Galileo Galilei ist schon vor einer Weile in höhere Gefilde entrückt (am 8.1.1642). Um ihn soll es hier also eher nicht gehen. Thema ist vielmehr das eben (gestern 12.30 http://is.gd/dlMEsw), befördert von einer russischen Sojusrakete, gesteuert vom oberbayerischen Oberpfaffenhofen aus und gestartet in Französisch-Guyana (das ist Globalisierung), mit ersten Satelitten im Orbit platzierte europäische Navigationssystem gleichen Namens (siehe auch dieses video).
Nach dem bisher dominierenden GPS (USA) und dem russischen Glonass ist dies offiziell ein rein nichtmilitärisches europäisches System mit vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten (Verkehr, Telekommunikation, Landwirtschaft, Fischerei usw., lauter nützliche Dinge, so heisst es). Die nicht wenigen technischen und technologiepolitischen Kritiken an dem erst mit großer Verzögerung nun gestarteten Galileo brauchen hier nicht Thema sein, dazu wird man in den nächsten Tagen manches lesen bzw. hören und sehen (falls man noch ein TV benutzt) können.
Nehmen wir Galileo vielmehr zum Anlass für einige allgemeinere soziologische Überlegungen:
Vermutlich werden die mit dem neuen System vielleicht tatsächlich verbesserten technischen Ortungssysteme noch weitreichend Spuren in der Gesellschaft und im Leben ihrer Mitglieder hinterlassen, als die auch schon mit den erstaunlichen Möglichkeiten durch GPS. Man muss keine technologischer Visionär sein, um zu erwarten, dass der jetzige Schritt vor dem Hintergrund der sich auftuenden technischen Möglichkeiten einmal als lächerlich anmutender erster Schritt in eine völlig neue Qualität der Technisierung des alltäglichen Lebens erscheinen wird. Das wird spätestens dann Realität, wenn komplementär zu den Systemen im Orbit unten bei uns flächendeckend aktiv sendende Miniprozessoren (z.B. als RFID) in all unsere Alltagsdinge und irgendwann auch in unsere Körper eingebaut sind (Ubiquitäres oder Pervasive Computing). Nehmen wir aber nur das, was man jetzt schon erkennen kann.
Auf ersten Blick und für den unbefangenen Enduser wird es viele Vorteile geben:
- Die Navis im Auto werden besser funktionieren und uns seltener mit nerviger Stimme (wie Prediger am Straßenrand) zur Umkehr auffordern falls wir vom rechten Weg abkommen. Vielleicht suchen sich die Fahrzeuge demnächst auch den Weg selbst, einparken können sie ja schon. Aber auch die Ortungssysteme für Fahrrad und inzwischen sogar verzweifelte Fußgänger werden immer präziser werden (erst einmal wohl ohne Parkpilot). Nie wieder wird es passieren, dass man ein Restaurant mit nordostthailändischer Küche in einer südwestsächsischen Kleinstadt sucht und hilflos umherirren muss, bis man eines findet oder gar gezwungen ist, in ein banale deutsche Pizzeria zu gehen.
- Die Ortung gestohlener Autors, Handys oder Designerklamotten wird erleichtert, von den nun leicht aufzufinden Unfallopfern auf Autobahnen oder Berg- und Urwaldpfaden gar nicht zu reden. Die Suche nach entlaufenen Kindern, Omas und Hunden oder nach verlegten Schlüsseln, Laptops und Brillenetuis wird kein Problem mehr sein. Und natürlich begrüßen wir es, wenn Serientäter aller Art (vermutlich keine Banker) auf wenige Meter genau und just-in-time per Fußfessel zu orten sind – was zwar üble Taten nicht verhindert, hinterher aber die juristische Zuordnung erleichtert.
- Menschen mit Orientierungsproblemen aller Art (weibliche wie männliche) können immer genauer und absolut zeitnah wissen, wo sie sind und wohin es mit ihnen geht (vorausgesetzt, sie wissen, wohin sie wollen). Daraus kann man sich einen großen Spaß mittels Geocaching (auch hier) machen, wobei das lästige Hinterlegen von verrottungsbedrohten Markierungen (Schnitzeljagd) entfällt. Man ist in freier Natur und lässt den Blick entspannt über die Anzeige des GPS streifen. Kindergeburtstage werden zum großen Technoabenteuer – als Computerpiel im Grünen mit dem Ziel McDonalds.
- Schon bald wird der Chirurg seine minimalisierten Instrumente bei der minimalinvasiven Operation mittels GPS (sorry: natürlich per Galileo) ohne an der Gefäßwand anzustoßen durch unserer Aterien navigieren – vielleicht sogar in kollegialer Kooperation mit dem ferngesteuerten RoboDoc, dort wo sich Kliniken keine humanen Mediziner mehr leisten wollen und statt dessen auf Humanoide (sie hier oder hier bei Übungen zur Hausarbeit) setzen.
