Eine Erinnerung an gesellschaftskritische Grundüberzeugungen kann derzeit helfen, sich den Bekenntniszwängen zu widersetzen, die eine „Positionierung“ im Verhältnis zu Israel angesichts der Gewalteskalation im Gaza-Krieg fordern und den diesem zugrunde liegenden Konflikt mit einem binären Schema vereinfachen. Wie könnte es möglich werden, komplexer zu denken und den eigenen historisch-gesellschaftlichen Kontext zu berücksichtigen?
Zum Verhältnis von Rassismus- und Antisemitismuskritik
Gegenüber den ideologischen Mustern des Rassismus, die auf der Entwertung des Anderen beruhen, kommt es beim Antisemitismus zu einer „Umkehrung des Machtparadigmas“, indem ein übermächtiges Feindbild geschaffen wird.[1] Der Rassismus strebt eine ethnopluralistische, d.h. nach kulturellen Zuordnungen vorgenommene Teilung der Welt an, der Antisemitismus strebt als Ideologie die Vernichtung des Anderen an, um sich von den Zumutungen einer komplexen Welt zu befreien. Rassismus zeigt sich als Programm der Trennung und enthält in seiner Geschichte zugleich vernichtende Praktiken im Kontext des Kolonialismus. Antisemitismus führt die Idee der Vernichtung immer schon mit sich; in seiner religiösen Vorgeschichte des Antijudaismus ist das Konzept der Auslöschung des Anderen bereits angelegt. Dabei ist Antisemitismus als Weltbild zu betrachten und geht weit hinaus über ein personalisiertes Vorurteil.
Mit Antisemitismuskritik tun sich viele schwer, die sich gegen Rassismus engagieren. Der Bekämpfung von Rassismus haftet ein rebellischer Zug an, sie gilt als staatsfern und widerständig, während die Bekämpfung des Antisemitismus im Kontrast dazu als staatstragend erscheint. Diese Kontrastierung verkennt, dass auch die Anerkennung eines gegenwärtigen Antisemitismus in der Demokratie erst durch kritische Interventionen zustande gekommen ist. Die ideologische Struktur des Antisemitismus trägt dazu bei, dass Jüdinnen und Juden der dominanten Mehrheitsgesellschaft zugeordnet und ihre Diskriminierungserfahrungen nicht anerkannt werden. Dabei wird der Minderheitenstatus von Juden und Jüdinnen in der deutschen Gesellschaft und in Europa ignoriert, ebenso wie deren Diskriminierungserfahrungen. Die Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland wird kaum in die Debatten um Migration einbezogen, obwohl „jüdische Communities stark durch Erfahrungen der Migration und des Exils geprägt sind“.[2] Demgegenüber gelten Juden und Jüdinnen in den aktuellen Protesten gegen den Gaza-Krieg als privilegiert, weshalb ihnen keine Empathie und Solidarität zukommt.[3]
Israel als Projektionsfläche und die Abwehr von Verantwortung
Ein auffälliges Agitationsfeld des gegenwärtigen Antisemitismus ist die Ablehnung Israels, die mit dem Begriff der „Kritik“ legitim gemacht wird. Doch handelt es sich nicht um Kritik, wenn ein ganzes Staatswesen pauschal abgelehnt und diffamiert wird. Was sich dabei äußert, sind „Dämonisierungen Israels, einseitige Schuldzuweisungen und/oder unzulässige Vergleiche mit der Rassenpolitik des NS-Regimes“. Kein anderer Staat erfährt eine derartige, emotional aufgeladene Verurteilung, die häufig mit dem Verweis auf eine rassistische Politik gerechtfertigt wird.[4]
In der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit gilt für die Feststellung eines antiisraelischen Antisemitismus nach Sharansky das „Drei-D-Kriterium“ von Delegitimierung des Staates Israel, von Dämonisierung und Doppelstandards im Vergleich zur Beurteilung anderer Staaten.[5] Sofern dem Staat Israel das Existenzrecht abgesprochen wird, handelt es sich um eine antisemitische Position, die zugleich geschichtsverdrängend ist, weil sie die Verfolgungsgeschichte des europäischen Judentums und die Suche nach einem sicheren Ort für alle Jüdinnen und Juden auf der Welt missachtet. Demgegenüber muss eine konkrete Kritik an israelischer Politik und an deren Vertreter:innen nicht als antisemitisch eingeordnet werden, solange sie eben konkret bleibt und nicht zu einer pauschalen Verwerfung neigt. Dies fällt heute vielen offensichtlich schwer. Neben fundamentalistisch-islamistischen Aktivist:innen verschaffen sich antiimperialistische Stimmen Gehör, die in Israel schon immer eine Kolonialmacht des Westens gesehen haben. Sie alle finden im Staat Israel eine Projektionsfläche für ihre Weltbilder und für die Verdrängung ihres eigenen Involviertseins in ungleiche Weltverhältnisse. Im Zuge dessen wird auch die analytische Kategorie des Postkolonialen radikal vereinfacht und zu einer antiimperialistischen Parole umgedeutet.
