Die Olympischen Spiele in London gehören schon der Vergangenheit an. Die Medaillen sind vergeben, die Rangliste der Nationen im Medaillenspiegel steht endgültig fest. In den Verbänden werden nun Schlüsse gezogen, was gut gemacht wurde und was verbessert werden muss, um beim nächsten Mal besser abzuschneiden. Das Kräftemessen der Nationen beschränkt sich indessen keineswegs mehr auf den Sport. Mit Hilfe globaler Statistiken hat das internationale Kräftemessen inzwischen ein Ausmaß erreicht, dass kaum noch ein Lebensbereich frei vom Leistungswettbewerb um Rangplätze geblieben ist (vgl. Heintz und Werron 2011). Es wird gemessen und gerankt, international und national.
Gute Absichten
Vergangene Woche hat zum Beispiel die von den Arbeitgeberverbänden finanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft die neue Ausgabe ihres seit 2004 jährlich veröffentlichten Bildungsmonitors herausgebracht und hat es damit bis in die Abendnachrichten des Fernsehens geschafft. Der Bildungsmonitor vermisst die Infrastruktur und die Bildungsleistungen der 16 Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland mit nicht weniger als 110 Indikatoren. Die Autoren der Studie bringen es fertig, zu errechnen, dass die flächendeckende Ganztagsbetreuung der Kinder eine Steigerung der wirtschaftlichen Wachstumsrate von 0,33 Prozent erbrächte, sodass das Bruttoinlandsprodukt im Jahre 2050 um 221 Milliarden Euro höher läge (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft 2012: 210). Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft will mit dem Bildungsmonitor für mehr Wettbewerb, mehr Effizienz und mehr Tempo in der Bildungspolitik sorgen. Die Medienberichterstattung stößt weitgehend in das gleiche Horn. Kaum ein Journalist kommt auf den Gedanken, einmal zu fragen, was sich hinter diesem ubiquitären Kräftemessen verbirgt, was daraus folgt und welcher gesellschaftliche Wandel sich dabei vollzieht. Journalismus wird so zum bloßen Sprachrohr von interessengeleiteten Public Relations, ohne Kraft zur eigenständigen Reflektion.
Alle scheinen davon überzeugt zu sein, dass überall ein höherer Rang eine entscheidende Voraussetzung für ein besseres Leben ist. Und wenn das bessere Leben statistisch vermessen wird, was liegt dann näher, als die Wissenschaft zur Rate zu ziehen, um bessere Messergebnisse zu erzielen? Das ist das Kennzeichen der modernen Wissenschaft. In der Wissensgesellschaft haben es Traditionen der gesellschaftlichen Praxis schwer, nur deshalb fortgeführt zu werden, weil man es immer schon so getan hat. Alles wird wissenschaftlich durchleuchtet und der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht von Experten darüber belehrt werden, was wir alles zu ändern hätten, damit es uns besser geht. Die Bildungsforscher sagen uns, dass unsere Kinder mehr lesen müssten, damit wir beim nächsten PISA-Test besser abschneiden. Dass sich unsere 15jährigen Schüler beim letzten Test 2009 in den Naturwissenschaften besser als beim vorigen Test geschlagen haben, wird lobend als erstes Zeichen der Besserung registriert (OECD 2010). Gleichwohl wird mit erhobenem Zeigefinger gemahnt, nicht mit den notwendigen Anstrengungen nachzulassen, um die nach wie vor mäßigen Leistungen in Mathematik und Lesen bis zum nächsten Test zu verbessern. Die Eltern sollen wissen, was zu tun ist, damit der Nachwuchs dem Land keine Schande macht. Ganz auf dieser Linie erklären uns die Ernährungswissenschaftler, dass viel zu viele von uns zu dick sind, weil sie sich falsch ernähren. Auch auf diesem Feld gibt es jede Menge zu tun, um die Nation bis zur nächsten millionenschweren Ernährungsstudie auf die richtige Schlankheitslinie zu bringen, natürlich durch alle Bildungs- und Einkommensschichten hindurch.
