Die Karte ist ein Interaktionsmedium, das (neben sozialen Praktiken) das Wissen über den Raum transportiert. Sie hilft dem Menschen bei der Syntheseleistung, die Ansammlung von Menschen und Gütern auf bestimmten Raum-Zeit-Koordinaten anzuordnen und zu einem Ort zu verdichten. Sie hat den Vorteil, dass sie die physische Anwesenheit eines Interaktionspartners nicht voraussetzt – dachten wir.
Um erste Hinweise zu bekommen, ob diese Annahme stimmt, suchten wir uns ein besonders unübersichtliches Gebäude – das Hauptgebäude der TU Berlin. Es besteht nicht nur aus verschiedenen aneinander gebauten Gebäudeteilen mit Zwischenstockwerken (durch die man sich stark an „Being John Malkovich“ erinnert fühlt), sondern es existieren auch zahlreiche Zwischengänge und Nebentreppen, die in Sackgassen enden, aus denen man nur sehr schwer wieder hinausfindet. Wenn man sich hier nicht auskennt, ist es praktisch unmöglich, sich ohne Karte zurechtzufinden (und ordentliche Gebäudepläne für Besucher gibt es auch nicht).
Ein gutes Beispiel also, um sich der Frage anzunähern, wie Raumkonstitution funktioniert und welche Rolle dabei Karten als Interaktionsmedium spielen. Zu diesem Zweck führen wir seit 2009 jedes Jahr zusammen mit Geoinformatikern und Soziologie-Studierenden sozialwissenschaftliche Experimente auf der Langen Nacht der Wissenschaft (LNDW) in Berlin durch,[i] d.h. die Besucher der LNDW werden gebeten, mit Hilfe einer zufällig zugeteilten Karte den Weg zum Dach des Gebäudes zu finden. Das Experiment ist als Wettlauf angelegt, d.h. die Ursprungsidee war, dass je zwei Besucher auf jeweils unterschiedlichen Routen und mit unterschiedlichen Karten den Weg zum Dach suchen.
Wir sind noch mitten in der Analyse,[ii] und momentan stellen sich mehr Fragen, als wir beantworten können. Vor allem hat uns das Experiment bislang vor Augen geführt, wie sehr nicht nur Karten, sondern auch der Raum selbst sozial konstruiert sind und wie sehr Raumkonstitution ein Interaktionsprodukt ist – und eben nicht, wie die Psychologie häufig unterstellt, ein individueller kognitiver Prozess.
Das fängt bereits bei der Experimentalaufstellung an: Wir hatten, wie gesagt, ursprünglich vor, die Teilnehmer einzeln gegeneinander laufen zu lassen, aber das funktionierte so schlecht, dass es im ersten Jahr fast den Experimentalrahmen sprengte. Die (an sich teilnahmewilligen) Besucher weigerten sich größtenteils, alleine in einem fremden Raum zu navigieren – ungeachtet der Karte und einer Notruftelefonnummer.
Seitdem lassen wir die Teilnehmer ganz offiziell in Gruppen laufen, und man kann das ganze Repertoire der Orientierungsstrategien beobachten: Wenn sie sich im Raum orientieren, benutzen Menschen (auch) eine Karte (wenn sie sie haben), aber sie orientieren sich v.a. aneinander und kommen interaktiv zu gemeinsamen Deutungen des Raumes – übrigens auch zu Fehldeutungen (Thierbach 2011). Man kennt das bekannte Phänomen, dass – wenn Einer in die falsche Richtung läuft – alle Anderen hinterherrennen.
Auf die Karte bezogen haben wir geschlossen: Wir glauben nach wie vor, dass die Karte ein Interaktionsmedium ist, das aber oft nur unvollständig funktioniert (auch weil viele Karten so schlecht sind) und dessen Unvollständigkeit interaktiv abgefedert wird. Oder anders formuliert: In einer konkreten Interaktionssituation hilft die Karte den Interaktionspartnern als Fokus, um sich im Raum zu platzieren und sich der Raumwahrnehmung des jeweils Anderen zu vergewissern (Röhl/Herbrik 2008)– sozusagen als Startpunkt für die eigentliche Syntheseleistung.
Der Hauptschluss, den wir aus den bisherigen Experimenten gezogen haben, ist, dass Befragungen alleine nicht ausreichen – wir brauchen einen Methoden-Mix. V.a. wird die Ethnografie künftig die Hauptmethode sein, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Raumkonstitution ist so stark habitualisiert bzw. in Praktiken verankert, dass praktisch niemand sie verbalisieren kann. Um zu erfassen, was wir tun, wenn wir Raum konstruieren, muss man Menschen beobachten. Erste Überlegungen zu diesen Praktiken möchte ich morgen am Beispiel der Grenzziehungen anstellen.
