Rurbanität am Beispiel des urbanen Gartenbaus in Bamberg

Zur Diskussion um Rurbanität

Vor 15 Jahren wies Jean-Didier Urbain darauf hin, dass dem Prozess der Urbanisierung im globalen Norden ein zweiter, entgegenlaufender Prozess zur Seite zu stellen sei (vgl. Urbain 2002). Dieser Prozess verweist auf die Ausbreitung ruraler Lebensweisen und Lebensstile in Städte und bringt dort neue Verhältnisse der Mischung aus Städtischem und Ländlichem hervor. Urbain spricht hier von der Ruralisierung des Urbanen und das Resultat dieses Prozesses mag man als Zustand der Rurbanität bezeichnen.

Beide, Prozess wie Resultat, lenken den Blick auf die Form, wie Elemente des Ländlichen und ländlicher Orte in Städte integriert werden. Das Land erscheint nicht mehr als Ort des passiven Erleidens und der Aufnahme von urban initiierten Fremdaufdrücken. Es hinterlässt seine Spuren nun in den Städten selbst. Dies ist der „rurale Beitrag“ zur Situation, dass sich die heutigen gesellschaftlichen Raumverhältnisse (Werlen 2010) als Durchmischung urbaner wie ruraler Elemente darstellen. Die rurbanen gesellschaftlichen Raumverhältnisse stellen quasi einen dritten Wert dar, der die klassische Trennung in Stadt und Land übergreift und neue räumliche Realitäten beschreibbar macht (vgl. Sieverts 2012 mit der Idee zur Zwischenstadt). Die Herstellung dieses dritten Wertes kann zum Element einer raumsensiblen Gesellschaftspolitik erhoben werden und findet ihren wohl deutlichsten Ausdruck im Ideal der Gartenstadt (Howard 1898) als normativem Versuch, die je „besten“ Eigenschaften des Städtischen mit den „besten“ Eigenschaften des Ländlichen zu verbinden.

 

Stadt und Land als Raumsemantiken

Wird versucht, die Orte einer Gesellschaft entlang der Unterscheidung von Stadt und Land ordnend zu differenzieren, dann muss man unweigerlich auf Raumsemantiken zurückgreifen, die dem Urbanen wie dem Ruralen erst ihre figurativen Besonderheiten geben, die schließlich empirisch beobachtet werden können. Ruft man diese Raumsemantiken ab und implementiert sie in sozialen Operationen und Institutionen, dann wird ein nüchterner Raum zu einem Ort, der städtisch oder ländlich ist, meist aber einer Mischung von beiden entspricht. Kein Ort, kein Raum weist an sich ländliche oder städtische Qualitäten auf, aber im und durch das Tun der Bewohner für sich werden jene Ortsqualitäten erzeugt, die helfen, den vorgefunden Grad an Urbanität, Ruralität oder Rurbanität zu taxieren und zu bewerten. Mit den Raumsemantiken von Stadt und Land werden nicht nur kollektive Zuschreibungen ausgedrückt, sondern auch kollektive Erwartungshaltungen an Orte gesteuert. Und die Erwartungshaltungen können natürlich enttäuscht werden – ein nicht selten beobachtbares Problem derjenigen, die Naturnähe und Geborgenheit im Ländlichen suchen, dann aber merken, dass die Hürden für den Eintritt höher als gedacht sind.

Grundsätzlich scheint es kaum Probleme zu bereiten, städtische und ländliche Elemente unterscheidbar zu halten, weil sie sich als kulturelle Merkmale kondensiert haben, die klare Orientierungsvorgaben bieten: die Dichte und die Anonymität der Städte einerseits, die Naturnähe und die handwerklich-landwirtschaftliche Prägung („das Bäuerliche“) andererseits als positiv konnotierte Raumsemantiken ländlicher Gebiete und von Ruralität schlechthin (vgl. Bachtin 2008, Halfacree 2009). Dieser Katalog an „typisch“ (positiv wie negativ konnotierten) ruralen wie urbanen Elementen ließe sich mit Blick auf die theoretisch-konzeptionelle Ebene problemlos erweitern, aber er müsste grundlegend empirisch mit Blick auf die Verankerung und Manifestation im aktuellen Bewusstsein einer Gesellschaft erhoben werden.

