Der zweite Eindruck: Soziale Ungleichheit und die Diskursforschung

Nach einer Mittagsvorlesung über die Entwicklung der Einkommensverteilung in den USA fand eben der Workshop „‚Überflüssige‘, ‚Prekariat‘, ‚Hartzer’… Zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit(-soziologie) und Diskurs(-forschung)“ statt. In vier Vorträgen loteten die Vortragenden an unterschiedlichen Empirien aus, inwiefern sich die Diskursforschung eignet, die Konstruktion von Ungleichheit in den Blick zu nehmen und welche Rolle die Soziologie bzw. die Sozialwissenschaften für die Genese von Gruppen, die sie dann beobachtet, besitzen. Ein Disclaimer: kritisch und nörglerisch wird mein Fazit nicht ausfallen, da ich eine der Organisatorinnen der Gruppe (gem. mit Paula-Irene Villa) bin und dementsprechend für die Themenwahl und die Auswahl der Beiträge verantwortlich.

Den Anfang machten Andreas Hirseland und Philipp Ramos-Lobato vom IAB. Sie zeigten anhand einer Studie über die Selbstwahrnehmung und Selbstpositionierung von Arbeitslosen, wie sich die Individualisierung und damit Moralisierung der Arbeitslosigkeit gestaltet. Arbeitslosigkeit wird immer weniger als kollektives Phänomen, denn als individuelles Versagen zugerechnet. Nicht nur in Medien, sondern auch in Selbstbeschreibungen tauchen Narrationen des „faulen Hartzers“ auf. Interviewte versuchen bspw., sich von „echten“ Hartz-IV-Empfänger_innen abzugrenzen und sich als Ausnahme von der (durch den Diskurs postulierten und von den Betroffenen zumeist akzeptierten) Regel zu positionieren.

Sie konnten zeigen, wie wirkmächtig der Diskurs um Hartz IV zur individuellen Erfahrung von Deklassierung und Schuldhaftigkeit führt. Interessant fand ich, dass hier eine Art Exkulpierung der gesellschaftlichen – wenn man so will: kollektiven – Verantwortung stattfindet. Die individuelle Zurechnung entlastet die Organisationen des Staates davon, den Arbeitsmarkt besser zu regulieren.

Im zweiten Beitrag beschrieb Franka Schäfer von der Fernuni Hagen „Armut im Diskursgewimmel“. Ihr ging es darum, die diskursive Konstruktion von Armut seit den 1950er Jahren zu untersuchen und damit zu zeigen, dass Armut nicht einfach da ist, sondern erst durch Diskurse sichtbar gemacht wird, die historisch kontingent und von je nach Zeitphase unterschiedlichen Narrativen umspannt werden. Ich konnte nicht alles mitschreiben, aber Schäfer hat in ihrer Diskursanalyse 5 Typen der Armutskonstruktion herausgearbeitet, von denen einer der „ordnende Konfusions-Armutsbegriff“ der 1950er Jahre ist. Dieses Narrativ beschreibt die Idee, dass Armut das Ergebnis einer gesellschaftlichen Unordnung (in Deutschland: nach dem 2. WK) darstelle und durch Korrekturen zu beheben sei. Und erst 1990-2005 enstehe z.B. in den Sozialwissenschaften eine Idee von „arbeitenden Armen“.

Im dritten Beitrag sprach Veit Schwab von der LMU München über die (Un-)Möglichkeit der Differenzierung zwischen Flucht- und Arbeitsmigration. Diese binäre Unterscheidung durchziehe quasi-naturalisiert viele Gesetze und politische Reden, in der Praxis aber werde sie unscharf. Der „Labour/Refugee-Divide“ durchziehe aber auch emanzipatorisch gemeinte Stellungnahmen, zum Beispiel indem Soziale Bewegungen die Refugees zu ihrer Präferenzgruppe machten. Spannend fand ich hier die Frage, welche Funktion eine derartige Unterscheidung für unterschiedliche Praxen in Organisationen oder für Selbstbeschreibungen von Personen besitzen. Schwab zeigte zum Beispiel, wie ganze Gruppen von Menschen aus gewissen Ländern als per se unproduktive und illegitime Zuwanderer_innen betrachtet werden.

Und im vierten Vortrag sprach Stefanie Bischoff von der Goethe Universität Frankfurt über das Projekt EDUCARE und hierbei besonders über den Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozialer Herkunft bzw. die Frage, wie das „erfolgreiche Schulkind“ und seine familiale Umwelt im Diskurs von Sozial- und Bildungspolitik konstituiert werden. Dabei diente ihr und ihren Kollegen und Kolleginnen das Konzept der symbolischen Macht von P. Bourdieu als Rahmengeber. Am empirischen Beispiel zeigte Bischoff, wie Leitbilder „guter Kindheit“ und „Risikokinder“ in offiziellen Texten hergestellt werden. Durch eine Verkettung von als defizitär beschriebenen Eigenschaften (wie Migration der Eltern u.a.) werden Elterngruppen nach Kompetenz und Befähigung unterschieden und Frames für die Bildungsarbeit gesetzt.