Literatur
Lorenz Alexandra/Thierbach Cornelia/Baur Nina/Kolbe Thomas H. (2013): App-Free Zone. Paper Maps as Alternative to Electronic Indoor Navigation Aids and Their Empirical Evaluation with Large User Bases. In: Krisp, Jukka M. (Hg.) (2013): Progress in Location-Based Services. Lecture Notes in Geoinformation and Cartography. Berlin/Heidelberg: Springer. 319-338. DOI: 10.1007/978-3-642-34203-5_18
Lorenz, Alexandra/Thierbach, Cornelia/Kolbe, Thomas H./Baur, Nina (2010): Untersuchung der Effizienz und Akzeptanz von 2D- und 3D-Kartenvarianten für die Innenraumnavigation. In: Kohlhofer, Gerald/Franzen, Michael (Hg.) (2010): Publikationen der Deutschen Gesellschaft für Photogrammetrie, Fernerkundung und Geoinformation (DGPF) e.V.. Band 19. Wien: DGPF. S.342-355
Lorenz, Alexandra; Thierbach, Cornelia (2012): Bewusst wo? Gewusst wie! Entwicklung innovativer kartographischer Methoden zur effektiven Navigation in Innenräumen. In: Sven Weisbrich und Robert Kaden (Hg.): Entwicklerforum Geodäsie und Geoinformationstechnik 2011 – Junge Wissenschaftler forschen. Aachen: Shaker Verlag, S. 89-100.
Röhl, Tobias/Herbrik, Regine (2008): Mapping the Imaginary. Maps in Fantasy Role-Playing Games. In: FQS 9(3). Quelle: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1162/2568
Thierbach, Cornelia (2011): Raumorientierung und Interaktion in Gebäuden. Diplomarbeit. Technische Universität Berlin, Berlin. Institut für Soziologie.
Anmerkungen
[i] Für die methodisch Interessierten eine Anmerkungen zum Forschungsdesign:
In einem ersten Schritt legten die Geodäten zwei Routen von etwa gleichem Schwierigkeitsgrad vom Erdgeschoss zum Dach des Hauptgebäudes der TU Berlin fest. Dann legten sie einen Aspekt der Kartengestaltung fest, von dem sie vermuteten, dass er für die Raumkonstitution und Orientierung relevant sein könnte, z.B. 2D- bzw. 3D-Darstellungen oder unterschiedliche Farbgestaltung. Für jede Strecke entwickelten sie je eine Kartenvariante mit jeder Darstellung (wenn also 2D- bzw. 3D-Darstellungen miteinander verglichen werden, ergibt das 2 Kartenvarianten à 2 Routen = 4 Karten).
Mit Hilfe dieser Karten wurde auf der LNDW eine standardisierte Befragung (Survey) durchgeführt, wobei das Forschungsdesign die Form eines sozialwissenschaftlichen Experiments (faktorielles Design ohne Kontrollgruppe annahm). Die Grafik unten erläutert die Versuchsanordnung:
Am Haupteingang rekrutierten Soziologie-Studierende und ich zusammen mögliche Testteilnehmer. Das Experiment selbst war wie ein Wettbewerb angelegt: Aufgabe der Testteilnehmer (Rekrutierten) ist es, den Weg vom Startpunkt (Haupteingang des TU-Hauptgebäudes) zum Zielpunkt (Geodätenstand auf dem Dach des TU-Hauptgebäudes) mit Hilfe einer an sie zufällig zugeteilten Karte (2D oder 3D) so schnell wie möglich zu finden.
Ein erstes Kernelement des sogenannten experimentellen Designs ist die sogenannte Drittvariablenkontrolle: Es wird versucht, alle Einflüsse bis auf den zu untersuchenden (die Wirkung von 2D- und 3D-Karten auf das Orientierungsverhalten) auszuschließen. Im vorgestellten Experiment wurden hierzu vier Mittel eingesetzt:
- Am Startpunkt nahm jeder Teilnehmer an einer standardisierten Vorher-Befragung teil, bei der Vorerfahrungen und soziodemografische Daten abgefragt werden. Am Zielpunkt wurde eine ebenfalls standardisierte Nachher-Befragung durchgeführt, welche auf Fragen und Kommentare zur Karte sowie auf mögliche Störungen (z.B. Wegunterbrechungen) bei der Wegsuche fokussierte.
