Zur sozialen Konstruktion von Raum bedarf es u.a. einer Syntheseleistung: Menschen fassen bestimmte Menschen- und Güteransammlungen zu Räumen – also zu einer Sinneinheit – zusammen, nehmen sie als solche wahr, stellen sie sich als solche vor und erinnern sich an sie auf diese Art und Weise (Löw 2001: 159, 263; Elias 1969). Dabei fassen wir durchaus auch recht Unterschiedliches und Heterogenes zusammen. So lesen wir etwa in der Presse immer wieder von „Deutschland“, „Frankreich“, „Großbritannien“ oder „China“, und wir gehen implizit dabei vom nationalstaatlichen institutionellen Rahmen sowie einer „kulturelle Einheit“ oder „Ähnlichkeit“ innerhalb des Raumes aus. Wie brüchig diese Konstruktion von Einheitlichkeit ist, wird am Beispiel von China deutlich.
Zunächst einmal ist China groß – das wissen wir alle, wenn auch auf sehr diffuse und unbestimmte Art und Weise. 9,5 Millionen km2. 1,3 Milliarden Menschen. Das klingt schon irgendwie nach viel. Es ist aber ein bekanntes Phänomen aus der Mathematik der Zahlen, dass Menschen vor allem große Zahlen schwer erfassen können (das sieht man u.a. auch daran, dass in Deutschland wesentlich mehr über die Erhöhung der Hartz IV-Beträge um ein paar Euro diskutiert wurde als über die milliardenschweren Eurorettungspakete …).
Was diese Größenordnungen aber tatsächlich bedeuten, beginnt man erst zu erahnen, wenn man sie körperlich erfährt oder sie wenigstens in vertraute Größenordnungen einsortieren kann. So dauert etwa ein Inlandsflug von Peking nach Kūnmíng etwa viereinhalb Stunden (das ist so weit wie etwa zu den Kanaren) – und damit wurde gerade einmal etwa ein Drittel des Landes durchquert. Allein Peking hat 21 Mio. Einwohner und mit 17.000 km2 in etwa die Fläche von Schleswig-Holstein oder Belgien. Die Provinz Yúnnán, in der Kūnmíng liegt, ist hinsichtlich Fläche und Einwohnerzahl in etwa mit Deutschland vergleichbar. China ist also groß, und wenn man sich das vor Augen führt, ahnt man, dass die Konstruktion des Raumes „China“ durchaus gewagt ist.
Wie gewagt, sieht man, wenn man sich das im Detail anschaut. Das uns in der Presse üblicherweise vermittelte Bild vom modernen China basiert auf Darstellungen von Großstädten wie Peking, Shanghai und Hongkong. Diese Städte sind untereinander schon sehr unterschiedlich.
So weist die britisch geprägte Finanz- und Hafenstadt Hongkong (香港) von allen chinesischen Städten das höchste Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf[1] auf – es ist in etwa vergleichbar mit dem von Westeuropa. Die Stadt ist gekennzeichnet durch eine sehr große Menschendichte sowie eine Orientierung am internationalen Markt (den sie durch die Börse durchaus auch mitbestimmt). Auch wenn kulinarische Spezialitäten aus aller Welt genossen werden können, so ist doch Dim Sum eine lokale Spezialität.[2]
Peking (Beijing) (北京) hat immerhin das vierthöchste chinesische Pro-Kopf-Einkommen, es ist aber noch nicht einmal halb so hoch wie das von Hongkong. Im Vergleich zu Hongkong merkt man Peking an, dass die Stadt schon seit Jahrhunderten Hauptstadt und Verwaltungszentrum ist. Sie ist u.a. geprägt durch monumentale Großbauten, ihre Kultur, Verwaltung und Universitäten. Aufgrund der langen Tradition als kulturelles und politisches Zentrum kann man auch hier Speisen aus aller Welt genießen, aber besondere lokale Beiträge sind etwa Pekingente und mongolischer Feuertopf. Auch wenn die Stadt – wie Hong Kong – sehr modern ist, so wirkt sie doch etwas behäbiger als das Hongkong (so etwa, wie sich Berlin zu Frankfurt verhält).
Trotz aller Unterschiede haben die beiden Metropolen Vieles gemeinsam: Sie befinden sich im östlichen Drittel Chinas. Auch wenn es hier noch sehr viel Landwirtschaft gibt, so ist doch dieser Landesteil sehr stark verstädtert und industrialisiert, und entsprechend ist der Wohlstand relativ hoch. Auch wenn die meisten hier lebenden Chinesen (mit Ausnahme vielleicht der Hongkonger) von deutschen Einkommen nur träumen können, so findet man hier durchaus auch sehr viele sehr reiche Menschen (von deren Einkommen wir wiederum nur träumen können).
