Dekolonialistische Theorie und Israel/Palästina

 

Post- und dekolonialistische Ansätze in den Sozialwissenschaften sind ohne politischen Antikolonialismus nicht zu denken. Das ist nicht nur eine beschreibende Feststellung, sondern kann auch als positive Wertung gelesen werden: Die Motivation, koloniale Gewaltverhältnisse zu bekämpfen, hat auch die wissenschaftlichen Perspektiven bereichert.[1] Derzeit führt die Verknüpfung von Analyse und Aktivismus aber auch in Sackgassen, die sowohl zulasten analytischer Stringenz und Plausibilität gehen, als auch aktivistischen Allianzen gegen den „reaktivierten Nationalismus“[2], auf die Astrid Messerschmid in ihrem Beitrag zu diesem Blog hofft, nicht eben zuträglich sind.

Die Geschichte der modernen Welt ist geprägt von verschiedenen Formen und Phasen kolonialer Gewalt. Auch nach Ende der europäischen Kolonialismen in Afrika, Asien und Lateinamerika wirken deren Effekte in dem fort, was der peruanische Soziologe Aníbal Quijano die „Kolonialität der Macht“[3] genannt hat. Diese Effekte betreffen nicht nur die globale Ökonomie, sondern auch die Wissenssysteme und die Formen der Subjektivierung, wie neben Quijano einflussreiche Theoretiker*innen wie Enrique Dussel, Walter Mignolo, Silvia Rivera Cusicanqui und Rita Segato, deren Werke zum Teil inzwischen auch auf Deutsch vorliegen, aufgezeigt haben.[4]

Die Beispiele, anhand derer das Fortwirken kolonialer Politik- und Denkmuster auch nach Ende der politisch-militärischen Kolonialherrschaft aufgezeigt wurden und sich aufzeigen ließen, sind unendlich: Die nach ethnifizierten Kriterien gegliederte Sozialstruktur der Länder Lateinamerikas, der Einfluss französischer Währungspolitik in Westafrika, die Abwertung lokaler Bräuche und Gewohnheiten in allen Regionen der Welt zugunsten konzerngesteuerter Kommodifizierung usw. usf. Demgegenüber scheint es vor allem im Kontext der dekolonialistischen Theorie derzeit nur ein einziges, paradigmatisches Beispiel für die Kontinuität des europäischen Kolonialismus zu geben: Israel. Es heißt hier bewusst Israel und nicht die israelische Siedlungspolitik oder der Krieg der israelischen Regierung in Gaza, weil tatsächlich Israel im Kreuzfeuer der Kritik steht. Mit dieser Kritik, so die hier vertreten These, geht einerseits eine Ausblendung der Geschichte des israelischen Staates sowie des gegenwärtigen Antisemitismus einher und andererseits eine Verharmlosung derjenigen, die das Existenzrechts Israels infrage stellen, insbesondere islamistische Akteur*innen.

Es werde immer deutlicher, hatte zuletzt die französische Politologin Françoise Vergès in einem Interview mit der linken spanischen Monatszeitung El Salto gesagt, dass „Israel die Avantgarde der westlichen, imperialistischen, weißen Welt“[5] sei. Der Diskurs über Israel als die „einzige Demokratie im Orient“ sei kollabiert, sagt sie angesichts des Krieges in Gaza, wie auch die Idee vom Westen als Hüter der universellen Menschenrechte. Die Jugendlichen in Afrika, Asien, den Amerikas und Europa sowie auch die post- und dekolonialistische Theorieansätze hätten diese Idee demaskiert. Auch der dekolonialistische Theoretiker Ramón Grosfoguel, Professor für Chiacano and Latino Studies in Berkeley, sieht in Israel vornehmlich eine „koloniale Militärmacht“, er spricht vom „kolonial-rassistischen“ Charakter des Staats Israels und sieht diesen eindeutig in der Tradition der europäischen Kolonialismen. Israel habe aus Gaza eine Art „Konzentrationslager“ gemacht habe. Er nennt Gaza das „Warschauer Ghetto des 21. Jahrhunderts“[6]. Ähnlich wie Vergès hatte er die Jüdinnen und Juden zuvor schon als Weiße und damit als Akteur*innen des europäischen Kolonialismus klassifiziert. Zumindest implizit wird damit der Antisemitismus als Phänomen der Vergangenheit interpretiert. Dass die Gründung Israels auch als Reaktion auf die Shoah verstanden werden muss, schätzen beide gering oder lassen es gar nicht gelten.

In der Tradition antiimperialistischer Weltanschauungen wird Israel als koloniales und imperialistisches Projekt interpretiert. Die Kolonialität als die Erbin der kolonialen Aufteilung der Welt werde nicht nur „mit Schwert und Feder, mit Glauben, Peitsche und Folter, mittels Drohung und Gewalt“, sondern auch in „Text, Malerei Fotografie und Film immer wieder aufs Neue bekräftigt“, hatte Vergès in ihrem Buch „Dekolonialer Feminismus“ geschrieben[7]. Wie als Beispiel dafür spricht sie im zitierten Interview von der großen „Propagandakampagne“, die Israel mit Hilfe von Schriftsteller*innen und Filmemacher*innen betreibe, um das Bild einer offenen und multikulturellen Gesellschaft zu erzeugen.