Antisemitismuskritik mit Geschichtsbewusstsein
Die Leidenschaft, mit der aus Teilen der deutschen Gesellschaft heraus Gleichsetzungen von israelischer Politik mit dem Nationalsozialismus vorgenommen werden, kann als Ausdruck eines sekundären Antisemitismus verstanden werden. Seine Grundstruktur besteht in einem Abwehrverhältnis zur Erinnerung an die Shoah. Versucht wird, Geschichte abzuschließen, indem man sich selbst in eine unschuldige Position versetzt. Ohne die „Schuldabwehr-Komponente des sekundären Antisemitismus“ kann die Attraktivität dieses Antisemitismus nach Auschwitz nicht verstanden werden.[6] Durch das Argumentationsmuster, bei dem Juden zu einer homogenen Gruppe gemacht werden, um ihnen zu unterstellen, sie „nutzten die Erinnerung an den Völkermord für ihre eigenen Vorteile aus“, erscheint die Erinnerung an die NS-Verbrechen als „Akt der Aggression“ (ebd.). Diese „Umkehrung des Verhältnisses von Täter und Opfer“ macht bis heute einen wesentlichen „Kern des Antisemitismus nach Auschwitz“ aus.[7] Zwar hat der Antisemitismus nach 1945 seine rassentheoretische Begründung weitgehend verloren, dabei aber nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt. Er ist flexibel geblieben und wird sowohl für antirassistische und antiimperialistische, als auch für neo-nationalistische Anliegen genutzt.
Die postkoloniale Gegenwart nach Auschwitz zeichnet sich dadurch aus, dass die Menschen- und Weltbilder des Nationalsozialismus in ihr zwar politisch-programmatisch nicht mehr vertreten werden, jedoch in kollektiv geteilten Denkmustern nach wie vor vorhanden sind. Umgekehrt zeigt sich die postnationalsozialistische Gegenwart als eine, in der die Erfahrung kolonialer Herrschaftspraktiken und die darin erzeugten Bilder von den nicht-europäischen Anderen und dem europäischen Selbst verankert sind. Diese doppelte Perspektive gilt es einzunehmen bei dem Versuch, Bildungsprozesse in einer Gegenwart zeitgeschichtlicher Beziehungen zu reflektieren und dabei sowohl Zusammenhänge wie auch Unterscheidungslinien zu vermitteln.[8] Das verlangt, ein hohes Maß an Komplexität anzuerkennen und in Konstellationen des Gleichzeitigen zu denken. Die Vorstellung eines gesellschaftlich etablierten Konsenses gegen Antisemitismus im Kontrast zur Vernachlässigung des Rassismus stellt die Auseinandersetzung mit beiden Ideologien in ein Konkurrenzverhältnis. Um das zu vermeiden, sollten sich die Protagonist:innen von Antisemitismus- und Rassismuskritik auf den gemeinsamen Gegner, nämlich den reaktivierten Nationalismus in Deutschland und Europa konzentrieren.
[1] Eckmann, Monique (2006): Rassismus und Antisemitismus als pädagogische Handlungsfelder. In: Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.): Neue Judenfeindschaft? Zum pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus. Frankfurt/M.: Campus, S. 210-232, S. 221.
[2] Dean, Jihan Jasmin (2017): Verzwickte Verbindungen: Eine postkoloniale Perspektive auf Bündnispolitik nach 1989 und heute. In: Mendel, Meron/Messerschmidt, Astrid (Hrsg.): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt/New York: Campus, S. 101-129, S. 112
[3] Vgl. Markus Rieger-Ladich (2024): Neustart der Privilegienkritik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 74. Jg.; Nr. 21/2024, S. 4-10
[4] Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V. (Hrsg.) (2010): Israel, Palästina und der Nahostkonflikt. Ein Bildungs- und Begegnungsprojekt mit muslimischen Jugendlichen im Spannungsfeld von Anerkennung und Konfrontation, Berlin: KIgA, S. 47.
[5] Sharansky, Natan (5. März 2004): Antisemitismus in 3-D, www.hagalil.com/antisemitismus/europa/sharansky.htm, Abruf: 05.06.2024
[6] Pfahl-Traughber, Armin (2007): Ideologische Erscheinungsformen des Antisemitismus. In: aus Politik und Zeitgeschichte, 31/2007, S. 4-11, S. 9
[7] Holz, Klaus (2005): Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburg: Hamburger Edition, S. 59
[8] Vgl. Messerschmidt, Astrid (2009): Weltbilder und Selbstbilder. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel, S. 174ff.
2 Gedanken zu „Rassismus- und Antisemitismuskritik in den aktuellen Gewaltverhältnissen“