Ein Highlight des Kongresses war für mich der Vortrag von Andreas Reckwitz. Ohne das Themenfeld Flucht anzusprechen, behandelt er die Rahmenbedingungen der hitzigen Debatten und entwickelt ein Modell, mit dem sich die derzeitigen Diskurse einordnen lassen. Unter dem Titel „Kultur als Modus der Öffnung und Schließung in der Spätmoderne“ rekonstruiert er eine idealtypische Konfliktlinie in der gegenwärtigen nationalen und internationalen Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden. Dabei seien zwei Regime der Kulturalisierung spezifisch für die Postmoderne. Den Begriff der Kulturalisierung versteht er zunächst in Opposition zum Begriff Rationalisierung. Während es bei der Rationalisierung als zentrales Strukturmerkmal der Moderne um Optimierung und Standardisierung (im Sinne des Mittels zum Zweck) geht, meint Kulturalisierung das Bewerten von Dingen, Werten und Symbolen (Valorisierung). Es geht also um die Konstruktion von Eigenwerten und Schützenswertem und infolgedessen um die Intensivierung von Affekten.
Reckwitz entwickelt in einer analytischen Unterscheidung zwei Kulturalisierungsformen, die quer durch national gedachte Kulturen gehen, sowie deren Relationen: Zum einen die Hyperkultur (Kulturalisierung I), zum anderen den Kulturessentialismus (Kulturalisierung II).
Kulturalisierung I meint den Wettbewerb kultureller Güter, die selbst als Ressource für Selbstverwirklichung dienen. Die zentrale Instanz dieser Kulturform ist das Subjekt, das nach einem patchworkartig zusammengesetzten „Guten Leben“ strebt. Infolgedessen entwickeln Individuen durch Ästhetisierungen und Hybridisierungen eine subjektive Kultur. Grundsätzlich kann hier nahezu alles als wertvoll bewertet werden, insbesondere Optionenvielfalt und Diversität an sich. Dadurch werde die Auflösung herkömmlicher kultureller Grenzen hin zu einer Hyperkultur vorangetrieben, zugleich aber auch ein Wettbewerb – auch und insbesondere um Aufmerksamkeit – erzeugt (Reckwitz spricht hier auch von globalem Kulturkapitalismus).
Demgegenüber meint Kulturalisierung II die Konstruktion kollektiv-moralischer Gemeinschaften, bei der jeweils der Innen-Außen-Dualismus konstitutiv ist: Das wertvolle (kollektiv) Eigene wird dem weniger wertvollen Fremden gegenübergestellt. Der zentrale Referenzpunkt ist hierbei das Kollektiv, wodurch der Rahmen dessen, was als Eigenwert und damit als schützenswert gelten kann, geschlossen ist. Hierbei wird regelmäßig das historisch „Alte“ in Reinform idealisiert – sei es durch den Begriff des Volkes bei nationalistischen oder identitären Bewegungen oder durch die Rückbesinnung salafistischer Strömungen an die Entstehungszeit des Islams.
Durch diese Unterscheidung gelingt es Reckwitz nun, eine Vielzahl von weltweiten Phänomenen einheitlich zu beschreiben, indem er diese als Strukturmerkmal der globalisierten Welt bzw. der Postmoderne begreift. In „guten Zeiten“ können diese beiden Kulturalisierungstypen koexistieren: Während die Idee des Multikulturalismus radikalere Gemeinschaftsbildungen als eine Option unter vielen innerhalb der Hyperkultur vereinnahmen kann, ist es möglich, dass im Rahmen eines Kulturessentialismus alle „Kulturen“ wertgeschätzt werden, solange es zu keiner Durchmischung kommt (Kulturkreislehre). Diese (unproblematische) Koexistenz basiert nach Reckwitz jedoch auf dem systematischen Missverstehen der jeweils anderen Seite. Denn für die einen ist der Essentialismus nicht lediglich eine Option unter vielen. Und für die anderen kann die Trennung kultureller Gemeinschaften (als Kollektive gedacht) kein Leitprinzip sein.
Sobald sich diese beiden Typen der Kulturalisierung als gegensätzliche Regime verstehen, manifestiert sich die Konfliktlinie und zugleich kommt es zu eigentümlichen Solidarisierungen innerhalb einer Regimeform. Es kommt zu Koalitionen konträrer Gruppierungen, etwa zwischen gemäßigt Konservativen, Linken usw., die sich gemeinsam für eine offene (westliche) Gesellschaft aussprechen und gegen „ihre Feinde“ stellen. Die Feinde der offenen Gesellschaft, die Kulturessentialisten, können hier wiederum Bündnisse eingehen (etwa verschiedene religiöse Orientierungen oder rechte Gruppen aus unterschiedlichen Ländern) und die „Dekadenz des Westens“ proklamieren, ein expansives System, das andere vereinnahmt und dabei auch die eigene Identität gefährde. Entsprechend können die Institutionen der „offenen Gesellschaft“ als Volksverräter (Politik) oder Lügenpresse (Medien) dargestellt werden.
Durch die Metaperspektive kann zum einen beschrieben werden, wann und weshalb es zu Kooperationen von Akteuren kommt, die „eigentlich“ gar nicht zusammenpassen, aber demselben Kulturalisierungstypus entsprechen. Zum anderen wird erkennbar, wie es zu Paralleldiskursen kommt, zwischen denen kaum Austausch stattfindet – etwa wenn es um das Kopftuch geht. Während das Kopftuch und die damit verbundene Religiosität für die einen eine Option der Lebensführung ist, repräsentiert genau dies für die anderen ein Zeichen des Dominanzanspruchs eines Kollektivs und damit eine Bedrohung der eigenen Gemeinschaft (Islamisierung des Abendlandes). Und selbst innerhalb der Muslime gibt es bekanntermaßen sowohl jene, die (das Ausleben von) Religiosität als eine individuelle Option verstehen, die dann auch „zeitgemäß“ gelebt werden kann, als auch jene, für die Religiosität eng verbunden ist mit Dominanzanspruch und der Abwertung der Nicht-Dazugehörigen.
Die Pointe ist also, dass die Unterscheidung, die Reckwitz macht, quer durch alle für die Soziologie so wichtigen Merkmale verläuft, etwa Religionszugehörigkeit (inklusive Atheisten), ethnische Herkunft, Schichtzugehörigkeit, Geschlecht. Zugleich kennzeichnet sie nicht etwa eine globale Konfliktlinie zwischen Staaten, sondern vielmehr eine Konfliktlinie innerhalb der Staaten selbst. Aus dieser Perspektive könnte man also wieder von einem Kampf der Kulturen sprechen, allerdings nicht im vergleichsweise übersichtlichen Sinne Samuel Huntingtons.