dann abbricht und darauf hofft, dass der andere seinen Beitrag beendet und einen sprechen lässt. Die zweite, sehr viel aggressivere Variante des Gleichzeitigsprechens besteht darin, nicht nach 3 Wörtern aufzuhören, sondern so lange weiterzusprechen bis der andere seinen Beitrag beendet und man selbst dann alleine weitersprechen kann. Weil dieses aggressive Einfordern der Redeberechtigung, dieser Kampf um das Rederecht, immer möglich ist, geraten die Sprechenden leicht unter Druck, ihr Rederecht behaupten zu müssen, was leicht dazu führt, dass sie schnell und ohne Pause sprechen. Auf jeden Fall produziert dieser permanente Kampf ums Rederecht einen Druck, den viele Gesprächsteilnehmer*innen als belastend empfinden und sich deshalb nicht äußern.
Die Strukturierung der Kommunikation durch einen Administrator, bei dem man sich melden muss und der jeden in der Reihenfolge der Meldung zu Wort kommen lässt, überlässt den Verlauf der Kommunikation nicht der situativen Dynamik, dem immer unberechenbaren Kampf ums Rederecht, sondern sichert jedem/r das Recht, das zu sagen, was er/sie sagen möchte – was manchmal zur Folge hat, dass die jeweils Sprechenden nicht oder nur sehr spät zu Ende kommen. Eine weitere Folge dieser Kommunikation mit Anmeldung und Aufruf nach Reihenfolge ist, dass die Beiträge nicht mehr zueinander passen, weil man auf etwas antwortet, was vor sieben Beiträgen angesprochen wurde, und dass die Kommunikation keine Dynamik entwickelt, weil es nicht zu Worten und passenden Widerworten kommt.
Ein guter Gesprächsmoderator von Diskussionen unter Anwesenden versucht mit seiner Arbeit der Gesprächsorganisation zu erreichen, dass einerseits die Dynamik der Kommunikation erhalten bleibt, dass er also spontane Einwürfe zulässt, dass andererseits aber jeder und jede zu Wort kommt und nicht unterbrochen wird. Dies ist allerdings bei Videokonferenzen nur möglich, wenn alle ihr Mikrophon eingeschaltet haben, was aber in der Regel nicht erlaubt ist.
In Videokonferenzen hängt das Ausmaß der individuellen konversationellen Gestaltungsarbeit davon ab, ob sie an einen Administrator delegiert wird oder ob sie von den Teilnehmenden selbst zu leisten ist. Darüber hinaus müssen alle Teilnehmenden aber auch zusätzliche Darstellungsarbeiten erbringen – was einige dazu bringt, bei Videokonferenzen prinzipiell die Bildübertragung zu verweigern. Und das aus gutem Grund: Da niemand sehen kann, wer einen gerade ansieht, wie lange man angesehen wird und welche Teile des Körpers angesehen werden, muss sich jede und jeder auf den Umstand einstellen, dass sie den Blicken der anderen ausgeliefert sind – was zur Folge hat, dass die Teilnehmenden die Arbeit an der Gestaltung des eigenen Bildes (inklusive Hintergrund und Requisiten) erheblich ausweiten und forcieren müssen. Auch das macht die Teilnahme an den Videokonferenzen so anstrengend.
Jetzt zu den Vorteilen: Videokonferenzen sind per Definition erst einmal unkörperlich, was zur Folge hat, dass alle Effekte, die das Sich-körperlich-nahe -Sein mit sich bringen, in Videokonferenzen gemindert sind oder gar verschwinden. Man braucht sich nicht zu fürchten, dass andere einen anschreien oder berühren oder gar schlagen. Man kann den anderen einfach abschalten, wenn er/sie einem nicht mehr passt und: man kann sich mehr trauen. Das (zusammen mit der bereits oben beschriebenen Befreiung vom Kampf ums Rederecht) entlastet einerseits und bringt viele dazu, sich zu beteiligen. Manche, die ansonsten, wenn man leibhaftig zusammen ist, wenig sagen, äußern sich auf einmal sehr viel mehr. Andere, die bislang weniger beitragen wollten, können jetzt, insbesondere wenn Medienkompetenz verlangt wird, sehr viel zentraler werden.
Videokonferenzen verlaufen also sequentiell – oft sehr strikt. Damit schwinden Körpermacht, die soziale Macht und auch die Kommunikationsmacht. Das hat neben einigen Nachteilen auch erhebliche Vorteile: So erleben manche Videokonferenzen als sehr entspannt, da sie sich zurücklehnen, nebenbei unbemerkt an etwas anderes denken, sogar unbemerkt andere Dinge tun können, wie E-Mails beantworten, Bücher lesen oder aufräumen. Kurz: Man kann sich in Videokonferenzen, insbesondere wenn Mikrofon und/oder das Bild ausgeschaltet sind, sehr leicht der Interaktion und dem damit verbundenen Zwang zum Weiteragieren entziehen. Man kann sich also innerlich abschalten, mit Ton und Bild noch als Fassade anwesend sein, aber nicht mehr mit Herz und Verstand – sozusagen ein Potemkinsches Dorf aufbauen – dies im Übrigen nicht, um Mit-Arbeit zu verweigern, sondern weil man eine Pause von den vielfältigen neuen Gestaltungsarbeiten braucht.
Unter dem Strich ist jedoch für mich entscheidend, dass bei allen Vorteilen der Hauptnachteil der Videokommunikation darin besteht, dass die Atmosphäre des auch körperlichen Zusammenseins nicht entstehen kann, dass jede/r in ihrem/seinem Kontext verankert bleibt und damit auch in ihrer/seiner Sinnprovinz. Wohl deshalb kommt es in Videokonferenzen nicht zu dem für die Forschungsarbeit notwendigen Flow der Zusammenarbeit, also nicht zu dem Prozess, bei dem die Gedanken und die Sätze aller Beteiligten sich verbinden und ergänzen und dass dann gemeinsam etwas erkannt wird, das man alleine nie gesehen hätte. Die Lust an der Entdeckung verbreitet sich nicht per Videokanal, ebenso wenig wie die Lust auf‘s Weitermachen, welche die Kommunikation vorantreibt. Videokonferenzen sind für das Aufkommen eines produktiven Flows von gemeinsamer Forschung ein ungünstiges Habitat. Deshalb macht es Sinn, neben dem Digitalen analoge Formen des Zusammentreffens zu finden, bei denen die Lust am Forschen ansteckend ist.