Weiterhin ist die Bevölkerungsdichte im Osten Chinas für uns kaum vorstellbar – etwa zwei Drittel der 1,3 Mrd. Chinesen leben in diesem Landesdrittel. Und sie sind fast alle Han-Chinesen. China ist aber ein Vielvölkerstadt mit mehr als 50 ethnischen Minderheiten. Die Provinz mit der höchsten ethnischen Diversität ist Yúnnán (雲南 / 云南) – hier gehören etwa 40% der Bevölkerung zu einer ethnischen Minderheit (sie sind also keine Han). Hier zeigen sich die vielen Gesichter Chinas besonders deutlich:
Die Provinzhauptstadt Kūnmíng (昆明) ist den Metropolen des Ostens noch relativ ähnlich. Auch hier leben größtenteils Han-Chinesen. Von der Einwohnerzahl (ca. 7 Mio.) ist Kūnmíng in etwa so groß wie Hongkong (aber auf wesentlich größerer Fläche) und damit wesentlich kleiner als Peking. Auch Kūnmíng ist eine moderne, industriell geprägte Großstadt sowie ein lokales Kultur-, Bildungs- und Verwaltungszentrum mehr als 20 Universitäten und Hochschulen, aber es bereits deutlich ärmer als Peking, dessen Pro-Kopf-Einkommen dreimal so hoch ist wie das von Kūnmíng – und doch erwirtschaftet Kūnmíng ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung von Yúnnán, ist also wiederum wesentlich wohlhabender als die übrigen 90% der Bevölkerung der Provinz (die – zur Erinnerung – etwa viele Einwohner hat wie Deutschland).
Zwar wohnen die Menschen auch in Kūnmíng (wie in den Städten des Ostens) in großen Wohnblocks, aber diese sind oft mehr als vierzig Jahre alt. Toilette und Bad von mehreren Wohnhäusern befinden sich typischerweise in einem Gemeinschaftshäuschen in der Mitte des Blocks, und es ist keine Seltenheit, dass eine ganze Großfamilie in einem einzigen Raum eines solchen Gebäudes wohnt. Natürlich ändert sich das momentan rasant – seit Jahren wird ein modernes Hochhaus nach dem anderen gebaut, so dass mehr und mehr Familien in moderne Appartements ziehen können (und sich dadurch wenigstens eine Wohnung mit eigenem Bad teilen statt eines Zimmers), aber bei der Größe der Stadt wird es noch einige Jahre dauern, bis sie modernisiert wird – und die Lebensbedingungen sind völlig anders als im Osten.
Auch die Uhren ticken hier anders – auch wenn Kūnmíng durchaus sehr geschäftig ist, so wirkt sie doch insgesamt ruhiger als der Osten, mit einem See und zahlreichen Tempeln, die als soziale Treffs v.a. für ältere Chinesen dienen.
Nordöstlich von Kūnmíng befindet sich Lìjiāng (丽江市).
Die matrilinearen Naxi sind hier die vorherrschende Ethnie. Lìjiāng ist besonders beschaulich – mit zahlreichen Kanälen gleicht es einem Kleinvenedig oder chinesischen Rothenburg ob der Tauber, weshalb es ein Zentrum für den innerchinesischen Tourismus geworden ist – und zwar mit allem Drum und Dran, inklusive Folkore-Shows für die Touristen.
Gleichzeitig findet man zahlreiche Brüche und Hinweise auf die vergleichsweise einfacheren Lebensverhältnisse der Bewohner. So nutzen die Frauen so wie eh und je das Wasser der Kanäle, die die Stadt durchziehen, zum Gemüse- und Wäschewaschen.
Noch weiter im Norden, fast an der Grenze zu Tibet, befindet sich Zhōngdiàn (中甸) (das zu Stadtmarketing-Zwecken in Shangri-la (香格里拉) umbenannt wurde). Hier leben vor allem Tibeter.
Außerhalb der Stadt ist der Lebensstil noch weitgehend ländlich geprägt, und während die Han-Chinesen v.a. Reis anbauen, betreiben die Tibeter Viehzucht. Entsprechend ist das Essen wesentlich fleisch- und milchlastiger (eine lokale Spezialität ist etwa der Buttermilch-Tee).
Noch weniger entwickelt ist die Stadt Shāxī (沙溪), die an der ehemaligen Teeroute liegt.
Die verschlafene Kleinstadt (und zwar Kleinstadt nach europäischen und nicht nach chinesischen Maßstäben) liegt in einem Tal, in dem v.a. Reis angebaut wird. Auch wenn sich die chinesische Regierung bemüht, Städte wie diese durch Infrastrukturmaßnahmen zu entwickeln, so hat man doch das Gefühl, als sei die Zeit hier stehengeblieben.