 

Rurbanität, Ländlichkeit und urbane Landwirtschaft/urbaner Gartenbau

Es ist möglicherweise eine Ironie der Entwicklung aktueller gesellschaftlicher Raumverhältnisse, dass die Idee der kleinteiligen Landwirtschaft, wie sie prominent und positiv konnotiert in der Raumsemantik des Ländlichen verankert ist, heute wohl eher in den Städten als auf „dem Land“ zu finden ist. Die Diskussion über die multiplen Effekte urbaner Landwirtschaft (Opitz et al 2016), aber auch die Bedeutung des urbanen Gartenbaus als Nutzungsform und Freiraumtypus, wie es in den Grün- und Weißbüchern zum „Grün in der Stadt“ vom Umwelt- und Bauministerium angesprochen wird (BMUB 2015 und 2017), oder die sich in Deutschland erst etablierende soziale Landwirtschaft (nur: xit 2014) verdeutlichen dies.

Urbane Landwirtschaft meint die im Sinne der Urproduktion organisierte Lebensmittelproduktion in städtischen Gebieten, inklusive der Tierhaltung und des Gartenbaus. Sie kann in Gemeinschaftsgärten, Schrebergärten, städtischen Farmen, Schulgärten, Gartenbaubetriebe, rooftop farms usw. stattfinden und muss nicht unbedingt auf ein Erwerbseinkommen zielen. Ganz im Gegenteil: Ein Großteil der urbanen Landwirtschaft und insbesondere des urbanen Gartenbaus adressiert in seinen Aktivitäten primär nichtkommerzielle Aspekte.

Man erkennt dies, wie von Opitz et al (2016) betont, an zwei zentralen Dimensionen, in denen sich urbane Landwirtschaft manifestiert: Mit Blick auf ihre a) Standorte und räumlichen Strukturen kann die schnelle Erreichbarkeit der Flächen für die städtische Bevölkerung als Nachfrager hervorgehoben werden. Geprägt ist die urbane Landwirtschaft ferner durch vornehmlich kleine Nutzflächen (oft unter 1ha) und, gerade wenn sie nicht erwerbsorientiert betrieben wird, durch nicht dauerhaften Landbesitz (als gebilligte Zwischennutzung oder als Pacht).

Im Bereich des b) Sozioökonomischen wird auf die nichtprofessionelle Organisation verwiesen: lokale Bewohner und Bewohnerinnen, Kinder, Migranten und Migrantinnen oder alternative Gruppen (bspw. die Transition-Bewegung) werden als Träger und Trägerinnen identifiziert, deren Motivation entweder in der Sicherstellung einer eigenen Lebensmittelversorgung (Vorteil: Transparenz der Lebensmittelproduktion), der Erweiterung freizeitlicher Aktivitäten, der Naturerfahrung oder gesundheitlicher Aspekte liegt. Einem oftmals nur geringen oder fehlenden landwirtschaftlichen Wissen und/oder handwerklichen Fähigkeiten steht ein hohes soziales Kapitel in Form funktionierender Netzwerke gegenüber.

Damit verortet man die urbane Landwirtschaft und den urbanen Gartenbau vor allem als zivilgesellschaftliches Projekt zur Sicherstellung der Eigenversorgung mit Lebensmitteln. Jedoch gerät bei dieser Betonung die professionelle und erwerbsbezogene Versorgung mit Gartenbauprodukten aus der Stadt und für die Stadt in den Hintergrund. Doch gerade diese war, historisch gesehen, ein oft wichtiger Teil der urbanen Wirtschaft – und ihre Rettung bzw. planhafte Wiederbelebung ist eines der zentralen (wenn auch oft vergessenen) Elemente der oben angesprochenen Gartenstadtidee von Ebenezer Howard, denn hier hat „the farmer of Garden City … a market at his very doors“ (Howard 1898: 24).

 

Urbaner Gartenbau in Bamberg

In der oberfränkischen Stadt Bamberg haben sich die seit dem 14. Jahrhundert bestehenden räumlichen und sozioökonomischen Strukturen des urbanen Gartenbaus erstaunlich gut erhalten. Die sog. Obere und Untere Gärtnerstadt sind je Teile des seit 1993 bestehenden städtischen UNESCO-Welterbes. Wenn auch längst nicht in den Größenordnungen, die man Mitte des 19. Jh. vorfand – mit 540 Meistern und 400 Gesellen, die über 20% der städtischen Erwerbstätigen stellen (vgl. Gehringer 2009) –, sind heute doch noch knapp 20 Gärtnereien im engeren innenstädtischen Gebiet aktiv. Diese kommerziellen Gartenbaubetriebe erzeugen Gemüse, aber auch Blumen und andere Pflanzen, nicht wenige Betriebe arbeiten biologisch, viele betreiben einen direkten Hofverkauf, einige haben sich neue Nischen durch die Veredelung von Produkten sowie Spezialisierung (etwa im Bereich der Kräuter) geschaffen. Damit kontinuiert Bamberg eine besondere Form der Rurbanität und konserviert zentrale Teile der Raumsemantiken des Ländlichen an Orten, wo man sie zunächst nicht unbedingt vermutet: in der Stadt und dies nicht nur am Rande, sondern mittendrin.