- Da möglicherweise nicht nur die Gestaltung der Karte, sondern auch die Eigenschaften der Strecke das Endergebnis beeinflussen, wurden äquivalente Karten für zwei sehr unterschiedliche Strecken entwickelt. Es gab also insgesamt vier Kartenvarianten: jeweils eine 2D- und eine 3D-Variante für die östliche und die westliche Route.
- Es fand eine Randomisierung statt, d.h. nachdem die Versuchsteilnehmer den Fragebogen ausgefüllt hatten, starteten jeweils zwei Rekrutierte gleichzeitig auf parallelen Routen. Die Zuteilung zur Route und Karte erfolgte dabei zufällig, so dass alle vier Teilgruppen etwa gleich groß waren.
- Entlang der Routen waren an verschiedenen Standorten Beobachter postiert, welche mittels einer nicht teilnehmenden, offenen und schwach strukturierten Beobachtung untersuchten, ob die Teilnehmer richtig laufen und wie sie sich orientieren.
Ein zweites Kernelement des experimentellen Designs ist die Aufteilung der Probanden in verschiedene Experimentalgruppen, welche jeweils ein unterschiedliches Treatment erfahren. In unserem Fall (faktorielles Design ohne Kontrollgruppe) bestand das Treatment aus einer von vier Karten, die den Probanden ausgehändigt wurde, nachdem sie den Vorher-Fragebogen ausgefüllt hatten. Sowohl am Startpunkt, als auch am Endpunkt wurde die Zeit gemessen (Vorher- und Nachher-Messung), um auf dieser Basis die Wegzeit berechnen zu können.
Die Teilnehmer zu rekrutieren war insofern nicht schwer, als das Experiment im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaft stattfand: Die Besucher hatten Eintritt bezahlt, um neuste wissenschaftliche Entwicklungen kennenzulernen. Da es am besagten Abend aber ein umfangreiches Alternativangebot an Veranstaltungen gab, lieferten wir weitere Anreize zur Teilnahme:
Viele Kinder und Jugendliche waren an dem Mini-Wettlauf interessiert. Als zusätzliche Motivation für die Teilnahme gab es kleine Preise für die Sieger der Parallelstarts sowie die Möglichkeit für alle Teilnehmer, an einer Tombola teilzunehmen, in der Bücher und ein Navigationsgerät verlost wurden. Vor allem ältere Besucher ließen sich durch die Möglichkeit locken, den Ausblick über Berlin bei einem Getränk zu genießen. Außerdem gab es am Ziel weitere Stände zu besichtigen.
Insgesamt gelang es, pro Welle mehrere hundert Teilnehmer zu rekrutieren und somit eine hinreichend große Stichprobe zu erfassen, um statistisch belegte Aussagen über diverse Teilmengen wie Alters- und Interessensgruppen treffen zu können.
[ii] Erste Ergebnisse finden sich unter Lorenz et al. (2010, 2013) und Lorenz/Thierbach (2012).
Ich denke, dass Sie methodisch versuchen das Pferd von hinten aufzuzäumen, da Sie anscheinend Raumkonstitution durch eine Syntheseleistung als reinen Selbstzweck zu konzeptualisieren versuchen. Und das ist die sinnhafte Erschließung von Räumen und Räumlichkeiten meines Erachtens nicht. Menschen gehen nicht einfach mal so in Gebäude um diese kennen zu lernen bzw. sich die Räumlichkeiten zu erschließen. Das ist eher der Ausnahmefall bei dem genau das Problem der Syntheseleistung reflexiv wird. Normalerweise geschieht das im Rahmen einer sozialen Funktion.
Das heißt, die sinnhafte Erschließung des Raums oder von Räumlichkeiten erfolgt im Rahmen der Aufgabe „Finde Büro X in Gebäude Y um mit Person Z die Sache A zu klären“. So müssen sich Studenten mit den Räumlichkeiten des Universitätsgeländes auseinander setzen, weil sie an einer bestimmten Universität studieren. Mehr noch, müssen sie sich mit den Räumlichkeiten auseinandersetzen, weil Prof. X seine Vorlesung im Saal Y im Gebäude Z hält oder weil sie Fragen zu einer Hausarbeit mit Prof. A klären müssen, der sein Büro B in Gebäude C hat. Genauso gehen Leute nicht zum Finanzamt um sich das Gebäude anzuschauen, sondern um ein Gewerbe anzumelden und das nur bei Sachbearbeiter D können, der sein Büro E im X. Stockwerk hat.