Die Liste der möglichen Fortschritte wäre leicht zu erweitern, aber als Soziologen/innen sollten wir dann doch einige kritische Anmerkungen zu möglichen gesellschaftlichen Folgen nicht unterlassen. Wer dabei an Foucault denken wird, liegt nicht ganz falsch, auch wenn seine Idee einer Kontrollgesellschaft angesichts dessen, was da am Horizont der technischen Möglichkeiten auftaucht nur noch ein müdes Gähnen auslöst:
- Diverse Behörden könnten nun weniger Probleme haben, Personen (vielleicht sogar uns) zu finden und zu überwachen – was mit Datenschutzargumenten zu kritisieren, vermutlich aber nicht zu verhindern ist. Natürlich wird sich auch das Militär freuen, weil die diversen Drohnen (demnächst auch in Insektengrösse) oder andersartige autonome Kampfmaschinen nun perfekter funktionieren (ok, angeblich nicht direkt per Galileo, aber vermutlich mittels gekoppelter System) – und sei es auch nur, um leichter Verwundete aus Kampfzonen zu bergen oder Minen zu entschärfen (wogegen wir natürlich nicht das Geringste einwenden).
- Auch forschrittliche Kriminelle, die sich für unseren Aufenthalt oder den unserer Gadgets und Kreditkarten interessieren, werden sich über die neuen technischen Möglichkeiten freuen, nachdem man ihnen zunehmend den Spaß mit den Geldautomaten verleidet hat.
- Manch kontrollsüchtige Arbeitgeber – oder auch eifersüchtige Lebens- und Bettpartner – wird sich fragen, wie man nun perfekter als bisher erfassen kann, wo sich die jeweiligen Objekte der Begierde aufhalten und was sie so treiben. Das wird zwar schon jetzt in mehr Bereichen mit Erfolg praktiziert, als der Laie meint (siehe hier auch hier), es könnte aber wesentlich konsequenter und flächendeckender eingesetzt werden, was die Attraktivität des Standorts Deutschland weiter erhöhen könnte (ist der Professor wirklich im vorgeschriebenen Seminarraum, und wann hat er mit dem Seminar angefangen?).
- Die Verkehrsminister liebäugeln schon länger mit Systemen, die das Verkehrsverhalten der Bürger in jedem Detail erfassen, vor allem, um entsprechende Gebühren erheben zu können (was natürlich dem Klimaschutz dient). Die Polizei wünscht sich die perfekte kontinuierliche Geschwindigkeits- und Parkkontrolle und mancher Finanzminister würde gerne die Wege unser Barschaften verfolgen, etwa wenn sie sich dem südwestlichen Rand der Republik nähern.
- Dass der soeben selig gesprochene Steve Jobs mit seinem IT-Unternehmen (wie alle anderen Konzerne natürlich auch) schon lange ständig die Ortungsdaten unserer elektronischen Begleiter erfasst (was auch Staatsanwälte begierig macht), hatte sich schon rumgesprochen – auch dass es dabei nicht nur um das nächste Thairestaurant ging (s.o.) oder die Verabredung der Friends zum Flashmob, sondern primär um ein komplettes Abbild unserer alltäglichen Lebensführung. Dass damit ein perfektioniertes Marketing mit präzisierter personengenauer Werbung und eine daran gekoppelte profitträchtige Vermarktung von lokalisierten Personendaten verbunden sind, konnte man wissen, scheint aber nur wenige zu stören (Apple muss ja schließlich auch leben … nach dem Tod von Steve erst recht).
Auch hier könnte der kritische Kritiker noch lange seinen missmutigen Spekulationen freien Lauf lassen, aber das brächte wenig. Zumindest erst mal wenig Neues. Nur ein Gedanke sei an dieser Stelle vorgestellt, den man vielleicht noch nicht im Kopf hatte, wen man an die Möglichkeiten und gesellschaftlichen Folgen perfektionierter Lokalisierungstechnologien denkt:
So hilfreich die technischen Möglichkeiten der Lokalisierung und Orientierung sein mögen – zunächst einmal ohne Blick auf problematische Folgen aller Art, eines werden sie sicher auch bewirken: sie nehmen uns die Navigation im Alltag auf fast allen Ebenen ab. Das kann den Alltag erleichtern, kann aber auch dazu führen, dass nach und nach die intuitive Fähigkeit von Menschen zur alltagspraktischen Orientierung weiter verkümmert. Schon jetzt gibt es immer häufiger Taxifahrer, die ohne Navi selbst markante Orte ihrer Stadt nicht mehr finden. Und erfahrene Verkehrspiloten und Schiffskapitäne berichten davon, dass jüngere Kollegen die Fähigkeit zur Navigation verlieren (oder nicht mehr entwickeln) und ohne die Unterstützung der Leitsysteme völlig „aufgeschmissen“ seien. Noch nie waren die technischen Hilfen für diese Funktionen so perfekt wie zur Zeit, aber ausfallen dürfen sie bitte nicht.
