Ich habe diesen Film das erste Mal 1997 im Tübinger „Arsenal“ gesehen, seitdem hat er mich nicht mehr losgelassen. „Cross over“ ist kein Dokumentarfilm, sondern ein Filmessay über das Verhältnis von Tradition und Moderne. Er beginnt in Basel und führt in einem weiten Bogen den Rhein entlang über Kärnten und das Appenzeller Land zurück nach Basel. Ein Roadmovie, bei dem Bild und Tonspur, Musik und die Sprecherstimme von Stefan Kurt ein ästhetisch überwältigendes, poetisches Gemälde bilden. Es geht um Grenzüberschreitungen und Rückkoppelungen, die Erfindung von Traditionen in der Moderne und die Integration der Moderne in die Tradition. Linie und Kreis: 1958 verließ der Bauer Gsellmann seinen Hof, um das Brüsseler Atomium zu besuchen. Zurück, begann er unverzüglich mit dem Bau einer Weltmaschine, in die er die Artefakte des andauernden Fortschritts integrierte und in eine Kreisform zwang. „Cross over als Lebenswerk“ (Filmausschnitt 1).
In Basel und Kärnten erzählen uns Grafiker, Designer, Arzthelferinnen, warum sie einmal im Jahr viel Zeit und Geld aufwenden, um sich in Tracht oder Narrenkostüm zu werfen, um am Dorffest oder der Basler Fasnacht teilzunehmen. Ein bis zwei Tage muss der Rock gestärkt werden, zwei bis drei Stunden dauert es, die Falten in Form zu legen, eine Stunde, ihn anzuziehen. Man geht in einem Ganzen auf — aber in Basel ist die Teilnahme an den Proben eher unverbindlich, einmal im Jahr trifft man diejenigen, die man nicht wirklich kennt. Die Fasnacht ist das obrigkeitlich gezähmte und eingehegte wilde Musizieren der Kleinen Leute; heute von den Vereinen geradezu militärisch reglementiert. Der ehemalige Hausbesetzer macht trotzdem mit, in einem „wilden Haufen“ eben. Und in dem Kärntner Dorf ist immer eine slowenische Herkunft präsent, als ein Teil der Bewohner als Tschuschen diskriminiert und von den Nazis vertrieben wurde. Man spricht nicht darüber, aber es gibt die Familiengeschichten, und beim Fest wandert die Kamera zwischen dem Chor, der die alten windischen Lieder singt, und dem Blasorchester hin und her. Beim Tanz, bei dem die Bewohner den Kreis und die Jugend die Speichen im Rad bilden, treten beide Musiktraditionen in ein Wechselspiel ein. Hinter der „zweiten Sprache“ liegt eine Vergangenheit, die mit dem Dorf und seinen Ritualen nicht kollidieren soll.
Immer wieder stößt der Film (in Österreich) auf den Nationalsozialismus. FSK besingt die Trappfamilie, dann folgt ein Lied über das vermaledeite Leben in einer kargen Landschaft, Hermann Göring gibt den Startschuss zum Bau der Göring-Werke in Linz, in dem heute ein Nebenerwerbsbauer arbeitet, um seinen Hof zu finanzieren, den er nicht verlassen will (Ausschnitt 2). Ein Gamsbüschel am Helm, und die Arbeit im Stahlwerk wird rückgekoppelt mit einem Konzert von Attwenger, die die Volksmusik mit Punkt und Hip-Hop verbunden und weiterentwickelt haben (Ausschnitt 3). Dieser Bauer ist übrigens der einzige, der mit einer Band abends die Retortenvolksmusik spielt, die wir aus all den Musikantenstadln kennen, happy und harmonisch. Im Wirtshaus dagegen wird gstanzelt, surreale, anarchische Improvisationen, bei denen Fische in Bäumen singen, Kühe Nester bauen und verdutzt die Leute schau’n. Erst bei diesem Film ist mir klar geworden, wie gut „echte“ Volksmusik im Gegensatz zur kommerziellen sein kann — aber selbst da irritiert einen der Film mit einer raschen Wendung.