Da nach den Ergebnissen der nationalen Verzehrstudie II Bildung schlank macht, wäre es nahe liegend, die Nation durch mehr Investitionen in die Bildung bis hin zu den bislang „bildungsfernsten“ – oder inzwischen korrekter: „bildungsärmsten“ – Schichten auf Schlankheitskurs zu bringen (Max Rubner-Institut 2008). Das könnte gelingen, wenn da nicht das Fernsehen wäre. Es schmälert nämlich den Bildungserfolg, wie Forscher in mehreren empirischen Studien festgestellt haben (Pfeiffer et. al. 2007). Ihr erhobener Zeigefinger sagt uns, die Kinder nicht zu lange vor dem Fernseher sitzen zu lassen, weil Fernsehen dumm macht bzw. den Schulerfolg beeinträchtigt. Hier beißt sich dann die Katze in den Schwanz, weil diese Studien erwartungsgemäß auch zu dem Ergebnis gelangen, dass übermäßiger Fernsehkonsum von Kindern wie auch von Erwachsenen weit überproportional eine Sache der unteren Bildungs- und Einkommensschichten ist. Man könnte sagen, dass die unbotmäßigen Teile der Nation ihr Leben vor dem Fernseher mit Chips, Popcorn und ungesunden Getränken statt mit Lesen verbringen.
Weil der internationale Wettbewerb verlangt, dass das ganze Nationalteam bis zum letzten Ersatzspieler fit für den Einsatz am richtigen Platz gemacht wird, hat sich die Politik inzwischen darauf verlegt, nicht mehr die vielen Ausfälle durch Rundumversorgung zu kompensieren, sondern der Nation mit Hilfe der wissenschaftlichen Experten ein lebensumfassendes Fitnesstraining zu verpassen. Felix Magath könnte als Trainer der ganzen Nation wirken. „Lebenslanges Lernen“ tritt an die Stelle der lebensbegleitenden Versorgung durch den Staat (Field 2006). Die Regierung ist nicht mehr dazu verpflichtet, die Bürger vor den Verwerfungen des Marktes zu schützen, vielmehr soll sie jeden Bürger zur Selbstbehauptung im freien Spiel der Marktkräfte befähigen. Das ist das Mantra der neoliberalen Regierungskunst, wie es von Michel Foucault (2006) in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität beschrieben wurde (Lemke 1997; Bröckling 2007; Lessenich 2009). Politiker sehen ihre Bestimmung zunehmend darin, mit Hilfe schwergewichtiger und groß angelegter wissenschaftlicher Studien die Bevölkerung zu beobachten, um Schwächen rechtzeitig erkennen und Abhilfe schaffen zu können. Deshalb gibt es bald für jeden Zweck Langzeitstudien (Panelstudien). Die Bevölkerung wird unter Dauerbeobachtung von Experten gestellt. Benchmarking und Rankings informieren dann darüber, welche Länder und welche Bevölkerungsgruppen es besser als andere machen und welche einer besonderen Trainingseinheit und Therapie bedürfen. In regelmäßigen Abständen lassen deshalb unsere Minister die Experten mit den neuesten Ergebnissen an die Öffentlichkeit treten. Sie selbst spielen dann den verlängerten Arm und heben den Zeigefinger, um zu beweisen, wie sehr sie sich um das Wohl der Nation sorgen.
Das Fitmachen für den internationalen Wettbewerb soll aber bitte ohne Doping oder sonstige Täuschungsmittel geschehen. Das gehört zur Fairness. Die neben der wissenschaftlichen Dauerbeobachtung der Bevölkerung zweite Aufgabe der neoliberalen Regierungskunst ist deshalb der Kampf gegen Doping und Korruption. Man hat das zwar noch nicht so richtig erkannt, man wird es aber noch feststellen. Der Radsport ist nur ein besonders auffälliges Beispiel einer Praxis, die unvermeidliche Begleiterscheinung einer Gesellschaft des vollständig entfesselten Wettbewerbs ist (Bette und Schimank 2006). Die Korruption bei Siemens oder die systematische Steuerflucht von Managern sind auch nur Spitzen des Eisberges. Die Gesellschaft wird zwar in ihrer Gesamtheit zur Besserungsanstalt, der Weg zur Besserung ist aber mit jeder Menge an zum Schlechteren hinführenden Effekten gepflastert.