Gemeint ist aber nicht nur der drohende Verlust von traditioneller Navigationskunst und navigatorischem Erfahrungswissen beruflicher Experten, sondern auch die Orientierungsfähigkeit anderer Menschen. Die zunehmende Abhängigkeit von Lokalisierungssystemen im Alltag verhindert, so die Vermutung, die Entwicklung und Schärfung der stark körperbasierten Navigationsfähigkeiten von Menschen. Wir leben nicht mehr in der Wildnis, so dass die hoch entwickelten Orientierungskünste der Jäger- und Sammler oder von Nomaden heute nicht mehr benötigt werden. Aber zumindest darüber nachdenken sollten wir schon, was es für Folgen haben könnte, wenn weithin die intuitive Fähigkeit zur Selbstverortung, Zielfindung, Wegsuche und Kursstabilisierung in den Räumen des Alltags zurückgehen sollte. Spätestens dann wenn die Systeme, woran auch immer man dabei denken mag, versagen oder (was schlimmer ist) unbemerkt unzuverlässig sein sollten, kann es sehr schnell problematisch werden. Die unglaubliche Beliebtheit der technischen Navisysteme (nicht nur bei Männern), etwa in Autos aber auch in unseren Smartphones, kann vor diesem Hintergrund nicht nur als zunehmend offensive Nutzung von praktischen Orientierungshilfen gesehen werden, sondern auch als Sehnsucht nach sicherer Navigation angesichts nahlassenden Vertrauens auf die eignen Fähigkeiten zur Orientierung in einem immer unübersichtlicheren Lebensumfeld, das durch die Nutzung der Systeme zugleich aber erst erzeugt wird.
Was sich vermutlich wie ein Argument in Bezug auf die räumlichen Orientierungsfähigkeiten von Menschen in der Spätmoderne liest, kann man verallgemeinern. Dazu nur eine Andeutung: Spätmoderne Menschen sehen sich in allen Dimensionen (nicht nur räumlich) einer zunehmend überkomplexen und „fluiden“ (Baumann) Welt gegenüber, die sie unter anderem in eine fatale „Drift“ (Sennett) geraten lässt und zu einer höchst anstrengenden dauerhaften „Mobilität“ im weitesten Sinne (also nicht nur räumlich) zwingt. Folge ist eine immer stärker erschwerte Orientierung in Bezug auf sich selbst (Identität), auf den eigenen Lebensweg und im Verhältnis auf ihren jeweiligen sozialen Lebensraum. Mehr denn je erfordert dies eine ausgeprägte individuelle Fähigkeit zur „Navigation“ als Selbstverortung und Zielorientierung im Alltag, zeitgleich mit einer (so hier das Argument) immer geringer ausgeprägten originären Fähigkeit, genau dies leisten zu können. Die drastisch steigende Nachfrage nach professionellen Orientierungshelfern (nach Beratern aller Art nach Coaches, Trainern, Seelsorgern, Heilern, Mentoren, Tutoren und mehr oder weniger esoterischen Therapeuten) kann als Indiz für dieses Problem gesehen werden. Was gelegentlich als Krise des „Sinns des Lebens“ (bekanntlich „42“ http://is.gd/O8Io1Z, was aber wenig weiterhilft) beschrieben wird und sich nicht zuletzt in den ansteigenden Zahlen und Formen psychischer Erkrankungen niederschlägt, kann auch als eine allgemeine Krise der Fähigkeiten und Möglichkeiten zur Selbstverortung und Zielorientierung von Menschen in der sich weiterentwickelnden modernen Gesellschaft verstanden werden, kurz als „Krise der Navigation“.
Bis zur nächsten Woche mit einem letzten Post als Gastblogger der DGS.
PS(1) Vgl. zum Thema „Navigation“ u.a. I. Götz et al. (Hrsg.)(2010): Mobilität und Mobilisierung. Frankfurt a.M./New York: Campus (darin u.a. GGV: Subjektivierung und Mobilisierung) oder G. Jochum/G.G. Voß: Piloten und andere Steuerleute. Zur Navigationskunst des mobilen Subjekts im entgrenzten Kapitalismus (erscheint im Tagungsband des Kongresses für Soziologie in Frankfurt; download einer Vorfassung).
(2) Über den „Sinne des Lebens“ gibt es verschiedene Auffassungen, vgl. nur diesen Überblick und jene etwas anders geartete Bearbeitung des Themas http://is.gd/qfiQM5
Das Bild vom „Navigieren“ im individuellen wie auch im sozialen Leben beinhaltet für mich auch den Reiz, als Alltagsmensch wie als Soziologin Optionen zu entdecken und alte Weg zu verlassen. Nur ein Beispiel: ich habe mir die Großstadt München noch ohne Navi dadurch erschlossen, dass ich kleine Runden langsam ausgeweitet habe. Seit ich mit Unterstützung des Navi (weibliche Stimme) fahre, entdecke ich plötzlich ganz neue Strecken; vor allem wenn Staus die Routinen aufbrechen. Für den mehr oder weniger „gewichtigen“ Alltag bedeutet dies, dass Routinen und vorgegebene Muster (gern auch als Kultur und Normen bezeichnet) manchmal „zerstört“ oder doch aufgebrochen werden müssen, um Neues zu entdecken. Für mich wäre daher die spannende Frage: was sind denn im sozialen Leben die „neuen Navis“?