Dieses Kulturerbe markiert eine historisch persistente Struktur, die heute wieder im Fokus einer sich als nachhaltig darstellenden urbanen Entwicklung, bei der lokale Lebensmittel und eine dazu passende Lebensmittelsicherheit gehören, steht. Was in Bamberg als Selbstverständlichkeit (die übrigens mit verhaltener Wertschätzung einhergeht) erhalten blieb, soll in anderen Städten erschaffen werden. So ist vor wenigen Jahren in der englischen Region Bath und Somerset eine local food strategy implementiert worden, die unter anderen die lokal verankerte Lebensmittelproduktion stärken will (BANES 2014).

In Bamberg ist dieses Kulturerbe des erwerbsmäßigen Gartenbaus in den letzten Jahren durch zivilgesellschaftlich initiierte Aktivitäten komplementiert worden, oft weniger in einem Verhältnis von Konkurrenz als von Kooperation zwischen erwerbsbezogenen und nicht erwerbsbezogenen Gartenbau: So wurde durch eine lokale Transition-Gruppe in Kooperation mit einer lokalen Gärtnerei ein SelbstErnteGarten gegründet, der auf gepachteten Gärtnerland (das von Brache bedroht war) unter Anleitung von Gärtnern und Gärtnerinnen bewirtschaftet wird. Ein interkultureller Garten hat sich zum Ziel gesetzt, nicht nur Begegnungsstätte für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zu sein, sondern auch Biodiversität durch den Anbau von aus den eigenen Lebenswelten bekannten Pflanzen herzustellen. Und schließlich will ein Sortengarten den Erhalt alter Sorten sicherstellen, deren Produktion für den Verkauf in den letzten Jahrzehnten aus Rentabilitätsgründen eingestellt wurde.

Man hat hier ein, auch mit Fördergeldern dotiertes räumliches Phänomen zur Hand, bei dem Rurbanität im Sinne des Implementierens oder Kontinuierens einzelner Raumsemantiken des Ländlichen in die Struktur und Organisation der Stadtgesellschaft beobachtbar ist. Das scheint verallgemeinerbar zu sein: Die Akzeptanz für ein solches Hineinkopieren von Raumsemantiken des Ländlichen in urbane Kontexte wächst (siehe BMUB 2015 und 2017), auch wenn dies weltweit gesehen weniger als freiwillige Leistung denn als notwendige Überlebensstrategie zur Herstellung von Lebensmittelsicherheit erscheint.

Zugleich aber ist auch zu erwähnen, dass derartige Umbauten des urbanen Designs die Stadtgesellschaften insgesamt vor große Herausforderungen stellen – und das gilt schon für eine Mittelstadt wie Bamberg. Die nicht selten fehlende Betriebsnachfolge lässt den Bestand des erwerbsorientierten Gartenbaus stetig schrumpfen, die Produkte können aufgrund des höheren Preises nicht mit Produkten von Discountern und Supermärkten konkurrieren. Zugleich ist das Wissen um die angebotenen Erzeugnisse und deren Qualität, selbst mit Blick auf die lokale Besonderheit Bambergs, bei der lokalen Bevölkerung oft nur rudimentär ausgeprägt. Eine einheitliche Vermarktung erweist sich aufgrund unterschiedlicher Interessen der einzelnen Gärtnereien oder bestehender Animositäten als schwierig (vgl. für Bamberg knapp Hefner 2016). Und schließlich sind diese Grünflächen in der Stadt durch ihre Fixierung in den Bauleitplänen oft einer zukünftigen und kurzfristig aktivierbaren Nutzung für Wohnbebauung entzogen.

 

Blindheiten der Diskussion um Rurbanität

Die Diskussion um Rurbanität fokussiert insgesamt Städte und das damit implizierte Design. Sie folgt damit einen Trend, die Stadt zum zentralen Ort der Zukunft der Menschheit zu machen (Lévy 2011). Was bei der Betonung von Rurbanität und des Hineinkopierens von Raumsemantiken des Ländlichen in städtische Kontexte aber in den Hintergrund rückt, ist das Leben in ländlichen Orten. Und man mag im Zuge dieser Blindheit der Rurbanitätsdiskussion fragen, was denn mit jenen „anderen ländlichen Orten“ geschieht, wenn Städte nun mehr und mehr die „besten“ Formen des Landes für sich entdecken und implementieren und diese dem Land entzogen werden?