Wir sehen am Wirtshaustisch fünf Herren einen melodiösen Jodel anstimmen (Ausschnitt 4). Sie sind mit Herz und Seele Kläuse, ein Bettelbrauch, der in der Mitte des 19. Jahrhundert entstanden ist. Die Behörden verboten das. In den 1920er Jahren schmückten die Kläuse sich mit den Artefakten der Moderne und nahmen „das Exotische — Viadukte, Flugzeuge, Dampfschiffe, den Zeppelin und den Eiffelturm — in ihre Lebenswelt hinein.“ Heute ziehen Zimmermann, Maurer, Spengler, Fensterbauer verkleidet auf die abgelegenen Höfe des Appenzeller Landes, um dem Bauern zum eisigen Sylvester mit einem Jodel Freude zu machen. Ein echter Brauch? „Der Kurator des Appenzeller Museums meinte, wenn es nicht die Berichte der Volkskundler und einen Tourismus hierher gegeben hätte, wäre der Brauch wohl längst ausgestorben. Er habe sich gehalten, weil er von Außen wahrgenommen wird. Das Fremde […] kam als Fremdenverkehr, mit seinem verklärten Blick auf die vergangene bäuerliche Lebensweise. Und die Waldfratzen, so wild und vorchristlich, sah man zum ersten Mal in den Fünfziger Jahren. Die Industrialisierung hatte die Leute in die Städte getrieben, heimatlose Gesellen. Ihre Nachfahren waren zurück. Unbeirrbar bestanden sie auf der Existenz einer heilen Welt. Man erfand sie ihnen.“ Und dann sieht man die Herren wieder, hinter den Masken bieten sie für Publikum und Kameras ihren Jodel dar. Erfundene Traditionen — aber sie werden ernst genommen, man gibt sich Mühe, sie erfreuen ihre Protagonisten. Sie bedeuten etwas.
Was mich an Chroniken fasziniert, dieser stumpfen, simplen Abfolge von Daten mit ihren Ereignissen, das ist die Vielschichtigkeit, die in ihnen zutage tritt. Vollkommen disparate Sachen stehen überraschend nebeneinander und konstituieren neue Bezüge. Und so macht das der Film. Als Roadmovie durchmisst er den Raum und stellt Praktiken der Traditionsbewahrung nebeneinander, durch Bilder im Bild lässt er Vergangenheit und Gegenwart als etwas Gleichzeitiges erstehen: die Vergangenheit in der Gegenwart, die Erfindung einer Vergangenheit für die Gegenwart. Schichtungen, Schachtelungen und Verschmelzungen, Kreisbewegungen in einer linearen Welt, und ihre gegenseitige Integration: die Moderne in die Weltmaschine, die Volksmusik in Attwenger.
Der Film dokumentiert nicht, er überrascht. Vieles bleibt unerklärt, aber Fragen kommen auf! Aha-Effekte stellen sich ein. Wie dürftig erscheint die Welt, wenn man der kulturpessimistischen Beschleunigungssoziologie glaubt. Tatsächlich: ein Leben voller Grenzüberschreitungen und Parallelen, Erfindungen und Wiederentdeckungen. Und selbst der Nebenerwerbsbauer: Nach der Arbeit im Stall und im Stahlwerk steht er abends mit seiner happy-Volksmusik auf der Bühne. Und interessant, auch er kann seine Musik.
Das ist einer der besten Filme, die ich je gesehen habe. Ein wissenschaftliches Buch zu schreiben wie dieser Film (im Geiste dieses Films), das wär’s. Kann man das?
Literaturhinweis (eine interessante Diskussion zwischen einer Lektorin und drei HistorikerInnen, ob man publikumswirksam und wissenschaftlich zugleich schreiben kann oder sollte).
Ich danke Thomas Tielsch für die Erlaubnis, Ausschnitte aus „cross over“ verwenden zu dürfen.
Vielen Dank hierfür, Thomas! Interessanter Film (kannte ich gar nicht) und anregende Kommentare. Und, nein, man kann m.E. kein Buch so schreiben. Das ist auch gut so. Aber man kann sehr wohl kluge, wissenschaftliche Texte schreiben, die unsere Denkgewohnheiten herausfordern, auf den Eigensinn der Menschen aufmerksam machen und uns so überraschen.