Frostschutzmittel im Wein (1985), Fadenwürmer im Fisch (1987, 1997), Gammelfleisch (1993, 2004, 2006), BSE (1997), Nitrofen, Dioxin, Östrogene und Antibiotika und EHEC im Essen (2001, 2002, 2003, 2010), Mäusekot und Würmer im Mozzarella (2008), EHEC in Sprossen (2011), falsche Etikettierung von Bio-Eiern (2013), Pferdefleisch in der Lasagne (2013), Aflaxotin in der Milch (2013) – seit Mitte der 1980er werden wir, momentan in zunehmender Frequenz, immer wieder von Lebensmittelskandalen überrascht… nein: nicht überrascht, sondern eher heimgesucht. Was vielleicht überrascht, ist die Ohnmacht, mit der wir auf diese Skandale reagieren, und dass trotz dieser Skandalfrequenz nach einer kurzen Phase der Aufregung immer Alles beim Alten zu bleiben scheint. Lebensmittelskandale selbst sind ja nichts Neues, im Gegenteil – sie haben eine Jahrhunderte alte Tradition:
Da Essen ein menschliches Grundbedürfnis ist, sind Menschen auf qualitativ einwandfreie Nahrungsmittel angewiesen. Bis zum 20. Jahrhundert waren Nahrungsmittel zudem insofern Mangelware, als dass selten der Bedarf der gesamten Bevölkerung gedeckt werden konnte und Hungersnöte zum Alltag gehörten. Deshalb ließen sich früher mit Lebensmitteln große Gewinne erzielen, und die Versuchung war für Händler und Produzenten immer groß, minderwertige Ware zu verkaufen, zu panschen (etwa Brot Sägemehl beizumengen) oder die Gewichte zu verändern. Deshalb waren Lebensmittelproduktion und -markt auch einer der frühsten Bereiche staatlicher Regulierung.
Was sich in den vergangenen Jahrzehnten geändert hat, ist die Zahl und Reichweite von Lebensmittelrisiken: Immer mehr Menschen in immer größeren geographischen Regionen scheinen betroffen. So betrifft der Pferdefleischskandal nicht einzelne Metzgereien oder Verbraucher, sondern Gesamt-Europa. Meist sind tierische Produkte (insbesondere Fleisch) Zentrum solcher Skandale, aber auch Gurken und Sprossen sind vor dem Ernährungsrisiko nicht gefeit. Und obwohl sich diese Skandale regelmäßig wiederholen, reagieren wir doch recht ohnmächtig darauf. Typischerweise bricht der Verbrauch für das Produkt eine Weile zusammen, es wird nach Reformen und besseren Lebensmittelkontrollen geschrien und gleichzeitig „der Verbraucher“ beschimpft – und dann verschwindet Alles im Sande.
Warum ist das so und wie kommt es zu solchen Skandalen? Vermutlich weiß das niemand so genau. Ich persönlich bin der Ansicht, dass der Hauptgrund ist, dass Lebensmittel heute über moderne Massenmärkte vertrieben werden, die so komplex sind, dass sie niemand wirklich versteht – auch nicht die beteiligten Akteure.
D.h. die Zunahme von Risiken (Zinn 2004) ist meines Erachtens nicht nur bei Lebensmittelmärkten, sondern bei allen modernen Märkten (also etwa auch Finanzmärkten) systemimmanent: Gemäß dem vielzitierten neoklassische Marktmodell treffen Anbieter (Produzenten) und Nachfrager (Konsumenten) auf abstrakten und anonymen Märkten aufeinander. Ausgangspunkt der neueren wirtschaftssoziologischen Diskussion ist die Beobachtung, dass realwirtschaftliche Prozesse anders funktionieren und dass moderne Massenmärkte viel komplexer sind, als dieses vereinfachte Modell nahelegt. Wirft man den Blick auf einen einzelnen Markt (etwa auf den Fleischmarkt), so fällt vielmehr auf, dass Märkte nicht ein „Ding an sich“ sind. Vielmehr produzieren, vertreiben und tauschen Zulieferer, Produzenten, Handel und Konsumenten der Wertschöpfungskette („Supply Chain“) Güter und Dienstleistungen gegen Geld. Innerhalb jeder dieser Akteursgruppen herrscht Konkurrenz, wobei die Konkurrenzmechanismen jeweils andere sind. Weitere wichtige Marktakteure sind Arbeitnehmer, politische Akteure, die Banken und die Medien. Moderne (Massen-)Märkte sind so gesehen sehr lange und komplexe Interdependenzketten aus individuellen und kollektiven Akteuren. Die obige Grafik stellt exemplarisch die Akteurskonstellationen und Machtbeziehungen auf dem Joghurtmarkt um 2000 dar, soweit ich sie rekonstruieren konnte, und soll ein Gefühl für die Komplexität eines modernen Massenmarktes geben.