Eine mögliche und vielleicht etwas provokante Antwort, die man zum Ausgangspunkt einer kritischen Diskussion über das Konzept der Rurbanität machen kann, wäre: Die Zentripetalwirkung der Stadt erhöht sich aufgrund gesteigerter Attraktivität und der noch einmal ausgeweiteten urbanen Multifunktionalität. Im Gegenzug wird das Land zu einer stärkeren Zentrifuge als es schon jetzt in weiten Teilen der Fall ist. Dessen Status des Marginalen und Peripheren wird verstärkt, die Disparitäten zwischen Stadt und Land mit Blick auf ihre Eigenschaft, lebenswerte Orte zu sein, erhöhen sich.

Die Konsequenz jedenfalls wäre eine neue Raumordnung, in der sich in der Stadt die Annehmlichkeiten des Lebens konzentrieren, während das Land dann „nur noch“ Ort der Lasten und Belastungen und all jener Raumsemantiken ist, die man üblicherweise mit der Monotonie des Ländlichen verbindet – und dazu kann durchaus auch die Einseitigkeit der technologisierten (Groß)Landwirtschaft zählen.

All dies berührt den Aspekt einer raumbezogenen Gerechtigkeit und er stellt sich möglicherweise umso dringender, je stärker die positiv konnotierten und gesellschaftlich honorierten Raumsemantiken des Ländlichen als kritische Direktive der Modellierung von Städten Gehör finden. So betrachtet muss die Diskussion um Rurbanität zu einer breiteren Diskussion führen, wo welche Raumsemantiken des Städtischen und Ländlichen implementiert werden und welche Konsequenz diese Form räumlicher Organisation für die einzelnen Orte und für das gesamte räumliche System eines Staates hat.

 

Literatur

Bachtin, M. (2008): Chronotopos. Frankfurt am Main.

Bath and North East Somerset Council (BANES): Local Food Strategy. o.O.

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) (2015): Grün in der Stadt – für eine lebenswerte Zukunft. Grünbuch Stadtgrün. Berlin.

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) (2017): Grün in der Stadt – für eine lebenswerte Zukunft. Weißbuch Stadtgrün. Berlin.

Gehringer, H. (2009): Die Gärtnerei in Bamberg. Aspekte ihrer historischen Bedeutung. In: Scheinost, M.(Hg.): Vom Wirtschaftsfaktor zum Welterbe. Bambergs Gärtner und Häcker. Bamberg.

Halfacree, K. (2009): Rurality and post-rurality. In: Kitchin, R./Thrift, N. (Hg.): International Encyclopedia of Human Geography. Oxford: 449-456.

Hefner, C. (2016). Urbaner Gartenbau. Eine Studie zur Bedeutung der Gärtnerstadt und ihrer Erzeugnisse für die Bamberger Bevölkerung. In: Inselrundschau. Stadtteilzeitung des Bürgervereins Bamberg-Mitte 2/2016: 7-9.

Howard, E. (1898): To-morrow: A peaceful path to real reform, London.

Lévy, J. (2011): The City IS the Sustainable Development. In: Hassenpflug, D./Giersig, N./Stratmann, B. (Hg.): Reading the City: Developing Urban Hermeneutics/Stadt lesen: Beiträge zu einer urbanen Hermeneutik. Weimar: 103-111.

Opitz, I./Berges, R./Piorr, A./Krikser, T. (2016): Contributing to Food Security in Urban Areas: Differences between Urban Agriculture and Peri-Urban Agriculture in the Global North. In: Agriculture and Human Values 33 (2): 341-358.

Sieverts, T. (2012): Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land. 4. Aufl, Basel/Boston/Berlin.

Urbain, J.-D. (2002): Paradis verts. Désirs de campagne et passions résidentielles. Paris.

Werlen, B. (2010): Epilog. Neue geographische Verhältnisse und die Zukunft der Gesellschaftlichkeit. In: ders.: Gesellschaftliche Räumlichkeit. Bd. 2: Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Stuttgart: 321-338.

xit (2014): Soziale Landwirtschaft in Bayern. Eine Bestandsaufnahme (Zusammenfassung). Nürnberg.