Dieser Tage[1] kommt mir ein Interview zu Augen: Jean-Jacques Rousseau, soeben 300 Jahre alt geworden. Das dürfen Qualitätsmedien natürlich nicht verpassen, und so suchen sie Rousseau-Fachleute, zum Beispiel Literaturwissenschaftler. Einer von ihnen, der sich sprachgewaltig auch mit anderen „Gespenstern“ (recht unterhaltsam) auseinandergesetzt hat, wird befragt, warum man heute noch Rousseau lesen sollte. Die pointierte Antwort: Der Mann ist wie ein Brühwürfel.
Man kann sofort nachempfinden, wie der Journalisten Herz begeistert zu pochen beginnt. Da haben sie sich den Richtigen ausgesucht. Der erste Satz schon ein Sager, der eine Überschrift hergibt. Der Mann ist wie ein Brühwürfel. Hohoho. Was soll diese eindrucksvolle Metapher besagen? „Wenn man ihn [den Rousseau bzw. den Brühwürfel] auflöst, schwimmt das ganze 18. Jahrhundert in der Suppe, mit allen Ingredienzien.“ Auch die „Suppe“ ist ein vermittlungsfähiges Bild, und wenn man sich dennoch nicht im Klaren sein sollte, was genau diese Metapher verdeutlicht, dann gibt es immer noch die Rückfallposition: Siehst du, jedenfalls regt es zum Denken an.
Also denken wir: Was ist ein Brühwürfel? Seinem Wesen entspricht es, dass er sich auflöst, und dann ist nichts mehr von ihm vorhanden. Aber Rousseau hat sich historisch nicht aufgelöst, vielmehr gibt es allenthalben Interviews zu seinem 300. Geburtstag. Gegen das 18. Jahrhundert als „Suppe“ ist nichts einzuwenden, das gilt wohl für jedes Jahrhundert – Suppe mag als schnodddrige Bezeichung für ein komplex-liquides Habitat stehen, da wollen wir nicht kleinlich sein. Fraglich ist, wer die Suppe, den aufgelösten Philosophen, ausgelöffelt hat. War es aber doch nicht eigentlich eher der umgekehrte Prozess? Die Suppe des 18. Jahrhunderts hat sich in Rousseau verdichtet, komprimiert, verkrustet, eingekocht, verdickt. Das wäre eine Art von Anti-Prozess zum Brühwürfel, das Gegenteil des Auflösungsprozesses, ein Verdichtungsprozess. Der Mann ist ein Saucenfond. Oder ist einfach gemeint, dass Rousseau so einflußreich war, dass er das ganze 18. Jahrhundert geschmacklich geprägt hat? Der Mann ist zum Versalzen gut. Das bringt uns auch nicht weiter. Metaphern dienen eigentlich dazu, etwas leichter begreiflich zu machen, was schwer zu begreifen ist – aber manchmal geht der Prozess in die umgekehrte Richtung.
Aber der Brühwürfel ist ohnehin eine durchaus liebenswürdige Symbolisierung, wenn man die sonstigen Zuschreibungen in diesem Würdigungsartikel, insbesondere von der Seite der Journalisten, Revue passieren lässt: Rousseau sei wohl ein unleidlicher Paranoiker gewesen, ein grantelnder Kulturpessimist, ein Masochist, der sich abends von seiner Haushälterin durchpeitschen lässt, ein Mitglied der Roten Khmer, ein Embryo der modernen Intellektuellen. Ein wahrer Tsunami[2] an ehrenrührigen Vergleichen, selbst für jene ein bisschen viel, die Rousseau (verständlicherweise) nicht leiden mögen. Ein bisschen Schlüsselloch, Hollywood, Star-Rummel, VIP-Persiflage. Wir verstehen, da wir alles verstehen, auch das: Man muss es ja in den Verständnishorizont der Gegenwartsgesellschaft bringen. Nicht alles, was ein Vergleich ist, muss hinken; doch man sollte diese Möglichkeit nicht ausschließen.
Über ein zweites Beispiel stolpere ich dieser Tage[3], es ist ganz anderer Art, es huldigt dem klassischen Genie: „Schumpeters schöpferische Zerstörung erstmals empirisch bestätigt.“ Wunderbar, so denken alle, die Joseph Schumpeter nicht nur zitieren, sondern auch gelesen haben, denn so viele sind es ja nicht. Komplexitätsforscher aus der Medizinischen Fakultät in Wien und aus den USA hätten mittels eines mathematischen Modells gezeigt, dass wirtschaftliches Wachstum vor allem von der Komplexität der Produkte abhängt, die ein Land produziert. Das klingt plausibel, aber nicht besonders neu, denn auch der allgemeine Menschenverstand würde davon ausgehen, dass man mit Oliven und Schafskäse allein keine modern-dynamische Wirtschaft auf die Beine stellen kann.[4] „Ein kritisches Niveau an Komplexität“, so heißt es in der Meldung der Presseagentur weiter, „fördert demnach die Entwicklung noch komplexerer, am Markt erfolgreicher Produkte und somit die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Damit konnten die Forscher die bereits 1911 vom österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter formulierte These der ‚schöpferischen Zerstörung‘ erstmals empirisch nachweisen.“ Wäre schön gewesen, wenn jemand das Buch gelesen hätte.