Ist ein Markt erst einmal etabliert, entwickelt er eine bestimmte Eigenlogik. Die einzelnen Marktteilnehmer haben nur noch begrenzten Handlungsspielraum. Es existiert dabei sowohl eine Logik für den Markt als Ganzes, aber auch die verschiedenen Teilbereiche sind einer eigenen Logik unterworfen. Diese Teillogiken können sich widersprechen bzw. in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Es verlaufen also in jedem Bereich parallele Prozesse. Diese sind zwar jeweils in sich logisch und konsistent, berücksichtigen aber nicht die Logiken sozialer und Marktprozessen in anderen Bereichen. Genau hierdurch entstehen Risiken.
Noch viel schwerwiegender für die Zunahme von Lebensmittelrisiken wiegt ein zweiter Punkt: Sowohl Marktsoziologen als auch Wirtschaftssoziologen abstrahieren i. d. R. von den von den spezifischen Eigenheiten des Produktes. Produktspezifische Eigenheiten sind jedoch meines Erachtens durchaus relevant für die Marktentwicklung und Produktion. Im Vergleich zu anderen industriell gefertigten Produkten weisen Lebensmittel Eigenheiten auf, die durch ihre stärkere Naturgebundenheit bedingt sind und die Marktlogik wesentlich mitbestimmen. Hierzu gehört, dass sie ein nicht substituierbares oder aufschiebbares Grundbedürfnis darstellen (Menschen müssen essen und trinken); dass eine relativ hohe Mindestqualität ausnahmslos gewährleistet sein muss (Problem: Lebensmittelvergiftungen); dass sie an Ernten bzw. die Zucht von Tieren gebunden sind und damit die Rohstoffe qualitativ und quantitativ stärker schwanken; dass sie stark standortgebunden sind (nicht alle Lebensmittel können überall hergestellt werden); dass sie relativ leicht verderblich sind; dass Produktion und Konsum stärker ethisch überformt sind (z. B. Tierrechte). Sie verweisen damit auf die Naturgebundenheit des Menschen und die natürlichen Grenzen jeder Gesellschaft. Wegen dieser Naturgebundenheit sind sie besonders risikobehaftet im Sinne der auch heute noch relativ geringen Kontrollierbarkeit durch den Menschen. Wegen ihrer Essentialität für den Menschen sind diese Risiken gegenüber anderen Marktrisiken auch relativ hoch im Sinne der Folgen im Falle des Eintretens einer Katastrophe.
In den folgende Wochen möchte ich einen Beitrag zu dem Versuch leisten, moderne (Lebensmittel-)Märkte und die Risikoproduktion auf diesen Märkten besser verstehen. Dies kann zu meinem derzeitigen Stand des Wissens nur eine erste Annäherung sein und bei diesem Versuch werde ich teilweise Einzel- und Unteraspekte beleuchten, die aber meines Erachtens für das Ganze relevant sind. Vermutlich werden die meisten Beispiele aus Märkten stammen, mit denen ich mich etwas näher beschäftigt habe, etwa der Joghurt- und der Wassermarkt (fragen Sie nicht, warum gerade diese Märkte …). Ich werde beginnen mit dem Vorwurf, dass die Verbraucher nicht bereit seien, ordentliche Preise für Güter zu bezahlen und dann mit der Rolle der Arbeitnehmer und der Medien auf modernen Märkten weitermachen und von da aus die Annäherung an das Phänomen Markt fortführen. Teils werde ich mich der Literatur bedienen, teils der Ergebnisse standardisierter Erhebungen, teils eigener Beobachtungen – das hängt vom jeweiligen Thema ab. Ich hoffe jedenfalls, dass es mir gelingt, dem Wunsch meiner Kommentatoren nachkommen zu können, dass die Texte auch für Nicht-Soziologen interessant sind. Und bitte nageln Sie mich nicht darauf fest, wenn ich beschließe, über etwas Anderes zu schreiben als Lebensmittel oder Wirtschaft …
Literatur
Zinn, Jens O. (2004), Literature Review: Sociology and Risk. Working Paper 2004/1 of SCARR (So-cial Contexts and Responses to Risk Network).
Liebe Frau Baur,
hiermit soll auch nicht „nicht-publiziert“ bleiben, dass ihre Studierenden höchst genau anschauen, was Sie hier posten.
Viel Spaß uns allen!
Lieber Herr Neumann,
ich freue mich, wenn Sie mitlesen – und ich verspreche auch, so wenig über Methoden zu schreiben wie möglich.
Herzliche Grüße,
Nina Baur
Sehr gut, Frau Professor! Bin gespannt, was weiter folgen wird.
mg