Ich würde gerne noch über die Diskussion schreiben, die im Anschluss an die Vorträge stattfand, nur: der Akku meines Laptops ist fast leer und ich habe kein Kabel dabei. Darum stürze ich mich nun in die Kaffeepause mit Blick auf das schöne Bern – und reiche Ihnen und Euch Links zu den Vortragenden und ihren Publikationen (sowie das Korrekturlesen meines Beitrags – *hüstel*) später oder morgen nach.

4 Gedanken zu „Der zweite Eindruck: Soziale Ungleichheit und die Diskursforschung“

  1. Liebe Jasmin Siri,

    zurück am Hagener Schreibtisch nochmal vielen Dank an Dich und Frau Villa für die wirklich sehr gute inhaltlich wie formale Organisation des Workshops beim SSC in Bern. Sowohl an den Beiträgen als vor allem auch an der Diskussion im Nachgang konnte man ablesen, dass die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von sozialer Ungleichheit(-soziologie) und Diskurs(-forschung) überfällig und fruchtbar war und die Relevanz der Diskurstheorie für die Erforschung der Konstruktion von Ungleichheit weiter hervorgehoben werden muss. In diesem Sinne back to business as usual und Grüße nach München!

  2. Liebe Franka Schäfer,

    danke für die Nachricht. Ich bin auch richtig zufrieden mit der Veranstaltung und habe mich sowohl über die vielen Besucher_innen (es waren ja 16 Veranstaltungen gleichzeitig!) als auch über die Qualität aller Vorträge und den Verlauf der Diskussion, in der ja „wirklich“ Argumente ausgetauscht wurden, sehr gefreut. Ich fand besonders toll, wie groß das Einverständnis zwischen Euch Referierenden war, wie zum Beispiel Fragen aus dem Publikum gemeinsam beantwortet wurden. Vielen Dank nochmal Dir speziell für den lehrreichen Vortrag, ich werde mir kommende Woche Dein Buch bestellen und nochmal genauer nachlesen.

    Herzlich,
    Jasmin

  3. Als Folge der völligen Verkennung des Charakters unserer Wirtschaft müssen sich Widersprüche zwischen Wirtschaftstheorie und -praxis ergeben. Wenn man die Lehrsätze der Ökonomen, die für eine Wirtschaft der freien Konkurrenz gelten, auf eine Praxis überträgt, die alles andere als eine Wirtschaft der freien Konkurrenz ist, so können sie unmöglich mit der Erfahrung übereinstimmen. Die Berufsökonomen haben irriger Weise eine freie Wirtschaft angenommen, d. h. den freien Wettbewerb für verwirklicht gehalten und diesen Irrtum ganz allgemein zu verbreiten gewusst. Heute wissen wir, dass sich die Wirtschaftswissenschaft tatsächlich geirrt hat. Nicht etwa, dass ihre Schlussfolgerungen nicht gestimmt hätten. Nein, es ist vollkommen richtig, dass eine freie Wirtschaft zu einer dauernden Harmonie von Angebot und Nachfrage, zur Vollbeschäftigung, allmählichen Zinssenkung, ansteigenden Reallöhnen und Wirtschaftsblüte führen muss. Nur die Voraussetzungen bestehen nicht. Was man für eine Wirtschaft der freien Konkurrenz gehalten hat, ist eben keine freie, sondern eine Monopolwirtschaft. Eine solche kann begreiflicherweise die günstigen Auswirkungen, die man von einer freien Wirtschaft mit Recht erwarten darf, nicht erfüllen!

    Die schwerstwiegenden Folgen ergaben sich, als die Politik sich des Widerspruchs bemächtigte. Man machte für die üblen Folgen der Monopolwirtschaft, für die wiederkehrenden Wirtschaftsstörungen, Krisen, Dauerarbeitslosigkeit, chronische Unterbeschäftigung, für die sozialen Missstände, die Verarmung der breiten Massen, die Proletarisierung des ehemaligen Mittelstandes usw. die – nicht existierende – freie Wirtschaft verantwortlich. Man warf und wirft der Wirtschaftswissenschaft vor, die von ihr gepriesene und nach ihrer ausdrücklichen Erklärung verwirklichte „freie Wirtschaft“ tauge nichts, habe nicht gehalten, was man sich von ihr versprochen habe und führe, anstatt zur vorausgesagten Wirtschaftsblüte und Harmonie, zu unerträglichen wirtschaftlichen und sozialen Missständen. Das Heil liege in einer staatlichen Planwirtschaft, in einer rigorosen Einschränkung, wenn nicht gar Abschaffung der privaten Unternehmertätigkeit, in einer Abkehr von der „freien“ Wirtschaft. Andere politische Richtungen wieder verweisen auf die zahlreichen Übelstände der staatlichen Planwirtschaft und fordern die „Rückkehr zur freien Wirtschaft“ – die es noch nie gegeben hat -, kurzum: die Begriffsverwirrung ist allgemein.

    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2013/02/marktgerechtigkeit.html

    In der „Wissenschaft“ der Soziologie scheint die Begriffsverwirrung „noch allgemeiner“ zu sein.

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