Aber Shāxī ist immer noch ein Mittelzentrum – einmal die Woche findet ein Markt statt, zu dem die Bewohner der Dörfer in den Bergen hinunter ins Tal kommen, um selbst produzierte Lebensmittel oder handwerkliche Produkte gegen andere Produkte des täglichen Bedarfs zu tauschen.
Steigt man hinauf in die Berge (für Fahrzeuge geeignete Straßen oder sonstige moderne Transportmittel gibt es nicht), hat man das Gefühl, ins 19. Jahrhundert einzutauchen. Die Menschen sind hier viel ärmer, und weil der Boden zu schlecht und die geographische Lage zu hoch ist, kann man hier keinen Reis, sondern nur Kartoffeln anbauen. Während es in Shāxī immerhin noch in vielen Haushalten technische Geräte und fließendes Wasser gibt, wird hier das hart in Subsistenzwirtschaft erwirtschaftete Essen noch an Kochstellen gekocht.
Ich war insgesamt vier Wochen in China, und Alles, was ich über China sagen kann, ist dass ich nichts über dieses Land weiß – weil man meines Erachtens viel genauer hinschauen müsste, als wir dies i.d.R. tun und ich jedenfalls in vier Wochen tun konnte. Was man als Erstes sieht, sind Differenzen. Diese Diversität innerhalb des Landes binden wir nun im Alltag zu einem „Raum“ zusammen und nennen ihn „China“. Das kann man machen … irgendwie. Genauso wie man irgendwie sagen kann, dass Nordamerika, Europa, Russland, Australien und Neuseeland ein Kulturraum seien.
Was mich aber am meisten verblüfft, ist, dass solche gewagten sozialen Konstruktion in vielen Kontexten durchaus als Orientierungsrahmen für das Handeln funktionieren.
Literatur
Elias, Norbert (1969): Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. 7. Auflage (1994). Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Anmerkungen
[1] Ich nenne hier absichtlich keine exakten Zahlen – die Zahlen, die ich gefunden habe, sind alle schlecht vergleichbar, da sie aus unterschiedlichen, teils nicht besonders zuverlässigen Quellen und Jahren stammen, und ich bin mir auch nicht sicher, ob die Messmethoden mit denen des Statistischen Bundesamtes vergleichbar sind. Daher sollen die ungefähren Größenordnungen genügen. Allerdings passen die Daten, die ich gefunden habe, zumindest von der Größenordnung her zu den ethnografischen Befunden.
[2] Die Chinesen glauben, dass Essen ein so wesentlicher Bestandteil einer Kultur ist, dass diese nicht ohne sie erfahren werden kann, d.h. man kann China nicht verstehen, ohne das Verhältnis der Chinesen zum Essen zu verstehen, aber das nur nebenbei.
Danke für diesen Beitrag, er hat mir wieder einmal die Begrenztheit meines eigenen Horizonts nahegebracht.
Interessant wäre jetzt selbstverständlich noch eine emische Perspektive, inwiefern etwa „China“ von den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen selbst als ein Raum angesehen wird und wo die Bruchlinien in der Wahrnehmung der Bevölkerung liegen: Entlang der ethnischen Grenzen? Entlang der Grenzen der Produktionsweisen (Subsistenzwirtschaft, gemischt, industriell)? Oder gänzlich andere?
Aber ich nehme mal stark an, dass die Zusammenhänge von Identität, Ökonomie und Raum in „China“ ein schier unüberblickbares Forschungsgebiet sind…
Liebe)r) tuli,
da kenne ich mich leider tatsächlich nicht gut genug aus, um eine fundierte Aussage machen zu können – und es wäre hilfreich, chinesisch zu können.
Dass das nicht unumstritten sind, sieht man m.E. an den ethnischen Konflikten innerhalb von Chinas.
Andererseits hat ja bereits Weber gezeigt, das China auch über die Administration zusammengehalten wird. Was ich beim Besuch sehr verblüffend fand, ist dass die Chinesen in verschiedenen Landesteilen sehr unterschiedliche Sprachen sprechen (der Unterschied soll angeblich größer sein als zwischen Russisch und Spanisch). Kommunikativ zusammengehalten wird das Ganze durch die Sprache, d.h. wenn man in einen anderen Landesteil geht und sich nicht versteht, schreibt man es auf. Das war so internalisiert, dass die meisten Chinesen, wenn sie festgestellt haben, dass wir sie (beim Reden) nicht verstehen, uns einfach aufgeschrieben haben, was sie meinen – und dann ganz verdattert waren, dass wir so ungebildet sind, dass wir noch nicht einmal (chinesisch) schreiben können.
Herzliche Grüße,
Nina Baur