Also, Schritt für Schritt. Eine der Thesen Schumpeters im Rahmen seiner dynamischen Kapitalismus-Theorie war es, dass Innovationen in großen Schüben vonstatten gehen: Basisinnovationen, die dann die ganze Wirtschaft und Gesellschaft durchwirken. Zu diesen Kondratieff-Zyklen gibt es bereits eine ganze Menge von empirischen Studien, die fatalerweise nicht überaus überzeugende Ergebnisse geliefert haben. Die allgemeine Theorie von der „schöpferischen Zerstörung“ hat sich gegen die statische (Gleichgewichts)Theorie gewendet und den modernen Kapitalismus als dynamisches System konzipiert, in einer breiten gesellschaftlichen Perspektive: Der entrepreunerial spirit ist die entscheidende Kraft, und eine ganze Reihe von kulturellen und institutionellen Bedingungen sind erforderlich.[5]
Schumpeters Modell hat mit der kolportierten These, dass ein gewisser Komplexitätsgrad der Wirtschaft vonnöten sei, um weitere komplexe Innovationen unterzubringen, nicht viel zu tun. Die Dampfmaschine in einer traditionellen Gesellschaft hat den ersten (historisch nachzuzeichnenden) Kondratieff bewirkt, das wusste auch schon Marx. Aber gegen die aktuelle Behauptung, dass Komplexität weitere Komplexität ermögliche, ist ohnehin nichts einzuwenden. Computereinsatz lohnt sich nicht in Lehmhütten. Da ist schon etwas dran. Man könnte vermutlich auch Rousseau zitieren. Aber Schumpeter ist besser, denn ein Zeitungsartikel hat vor Jahren schon getitelt: „Ein Ökonom, der ‚heiß‘ ist.“[6] Das erinnert an die Suppe. Man könnte auch sagen: Der Mann ist wie ein Brühwürfel.
Mathematisierung ist bei Rousseau noch ausständig. Schumpeter mögen alle, besonders die Manager, weil er den „unternehmerischen Geist“ gelobt hat, und die schöne Formulierung von der „kreativen Zerstörung“ ist mittlerweile jedem ländlichen Baumeister bekannt. Wenn man dann behauptet, man könne nun empirisch beweisen, was Schumpeter nur behauptet hat, dann tut das selbst abgebrühten Managern in der Seele wohl. „Kreativität“ plus „Zerstörung“ als gesellschaftliche Optimierungsstrategie – damit lässt sich immer alles rechtfertigen und man kann sich die Finger nicht mehr verbrühen, was besonders in einem Zeitalter wichtig ist, in dem sonderbare Menschen nach Kuriositäten wie Corporate Social Responsibility rufen. Einfach Schumpeter auf den Umschlag schreiben – im Vergleich mit diesem wissenschaftlichen Marketing hat Rousseau noch aufzuholen.
[1] Veröffentlicht am 26.06.2012; ich vermeide nähere Angaben, diese sind im Bedarfsfall unschwer zu recherchieren.
[2] Wir wollen uns ja schließlich beim metaphorischen Overkill nicht lumpen lassen.
[3] APA-Meldung vom 21.06.2012 und diverse Zeitungsartikel.
[4] Einwand: Im Falle Griechenlands gibt es derzeit durchaus Befürworter der Strategie, dem verlorenen Geld weiteres Geld nachzuschütten (etwa durch Eurobonds), denn nur dadurch könne man ein rapides Wachstum auslösen. Was genau wachsen soll, mangels einer auch nur entfernt interessanten industriellen Basis, wird nicht weiter erläutert.
[5] Noch genauer hat Schumpeter dieses dynamische Modell in seinem Buch über „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ ausgearbeitet – allerdings auch die Grenzen des innovativen Systems herausgearbeitet.
[6] Die Presse vom 07.02.2008.
herzlichen Dank an dieser Stelle für Ihre gut geschriebenen und klugen Posts. Ich bin gespannt, wer Ihnen nachfolgt.
Sehr gelungener Artikel! Über den Wissenschaftsjournalismus kann man sich ja immerwieder wundern…