Nichtintendierte Effekte
Das Problem der neoliberalen Regierungskunst sind die ungesicherten und unüberschaubaren Kausalitäten und die nichtintendierten Effekte guter Absichten. Ob bessere PISA-Ergebnisse die Bildung der Bevölkerung verbessern, ob mehr Lesen zu verbesserten PISA-Ergebnissen führt, ob bessere PISA-Ergebnisse zu mehr Wirtschaftswachstum verhelfen, ob bessere Ernährung das Wohlbefinden steigert und bessere Schulnoten erbringt, ob geringerer Fernsehkonsum die Unterschichtenkinder schlauer werden lässt, wissen wir alles nicht genau. Zu viele Kausalfaktoren spielen herein und verändern das Ergebnis. Lange Zeit hat man z.B. die Fünftklässler in erster Linie Schön- und Rechtschreiben üben lassen, bis die Pädagogen auf den Gedanken kamen, möglichst frühzeitig die Kreativität der Zehnjährigen durch systematisches Einüben von Aufsätzen zu fördern. Das unerwünschte Ergebnis dieser Beschulung von Kreativität ist jedoch vielfach die frühzeitige Schematisierung des Schreibens, das aus potentiell kreativen Menschen gefügige Normerfüller macht. Wenn Lesen außerhalb des Unterrichts nur Versäumnisse der Schule kompensiert, dann bringt es wohl eine Verbesserung der individuellen Leistung, ändert aber nichts an den Mängeln von Schule und Unterricht. Mehr Anstrengungen im Schulunterricht, um bessere PISA-Ergebnisse zu erzielen, erhöhen ohne Veränderung der kontraproduktiven, auf Unterricht und Selektion statt Fördern und Inklusion fokussierten Schulstrukturen nur den Druck auf Schüler, Lehrer und Eltern, ohne zu einer grundsätzlichen Verbesserung der Situation zu führen. Appelle an bessere Ernährung und an die Mäßigung des Fernsehkonsums verkennen die Kausalitäten, die bewirken, dass sich ungesunde Ernährung und übermäßiger Fernsehkonsum in den bildungsarmen und einkommensschwachen Schichten häufen und mit zur Verfestigung ihrer gesellschaftlichen Position beitragen. Solche Appelle sind Teil der neoliberalen Regierungskunst, die den Staat von der Verantwortung für die Sorge um die Bürger jenseits des Fitmachens für den Kampf aller gegen alle freispricht. Am Ende wird man einsehen müssen, dass alle Appelle nichts helfen und die Bildungsarmen bildungsarm sowie die Einkommensschwachen einkommensschwach bleiben. Auch die neoliberale Regierungskunst wird sich dann Gedanken darüber machen müssen, ob Einsperren der letzte Ausweg sein soll, wie es in den Vereinigten Staaten weitgehend der Fall ist (Bude 2008; Wacquant 2009). Weil indessen die Garantie menschenwürdiger Lebensverhältnisse, unabhängig vom individuellen Markterfolg, inzwischen weitgehend delegitimiert ist, wird sich die neoliberale Regierungskunst vermehrt der gezielten genetischen Selektion und des neurobiologischen Eingreifens in die Gehirnzellen des Menschen bedienen müssen, um genau jene Menschen zu erzeugen, die sich im Kampf aller gegen alle selbst behaupten können (Kollek und Lemke 2008; Schleim 2011). Bis dorthin ist es allerdings noch ein weiter Weg.
Ein unvollendetes Projekt
Die neoliberale Regierungskunst wird noch lange Zeit ein unvollendetes Projekt mit vielen Unzulänglichkeiten bleiben. Sie setzt an die Stelle des alten Paternalismus des fürsorglichen Staates den Neo-Paternalismus des Wettbewerbsstaates, der die Bevölkerung mit Hilfe einer Heerschar wissenschaftlicher Experten unter Dauerbeobachtung und Durchleuchtung bis in die kleinsten Gehirnzellen stellt, um sie fitzuhalten für den internationalen Wettbewerb (Hirsch 1995; Cerny 1997; Münch, 2009, 2012). All das geschieht wegen zu vieler unkontrollierter Kausalitäten allerdings mit nur mäßigem Erfolg.
