Der Konsum als vernachlässigtes Thema in der Soziologie

So produktiv die Differenzierung der Soziologie in spezielle Soziologien in vielen Bereichen ist, so problematisch ist, dass sie dadurch auch systematisch blinde Flecken entwickelt. Einer der blinden Flecken ist die Konsumsoziologie. Während der Konsum im Angelsächsischen ein breites und etabliertes Feld soziologischer Analyse ist (Ryan 2007), fristet das Thema in Deutschland ein Schattendasein. Dabei ergeben sich zahlreiche Verknüpfungsmöglichkeiten mit anderen Themenfeldern der Soziologie, die das Potenzial soziologischer Analyse deutlich erhöhen würden.

Eines der Resultate innersoziologischer Arbeitsteilung, das mich nach wie vor am meisten verblüfft, ist, wie wenig Konsumsoziologie einerseits und Wirtschafts-, Markt- und Organisationssoziologie andererseits miteinander verknüpft sind (übrigens auch im Angelsächsischen), obwohl der Gedanke, dass Konsum etwas mit Produktion zu tun hat, meines Erachtens völlig naheliegend ist. Ich habe gestern versucht zu zeigen, dass es gar nicht möglich ist, moderne Märkte zu verstehen, ohne den Verbraucher mit zu berücksichtigen, weil er ein wichtiges Glied der Wertschöpfungskette ist: Erst der Konsum schließt auf kapitalistischen Märkten den Güter- und Geldkreislauf. Gleichzeitig konstruieren Konsumenten in Interaktion untereinander und mit anderen Marktakteuren den sozialen Wert von Produkten und damit die Marktfähigkeit und den potenziellen Preis eines Produkts. Ich erkläre mir diese mangelnde Verknüpfung aus der Geschichte der Soziologie: Die neue Wirtschaftssoziologie war von Anfang an sehr stark mit der Organisationssoziologie verzahnt. Gerade letztere fokussiert vor allem auf Produzentenmärkte, Produktionsnetzwerke sowie (produzierende) Unternehmen und ihre Zulieferer. Immerhin fand 2009 eine gemeinsame Tagunge der DGS Sektion Wirtschaftssoziologie und der AG Konsumsoziologie 2009 zum Thema „Die Ökonomie des Konsums – der Konsum in der Ökonomie“ statt, als deren Resultat der mittlerweile einige Veröffentlichungen entsprungen sind, aber die Diskussion steckt noch ganz am Anfang.

Ebenso wichtig fände ich, Konsumsoziologie und Sozialstrukturanalyse wieder stärker zusammenzudenken, da sich in Konsummustern die komplette Sozialstruktur widerspiegelt, da Verbraucherverhalten u. a. nach Alter, Geschlecht, Milieu (bzw. Klasse, Schicht), Ethnizität und Region variiert und insbesondere ein wichtiges Mittel sozialer Distinktion ist. Da historisch der Konsument nicht geschlechtsneutral ist, sondern eben eine Konsumentin, d.h. die Konsumfunktion der (bürgerlichen) Frau als zentrale Aufgabe im Rahmen des Ernährer-Hausfrau-Modells zugewiesen wurde, wäre insbesondere eine Verknüpfung von Konsumsoziologie und Frauen- und Geschlechterforschung dringlich und fruchtbar. Konkret könnte ich mir ein kombiniertes Analyseraster aus Lebensstilen und Geschlecht für eine solche Verknüpfung vorstellen. Erste Vorschläge hierzu finden sich bereits in der Lebensstilforschung (Rössel/Otte 2012).

Da das Individuum im Kapitalismus nicht nur über den Konsum, sondern auch über den Produktionsbereich – als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber – mit der modernen Wirtschaft verknüpft ist, fände ich weiterhin eine Verknüpfung von Konsumsoziologie und Arbeits- und Industriesoziologie hilfreich. Wichtig wäre dabei zu beachten, dass erstens diese Rollen als Verbraucher und Produzent (wenn sie in derselben Person vereint sind) konfligieren können, aber gleichzeitig auch eine Informationsrückkoppelung ermöglichen können. Zweitens sind aber diese Rollen eben oft nicht in derselben Person vereint, sondern im Haushalt geschlechtsspezifisch aufgeteilt – während der Frau historisch die Konsumseite zugewiesen wurde, wurde dem Mann die Produktionsseite zugewiesen. Alle sozialwissenschaftlichen und öffentlichen Debatten um das Ernährer-Hausfrau-Modell, Frauenquoten, weibliche Niedriglöhne usw. zeigen, dass wir es gewohnt sind, nur die Koppelung des Haushalts an den Markt über die Produktionsseite in den Blick zu nehmen, nicht aber über die Konsumseite.

Schließlich verweist das Zusammendenken von Konsumsoziologie, Kultursoziologie und Wissenssoziologie auf den Konsum jenseits der Marktentnahme – auf den Alltag, der aber einerseits vom Marktgeschehen beeinflusst wird, andererseits eine (für die Märkte) unberechenbare Komponente ins Marktgeschehen bringt.

 

Literatur

Rössel, Jörg/Otte, Gunnar (Hg.) (2012): Lebensstilforschung. Sonderheft 51 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS). Wiesbaden: VS-Verlag

Ryan, Michael T. (2007): Consumption. In: Ritzer, George (Hg.) (2007): The Blackwell Encyclopedia of Sociology. Blackwell Publishing Ltd. 701-705

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie