Social engineering ist ein in der Forschung noch nicht definierter Begriff, obwohl er seit dem frühen 20. Jahrhundert vereinzelt durch die Literatur geistert. Am nächsten ist ihm noch die schwedische Historikerin Yvonne Hirdman gekommen in ihrem wichtigen Buch „Att lägga livet tillrätta“ (das ist irgendwo teilweise ins Englische übersetzt worden), weniger jedenfalls Karl Popper, der oft als Referenz genannt wird, weil es ihm vor allem um eine Abwehr totalitären Planungsdenkens ging. In einem DFG-Forschungsprojekt habe ich mich zusammen mit David Kuchenbuch, Timo Luks und Anette Schlimm etwa vier Jahre abgemüht, den Begriff zu profilieren, das waren außerordentlich gewinnbringende Diskussionen. Wir haben den Begriff weder aus den Quellen entwickelt, weil es ihn da kaum gibt, noch einfach definiert und dann an die Quellen herangetragen. Eher war es eine Art synthetisierendes Verfahren. Wir haben mit Hilfe von Theorien — Ludwik Fleck, Michel Foucault u.a. —, empirischer Studien und an den Quellen Felder, Themen und Akteure identifiziert und auf diese Weise immer mehr umrissen, was social engineering sein könnte und was nicht.
Es ging nicht darum, einen essenziellen Gehalt des Phänomens zu bestimmen oder den Begriff eindeutig zu definieren. Vielmehr verstehen wir den Begriff als eine Form der Verdichtung. Ganz unterschiedliche Folien werden übereinandergelegt, sie sind nicht deckungsgleich, im Zentrum gibt es Ähnlichkeitsbeziehungen, an den Rändern fransen sie aus. Der Begriff kennzeichnet eine — eine — Perspektive auf die Geschichte, durch die höchst unterschiedliche Akteure, Phänomene oder Ereignisse durch einen empirischen Beobachter miteinander „ins Gespräch gebracht“ werden. Social engineering gibt es nicht als Realität, aber die Geschichte der Moderne kann mit Hilfe dieses Folienbündels anders interpretiert werden. Konkret kann der Begriff nur in empirischen Studien werden, wobei die empirischen Befunde nicht zwanghaft auf den „Begriff“ zurechtgebogen werden dürfen.
Sehr kurz gesagt verbinden sich spezifische Technologien und ein spezifisches Weltbild in einem begrenzten Zeitraum der Moderne zu einer eine wirkmächtigen Formation, die mit Beschreibungsmodellen wie „Technisierung“, „Planung“, „Scientific Management“, „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ oder „(radikalem) Ordnungsdenken“ nur unzureichend zu fassen ist. Die Akteure sind Experten, eine seit dem 19. Jahrhundert neue Profession, die mit der Komplexität moderner Industriegesellschaften klar kommen sollte. Weltanschaulich ist der Tönnies’sche Gegensatz von „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ zentral sowie der Begriff der Krisis als Punkt einer fälligen Dezision, ob man den (vermeintlich) destruktiven Tendenzen der Moderne ihren Lauf lässt oder das Ruder herumreißt. Nichthandeln stellte also keine Option war, aus der drohende Destruktion konnten Experten geradezu die Pflicht zur Intervention ableiten. Unabdingbar war der strikte Bezug auf empirische Befunde und auf den Menschen als „Maßstab“. Das sollte die Legitimationsbasis für die Ordnung der Gesellschaft bieten, nicht ideologische oder metaphysische Setzungen und Annahmen. Deshalb auch setzten Sozialingenieure auf Lernprozesse. Statt Verordnungen und Gesetze schrieben sie lieber Ratgeber, sie versuchten, ihre Klientel zu erziehen und zu lehren, sich selbst so zu konditionieren, dass sie sich — mit Foucault gesprochen — durch ihre Lebensweise in die Zone der „Normalität“ begaben, also zum Teil einer „organischen“ Gemeinschaft machten.
Diese Elemente können für sich genommen in ganz unterschiedlichen Kontexten auftauchen, der Architektur, Technik, Sozialpolitik usw. In ihrer Kombination bildeten sie jedoch ein spezifisches Dispositiv bestehend aus Sozialtechnologien, einem Ordnungsmodell und einem dezidierten Gestaltungsimperativ, das vor allem in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und etwa den 1960er Jahren seine Wirkmächtigkeit entfaltete. Danach verlor dieser transnationale, Disziplinen übergreifende Versuch, mit künstlichen Mitteln eine verlorene natürliche Ordnung der Gesellschaft wieder zu erschaffen, indem man eine alle gesellschaftliche Bereiche durchdringende, soziale Ordnung entwarf, rapide an Überzeugungskraft. Eben deshalb ist es sinnvoll, den Begriff des social engineering als eine Schnittmenge unterschiedlicher Ebenen zu verstehen. Nicht nicht präzise zu definieren, muss er in konkreten empirischen Studien plausibel gemacht werden.
Machttheoretisch gesprochen haben wir es, denken wir z.B. an die funktionalistische (Bauhaus-) Architektur, um ein Pendeln zwischen den Polen der „Disziplin“ und der „Sicherheit“ zu tun, und das passt gut zum frühen 20. Jahrhundert, in dem einerseits mit neuen Lebensformen experimentiert wurde, das „unternehmerische Selbst“ (Ulrich Bröckling) sich abzuzeichnen begann, aber die alten und Techniken der Repression und Disziplinierung noch nicht ad acta gelegt worden waren.
Plötzlich stehen die schwedischen Sozialdemokraten Alva und Gunnar neben Architekten wie Hans Bernhard Reichow oder den Soziologen der Sozialforschungsstelle in Dortmund, alle auf der Suche nach einer „Gemeinschaft“ in der Moderne. Die einen blieben strikt demokratisch, hatten aber keine Scheu, das Leben der Menschen tiefgreifend neu zu konditionieren (ohne übrigens führende Advokaten einer Sterilisierungspolitik zu sein, wie in der Literatur immer wieder behauptet wird!), die anderen konnten sich mühelos in das „Dritte Reich“ hineinschmiegen und wieder herausschleichen. Was alle teilten: Die Suche nach „Ordnung“ und Stabilität inmitten einer sich rapide wandelnden Welt, der unbedingte Wille, immer wieder die eigenen Befunde zu korrigieren und die eigenen Planungen zu justieren, und natürlich die paradoxe Haltung, die destruktiven Effekte der Moderne mit den technologischen Mitteln, die sie genau dieser Moderne verdankten, zu bekämpfen.
Das ist jetzt außerordentlich verkürzt. Ich wollte nur andeuten, dass man im Kreisen zwischen Theorie und Empirie, Soziologie und Geschichtswissenschaft eine Perspektive entwickeln kann, die soziale Ordnung der Gesellschaft und die Versuche zu Ordnen anders zu deuten als das beispielsweise Zygmunt Baumans eingängige Metapher der „ambivalenten Moderne“ nahelegt. Nicht der Staat nämlich wurde zum „Gärtner“, der „die Bevölkerung [unterteilte] in nützliche Pflanzen, die sorgsam zu kräftigen und fortzupflanzen waren, und Unkraut — das entfernt oder samt Wurzeln herausgerissen werden mußte“ (Bauman, Moderne und Ambivalenz, 2005, S. 42). Der Befund, der auf den ersten Blick skandalös wirken mag, sagt vielmehr, dass das social engineering im 20. Jahrhundert tendenziell eher hegte als jätete, dass es also um eine positive Biopolitik ging, selbst im „Dritten Reich“. Dessen Vernichtungspolitik wäre ohne das social engineering, die Angst vor Destruktion und die Sehnsucht nach „Gemeinschaft“ nicht möglich gewesen. Das „Dritte Reich“ war, Bauman abgewandelt, der Extremfall des social engineering und durchaus keine Anomalie. Aber social engineering funktionierte in Demokratien und dem Nationalsozialismus, und nirgendwo stellte das Jahr 1945 eine Zäsur dar. Bis in die 1960er Jahre, darauf werde ich beim Beispiel der Rassenanthropologie erneut eingehen, waren die alten Denkmuster wirksam. (Mir ist allerdings klar, dass Bauman zuerst auf eine Neuinterpretation des Holocaust für die Soziologen zielte — ich messe seine Geschichte trotzdem mit den Maßstäben des Historikers.)
Für deutsche Sozialingenieure stellte die nationalsozialistische Vernichtungspolitik eher eine Art störendes Rauschen dar, während schwedische Sozialingenieure sich nicht vor tiefen Eingriffen in das Leben ihrer Mitbürger scheuten. Beides ist nicht besonders sympathisch, macht sie aber interessant für eine Analyse von Machttechniken jenseits der Konzepte von „Disziplinierung“ oder gar „Repression“. Denn wer, dank empirischer Daten, erfolgreich die Evidenz zwingender „Vernunft“ erzeugen kann, dem stehen raffiniertere Techniken zur Verfügung, die Lebenspraxis von Menschen zu regulieren, ohne sie vernichten, unterdrücken oder auch nur disziplinieren zu müssen. Das social engineering war also tendenziell total, was seinen erfassenden und steuernden Anspruch betraf, nicht aber notwendig totalitär.
Und heute? Da haben sich die Techniken erhalten und verfeinert, aber das so zentrale Gemeinschaftsdenken ist verschwunden. Kann man da noch vom social engineering reden? Ich habe bislang dafür plädiert, den Begriff für die historische Phase des „radikalen Ordnungsdenkens“ (L. Raphael) zu reservieren, damit er nicht, wie so viele Begriffe, zur Beliebigkeit verkommt. Sonst ist irgendwann jede Sozialtechnologie social engineering — und wenn man nicht mehr differenzieren kann, wozu dann noch der Begriff? Vielleicht ist das aber falsch. Vielleicht sollte man den Begriff für jede Form der Biopolitik, die Populationen mit Hilfe elaborierter Technologien des Selbst zu steuern versucht, verwenden. Aber auch das wäre erst noch durch empirische Studien plausibel zu machen.
Literaturhinweise:
Etzemüller, Thomas: Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal — Social Engineering in Schweden, Bielefeld 2010 (engl. 2014)
Etzemüller, Thomas: Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze, in: Ders. (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 11-39
Etzemüller, Thomas: „Freizeit soll harmonische Menschen schaffen“: Die „ambivalente Moderne“ und das social engineering des Alltags. Die Ausstellung „Fritiden“ in Ystad 1936, in: Historische Anthropologie 19, 2011, S. 372-390
Lieber Herr Etzemüller,
für mich ist das Verzwickte an der Sache, dass das social engineering in der Mitte des 20. Jahrhunderts eben ein gemeinsamer Schritt so vieler Akteure aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, der Wirtschaft, der Verwaltung und der Politik war. Die, wie Sie sagen, „Sehnsucht nach Gemeinschaft“ machte auch vor den kopfgesteuerten Wissenschaftlern nicht halt. Im Grunde geht es um das sehr starke menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit und wie man es für eigene Zwecke nutzt. Im NS-Staat bekam das eine besondere „Qualität“. Es wurde auch dort problematisch, wo die Sozialingenieure in diesem Geist nicht nur jäteten sondern auch hegten.
Dieser Aussage (und anderen) in Ihrem Beitrag stimme ich zu. Ihre Beurteilung, dass beim social engineering „die nationalsozialistische Vernichtungspolitik eher eine Art störendes Rauschen“ darstellte, geht mir aber zu weit, weil wir das m.E. bisher so genau nicht wissen. Aber die Verbindung zwischen Sozialingenieuren und Vernichtungspolitik war wohl tatsächlich viel loser, als noch Ende der 1990er Jahre in der Geschichtswissenschaft angenommen wurde.
Ob und wie Soziolog_innen oder Historiker_innen die Welt verändern, wissen wir auch nicht so genau, wir wissen aber, dass, wenn sie Gutachten schreiben, in politikrelevanten Gremien sitzen und Politikern Ratschläge geben, sie in einer sichtbaren Welt leben, die – um es mit Woody Allen zu sagen – ständig expandiert. Einen freiwilligen Rückbau hat es im Land der Ingenieure nicht so richtig gegeben. Wohl aber einen erzwungenen Abbau durch die Kriege.
Das betraf auch die Infrastruktur, die scheinbar wie ein Tanker funktioniert hat und weiter funktioniert: langer Bremsweg.
Wie kommt es, dass Bauarbeiter im Westen Deutschlands für über zehn Millionen Flüchtlinge in den 1940/50er Jahren Häuser, Straßen, Brücken, Eisenbahnlinien, Kanäle usw. haben bauen können, ohne das uns aufgefallen ist, dass eben diese Aktivitäten auf soziale Integration von Bevölkerungsgruppen zielten? Wir stehen als deutsche Gesellschaft zum Glück periodisch vor der Frage, wohin mit ihnen, den Neuankömmlingen. Wie wollen sie leben, wie können sie leben? Und dann wird wieder Hals über Kopf entschieden, dass ‚wir‘ mehr Autobahnen, Umgehungstrassen Konsumtempel in Bahnhofsnähe und neue Start- und Landebahnen auf Flughäfen brauchen. Und die Kosten, jetzt und später, nur ein Hintergrundrauschen?
Soziale Integration hatte immer etwas mit Beton und Asphalt, mit Energieversorgung und mit Flächenverbrauch zu tun, aber vielmehr noch mit unserer Empathie und unseren Taten für uns selbst und für Andere. Mit anderen Worten: mit verantwortlich handelnden Menschen und gelingenden sozialen Beziehungen. Ob wir für diese Zwecke brauchen, was wir an schnellen Technologien haben, muss in unserer Welt jeder für sich beantworten. Die Folgen spüren allerdings alle.
Es ist ja nicht so, dass das versteinerte Denken mit den 1960er Jahren grundsätzlich verschwunden wäre, es hat nur die Pferde gewechselt. Das „Gedöns“ hingegen, da irrte Alt-Kanzler Schröder (was hatte der noch einmal mit Infrastruktur zu tun?), ist eine rare, gut zu pflegende und erneuerbare Ressource jeder Gesellschaft. Wie beschämend wenig Geld fliesst in soziale Einrichtungen, die sich genau darum bemühen; zu denen, die auch über ihre Gruppeninteressen hinaus denken und handeln? Wir brauchen bald eine entspannte soziale Wende. Das wäre wohl der wirksamste Schutz, um in den nächsten Jahrzehnten ein erneutes social engineering und die drohende ‚verordnete Gemeinschaft‘ auf unserem eng gewordenen Planeten zu verhindern.
Verzeihen Sie, wenn ich hier zum Schluss etwas zu sehr ins Politisieren und Spekulieren geraten sein sollte. Ihre Studien und die ihrer MitarbeiterInnen verfolge ich immer mit großem Interesse.
Viele Grüße,
Hansjörg Gutberger
Lieber Herr Gutberger,
das Bedrückende ist für mich, dass viele Experten den NS als Störrauschen betrachteten. Vielen Historikern beispielsweise war er zu pöbelig, Rassenanthropologen konnten mit den besonders verquasten Formen der NS-Rassenideologie nichts anfangen (ja!), Architekten hielten sich von den Blut-und-Boden-Häuslein fern – aber alle konnten sie mühelos mitmachen! Das dürfte daran gelegen haben, dass sie Ideologie und Profession spalteten: „Ich diente nur der Sache“ – die Nazis haben uns missbraucht. Das hat gut funktioniert, auch bei der Entnazifizierung 1945.
Ich erinnere mich an einen Zeitungsartikel letztes (?) Jahr, in dem es um die Frage ging, ob sich humanitäre Organisationen in Somalia (?) engagieren sollten. Die eine hat das mit der Begründung abgelehnt, dass man eine ethische Verantwortung habe und Hilfsgüter nicht sehenden Auges in die Hände bewaffneter Terrorgruppen fallen lassen dürfe. Die andere hat gesagt: Unser Job ist es zu helfen, für ethische Fragen sind andere Professionen zuständig. Man wird vermuten dürfen, dass Ethiker, die dann Bedenken formuliert hätten, mit dem Standardargument abgewehrt worden wären, dass sie bloß „Theoretiker“ seien, die von den Sachzwängen der praktischen Arbeit nichts verstünden. Und auf diese Weise kann man Reflexion ausblenden und allein „der Sache“ dienen. Die Haltung findet man übrigens auch in Albert Speers Memoiren mustergültig durchexerziert. Und deshalb kann man Infrastruktur für was auch immer aufbauen, ohne nachdenken zu müssen.
Viele Grüße!
TE
PS: Wir wissen ja: Viel Beton = viel Fortschritt (Wachstum!)
Der RSozBlog kommentiert den Beitrag hier: http://www.rsozblog.de/social-engineering-da-war-doch-noch-was/