Literatur
Bette, Karl-Heinrich und Schimank, Uwe. 2006. Die Dopingfalle. Soziologische Betrachtungen. Bielefeld: Transcript.
Bude, Heinz. 2008. Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. München: Carl Hauser Verlag.
Bröckling, Ulrich. 2007. Das unternehmerische Selbst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Cerny, Phil G. 1997. „Paradoxes of the Competition State: The Dynamics of Globalization.“ Government and Opposition 32 (2), S. 251 – 274.
Field, John. 2006. Lifelong Learning and the New Educational Order. Stoke on Trent, UK, und Sterling, USA: Trentham Books.
Foucault, Michel. 2006. Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Heintz, Bettina und Werron, Tobias. 2011. „Wie ist Globalisierung möglich? Zur Entstehung globaler Vergleichshorizonte am Beispiel von Wissenschaft und Sport.“ Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63 (3), S. 359 – 394.
Hirsch, Joachim. 1995. Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus. Berlin /Paris: Ed. ID-Archiv.
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Kollek, Regine und Lemke, Thomas. 2008. Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests. Frankfurt/New York. Campus.
Lemke, Thomas. 1997. Eine Kritik der politischen Vernunft – Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Hamburg/Berlin: Argument.
Lessenich, Stephan. 2009. „Mobilität und Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft.“ In: Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa. Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Eine Debatte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 126 – 177.
Max Rubner-Institut (Hg.). 2008. Nationale Verzehrstudie. Teil 1 und 2. Karlsruhe.
Münch, Richard. 2009. Das Regime des liberalen Kapitalismus. Inklusion und Exklusion im neuen Wohlfahrtsstaat. Frankfurt/New York: Campus.
Münch, Richard. 2012. Inclusion and Exclusion in the Liberal Competition State: The Cult of the Individual. London und New York: Routledge.
Pfeiffer, Christian, Mößle, Thomas, Kleimann, Matthias und Rehbein, Florian. 2007. Die PISA-Verlierer – Opfer ihres Medienkonsums. Eine Analyse auf der Basis verschiedener empirischer Untersuchungen. Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.
Schleim, Stephan. 2011. Die Neurogesellschaft. Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert. Hannover. Heise
Wacquant, Loïc. 2009. Punishing the Poor: The Neoliberal Government of Social Insecurity. Durham: Duke University Press.
Ein unbewusster, noch nicht aus dem geistigen Tod der Religion auferstandener Mensch, der „Kapitalismus“ sagt, meint „kapitalistische Marktwirtschaft“, und die Befreiung der Marktwirtschaft (Paradies) vom parasitären Gegenprinzip des Privatkapitalismus (Erbsünde) durch die Verwirklichung der Natürlichen Wirtschaftsordnung („Königreich des Vaters“) übersteigt sein Vorstellungsvermögen:
http://opium-des-volkes.blogspot.de/2012/07/der-zins-mythos-und-wahrheit.html
Da ist mir zu viel Utopie drin. Ich wollte nur etwas ganz Einfaches sagen: Eine Sozialpolitik, die sich auf das Fitmachen für den Wettbewerb beschränkt und im Übrigen den Wettbewerb für das Universalmittel zur Lösung eines jeden Problems hält, endet zwangsläufig im Sozialdarwinismus.
Sehr geehrter Herr Dr. Münch,
marktwirtschaftlicher Wettbewerb wirkt nie ausbeuterisch, sondern ganz im Gegenteil immer ausgleichend. Ausbeutung entsteht aufgrund der Einschränkung des Wettbewerbs durch den Privatkapitalismus und in verstärktem Maß durch die Abschaffung des Wettbewerbs in einer sozialistischen Planwirtschaft (Staatskapitalismus).
Bevor Sie hier weitere Denkfehler verbreiten (ich mache Ihnen daraus keinen Vorwurf), sollten Sie sich erst einmal mit den in Vergessenheit geratenen Grundlagen beschäftigen:
http://opium-des-volkes.blogspot.de/2012/08/personliche-freiheit-und-sozialordnung.html
Sehr geehrter Herr Wehmeier,
vielen Dank für den Hinweis! Ich werde mich damit beschäftigen.