Die Koppelung von Arbeitsmarkt und Sozialstaat über das Ernährer-Hausfrau-Modell

Einer der stärksten politisch regulierten Märkte ist der Arbeitsmarkt. Arbeitsmarkt und Sozialstaatsind in fast allen Industrieländern eng miteinander gekoppelt, d.h. gesetzliche Rahmenbedingungen fördern bestimmte Lebensformen (und erschweren damit gleichzeitig andere). In West-Deutschland weisen diese institutionellen Arrangements (die nach der Wende zumindest teilweise auf Ostdeutschland übertragen wurden) seit Mitte der 1960er zusätzlich eine Geschlechterkomponente auf (Baur 2007, Hofmeister et al. 2009). Wie sieht diese spezifische Koppelung aus?

Wie die Grafik illustriert, sind in Deutschland verschiedene Institutionen so aufeinander abgestimmt, dass sie sich gegenseitig stabilisieren (was auch Reformen so schwer macht, weil etablierte Strukturen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Neuerungen haben). Diese bestehen im Einzelnen aus folgenden Komponenten:

Koppelung der Ernährerfähigkeit an den Arbeitsmarkt

Wohlstand wird Deutschland seit der Industrialisierung vornehmlich über ein Erwerbseinkommen erworben. (Bezahlte Berufs-)Arbeit ist also Basis für die Fähigkeit von Eltern, ihre Kinder finanziell zu versorgen. Damit wirkt die gesamtwirtschaftliche Entwicklung auf die Fähigkeit Einzelner zurück, eine Familie zu gründen und langfristig zu ernähren. Der Wegfall des Familieneinkommens durch Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Tod des Familienernährers kann den Ruin der gesamten Familie bedeuten.

Statuserhalt durch Sozialversicherungssysteme

Deshalb hatten die Bismarck’schen Sozialversicherungen neben dem Ziel, die Arbeiterschaft in die Gesellschaft zu integrieren und die Sozialdemokratie zu schwächen, auch das Ziel, die Familie des Arbeitnehmers vor den schlimmsten Folgen des Verlusts seiner Arbeitskraft zu schützen. Ansprüche auf Sozialleistungen werden vorrangig über Sozialversicherungsbeiträge erworben, sind also an abhängige Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt gekoppelt, und die Versicherungssysteme zielen auf Statuserhalt ab. Deutschland ist damit der Prototyp des sog. konservativen Wohlfahrtsstaats.

Subsidiaritätsprinzip und Vorleistungen der Familie für den Arbeitsmarkt

Die Gesamtwirtschaft ist gemäß dem Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft aber nicht nur die Basis für die Finanzierung des Sozialstaats, umgekehrt greifen Arbeitgeber auf eine ganze Reihe von Leistungen zurück, die gesellschaftlich erbracht werden und der (Re)Produktion von Arbeitskraft dienen, etwa Ausbildung des Personals; Pflege- und Hausarbeit. Diese sozialen Dienstleistungen können über den Markt, den Staat oder über den sozialen Nahraum, namentlich die Familie, erbracht werden. Welche dieser Lösungen zu bevorzugen ist, ist eine normative Frage. Allerdings legt jede Gesellschaft über den regulativen und institutionellen Rahmen spezifische Lösungen nahe (Baur 2001, 136-145). Der deutsche Sozialstaat beruht auf dem Subsidiaritätsprinzip: So viele soziale Leistungen wie möglich (insbesondere Pflege‑, Erziehungs- und Hausarbeit) sollen innerhalb der Familie erbracht werden. Dies entlastet den Staat von der Verpflichtung, Leistungen wie qualitativ hochwertige Kinderbetreuungsangebote oder Ganztagsschulen selbst bereitzustellen.

Geschlechterarrangements

Deutscher Sozialstaat und Arbeitsmarkt sind nicht geschlechtsneutral. Vielmehr basieren sie auf dem Ernährer-Hausfrau-Modell: Der Arbeitsmarkt geht davon aus, dass der typische Arbeitnehmer ein Vollzeit berufstätiger Familienvater (also Mann!) ist. Einerseits soll sein Einkommen damit hoch genug sein, um eine Familie zu ernähren. Andererseits kann der Mann sich voll auf die Arbeit konzentrieren (sowohl emotional, als auch hinsichtlich der Arbeitszeiten), denn der Sozialstaat geht von einer nicht erwerbstätigen Hausfrau und Mutter aus, die die Pflege- und Erziehungsarbeit übernimmt und ihrem Mann den Rücken frei hält (Baur 2001, 141-142).

 

 

Literatur

Baur, Nina (2001): Soziologische und ökonomische Theorien der Erwerbsarbeit. Eine Einführung. Frankfurt a. M.: Campus

Baur, Nina (2007): Der perfekte Vater. Vaterschaftsvorstellungen deutscher Männer. In: Freiburger Geschlechterstudien 21: „Männer und Geschlecht“. 79-114

Hofmeister, Heather/Baur, Nina/Röhler, Alexander (2009): Versorgen oder Fürsorgen? Vorstellungen der Deutschen von den Aufgaben eines guten Vaters. In: Villa, Paula-Irene/Thiessen, Barbara (Hg.): Mütter/Väter. Diskurse, Medien, Praxen. Münster: Westfälisches Dampfboot. 194-212

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie

2 Gedanken zu „Die Koppelung von Arbeitsmarkt und Sozialstaat über das Ernährer-Hausfrau-Modell“

  1. Liebe Frau Baur, ein spannendes Thema. Bei GESIS wurde dazu ebenfalls im neuen Informationsdienst Soziale Indikatoren ISI ein Artikel von Wirth und Tölke „Egalitär arbeiten – familienzentriert leben: Kein Widerspruch für ostdeutsche Eltern“ publiziert. In Ostdeutschland ist das traditionelle Rollenbild trotz Politik (noch) nicht vorherrschend.

    Im übrigen wollte ich auf diesem Weg Ihnen sagen, dass ich Ihre Blogbeiträge wirklich spannend finde!

  2. Liebe Frau Hollerbach,

    danke für die Präzisierung – in der Tat habe ich mal wieder wegen des Blogformats etwas zu sehr verkürzt. Ihre Aussage stimmt mit unseren eigenen Daten überein: Auch wenn die westdeutschen Institutionen nach der Wende auf den Osten übertragen wurde, wirken – wie Sie schreiben – im Osten die Rollenbilder der DDR fort, was sich auch in der Alltagspraxis zeigt. Dort arbeiten z.B. auch Mütter selbstverständlich weiter, und das Ernährer-Hausfrau-Modell wird i.d.R. nicht praktiziert.

    Herzliche Grüße,
    Nina Baur

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