Die sinnhafte Erschließung des Raums ist damit nur eine Art Nebenprodukt das im Rahmen der Klärung oder Besprechung der Sache X mit Person Y anfällt. Ich staune z. B. immer wieder wenn ich merke, dass Personen schon den dritten oder vierten Termin bei mir haben und immer noch nicht wissen wo ich mein Büro habe. Das zeigt mir, dass den Leuten die Räumlichkeiten relativ egal sind solange sie mein Büro irgendwie finden, denn was zählt ist nur, dass sie mit mir eine bestimmte Angelegenheit besprechen können. Die Räumlichkeiten sind dann nur eine Art Irritationsquelle. Und nur in diesem Rahmen gewinnen Karten oder Wegeleitsysteme (oder einfach Wegweiser) ihre Funktion.
Das ist etwas überspitzt dargestellt, denn natürlich wandeln Menschen nicht wahrnehmungsfrei durch ein Gebäude und sie sind sehr sensibel für die Stimmungen oder Atmosphären, die durch die Architektur und Innenausstattung hervorgerufen werden. Aber es geschieht eben im Rahmen der jeweiligen sozialen Funktion, weil die Inneneinrichtung einer bestimmten sozialen Funktion zu- oder abträglich ist. Die Innenarchitektur von Behördengebäuden sind hier oft Negativbeispiele. Wenn selbst Basics wie Wegeleitsysteme fehlen, zeugt das in diesem Zusammenhang nur von einer extremen Kundenunfreundlichkeit und m. E. auch Mitarbeiterunfreundlichkeit, da es zeigt, dass man offenbar nicht in der Lage ist sich in die Lage der Menschen zu versetzen, die sich in diesem Gebäude zurecht finden müssen.
Aus einer stärker funktionalistisch ausgerichteten Perspektive wäre dies auch soziologisch erkennbar. So scheint mir das beschriebene Experiment denn auch primär eine Qualitätskontrolle für die ausgegebenen Karten sein und erst an zweiter Stelle ein Experiment zur sozialen Raumkonstitution. Denn die Teilnehmer müssen sich auf die zur Verfügung gestellten Informationen über das Gebäude verlassen, das sie noch nicht kennen, um auf das Dach zu kommen.
Lieber BdM,
sauber erwischt – das kommt davon, wenn man der Kürze wegen Details weglässt. Ich glaube wie Sie, dass beide Prozesse (Wegfinden und Raumkonstitution) parallel ablaufen.
Das Experiment sollte sich ursprünglich gar nicht mit dem Tehma Raumkonstitution befassen, sondern mit zwei anderen Aspekten:
1. Die Frage, wie Leute den Weg finden und welche Rolle die Karte bzw. bestimmte Kartenaspekte dsbei spielen, war v.a. für die Geodäten interessant, und das Experiment wurde darauf ausgerichtet, diese Fragen zu beantworten.
2. Für uns standen zwei methodologische Probleme im Vordergrund:
a) Sie wissen ja, dass Experimente in den letzten Jahren auch in den Sozialwissenschaften immer stärker in Mode kommen – wir wollten daher die Stärken und Schwächen, Potenziale und Grenzen der Methoden ausloten. Daher haben wir das Ganze auch von Abfang als Methoden-Mix (Standardisierte Befragung im experimentellen Design + Ethnografie) angelegt.
b) Da ich glaube, dass die Fortschritte der GIS sehr große Potenziale für die Sozialwissenschaften bergen, wollten wir das auch als Ausgangspunkt für eine Kooperation nutzten, bei der wir die methodologischen und theoretischen Probleme der jeweils anderen Disziplin kennenlernen.
Erst im Laufe der Kooperation haben wir gemerkt, dass neben den Orientierungsprozessen auch Raumkonstitutionsprozesse stattfinden (was nicht nur theoretisch sehr spannend ist, sondern eben auch für die Methoden wichtig ist, weil eben, wie ich geschrieben habe, die quantitativen Verfahren der Geodäsie und damit die Verknüpfungsmöglichkeiten mit der Soziologie an Grenzen stoßen).
Bemerkt haben wir es zunächst, weil unserer Experimenalrahmen gesprengt wurde, aber die interessanten Hinweise kommen aus der Ethnografie, und wir kommen momentan auch diesbezüglich tatsächlich mit den Experimentrn nicht weiter, weshalb wir gerne in Zukunft komplett auf die Ethnografie (in variierenden Kontexten) wechseln würden.
Herzliche Grüße,
Nina Baur