Mit dem Imperialismus-Narrativ geht auch eine Aufwertung des „Volkes“ als emanzipatorischer Gegenpol zum Imperium einher. Mit dem Begriff „Volk“ können bestimmte Bevölkerungsgruppen wie „die Palästinenser“ gemeint sein, aber auch soziale Bewegungen. Dabei ist eine unkritische Haltung gegenüber islamistischen Akteur*innen und Programmen festzustellen. Vergès beispielsweise sieht in ihrem Buch zwei Formen des Patriarchats im Westen, ein multikulturelles unter Vorherrschaft liberaler bis neoliberaler Werte, und ein neofaschistisches und maskulinistisches, das schwer erkämpfte Rechte von Frauen und Transpersonen zurückdränge.[8] Über patriarchale Muster in islamisch geprägten Gesellschaften schweigt sie sich jedoch weitgehend aus. Sie freut sich über die Motivationen der globalen antiimperialistischen Bewegungen, seien sie nun „religiös oder seien sie queer“[9], als bestünde da keine Spannung zwischen beiden Haltungen.

Am 9. Oktober 2023, zwei Tage nach der Terrorattacke der Hamas, postete Vergès auf X/ Twitter den Satz: „Die Dekolonialisierung ist weder eine Metapher noch eine Moralpredigt“, was zum einen nahelegt, dass sie den Hamas-Terror für eine Dekolonisierungspraxis hält und dass sie ihm deshalb zum anderen nicht ablehnend gegenübersteht. Auch Grosfoguel übt keinerlei Kritik an islamistischen Werten oder Politiken, im Gegenteil. Am 7. Oktober habe die Hamas vor allem „militärisches Personal“ attackiert, schreibt er, die zivilen Opfer seien entweder „fake news“ der israelischen Propaganda oder vom israelischen Militär selbst herbeigeführt worden. In seinem Artikel auf der Seite des Islamic Human Rights Commission (IHRC), auf der auch zum anti-israelischen Al Quds-Tag mobilisiert wird, schreibt er, trotz des Krieges Israels in Gaza gebe es Hoffnung. Diese politische Hoffnung besteht für ihn darin, dass Israel gleichzeitig von Gaza, dem Libanon, Syrien, dem Irak und Jemen ins Kreuzfeuer genommen würde. Er nennt diese islamistische Allianz eine „Achse des Widerstands“.

Wie die misogyne und patriarchale Ideologie der Dschihadisten mit der Perspektive auf Befreiung unter einen Hut zu bekommen ist, bleibt ebenso fraglich wie der Erkenntniswert einer Analyse der Art und Weise, „wie der Komplex Rassismus/ Sexismus/ Ethnizismus alle Herrschaftsverhältnisse durchdringt“[10], den Vergès zum zentralen Untersuchungsgegenstand der dekolonialen Feminismen erklärt. Leider will diese aber die anti-emanzipatorischen Aspekte nicht sehen. Die sogenannte „Achse des Widerstands“ muss demgegenüber wohl mehr als Teilaspekts des Aufstiegs antiemanzipatorischer Kräfte inklusive „reaktiviertem Nationalismus“ begriffen werden, denn als eine Gegenbewegung zu ihr. Dies nicht zuletzt deshalb, weil nach wie vor außer Frage stehen sollte, dass es Ansätze braucht, die die Effekte der Kolonialität auf Frauen im globalen Süden untersuchen, wie die mexikanischen Feministinnen Karina Ochoa Muñoz und María Teresa Gazón Martínez angemahnt haben.[11]

Es ist wichtig im Blick zu behalten, dass sich viele der Theoretiker*innen, die der dekolonialistischen Theorie zugeordnet werden, zu Israel/ Palästina gar nicht geäußert haben. Hier diskutiert wurden nur zwei Beispiele. Darüber, als wie paradigmatisch sie gelten müssen, wäre erst noch zu debattieren. Der Beitrag dekolonialistischer Theorie zur Entwicklung der Sozialwissenschaften sowie zu ihrer schon 1971 vom mexikanischen Soziologen Rodolfo Stavenhagen[12] geforderten Dekolonisierung, sollten dabei nicht infrage gestellt werden. In ihren aktuellen Äußerungen zur Lage im sogenannten Nahen Osten aber sind einige ihrer Vertreter*innen auf dem völlig falschen Dampfer.

 

[1] Vgl. Young, Robert J. C. (2001): Postcolonialism. An historical introduction. Malden, MA/ Oxford/ Victoria: Blackwell Publishers.

[2] Messerschmid, Astrid (2024): „Rassismus- und Antisemitismuskritik in den aktuellen Gewaltverhältnissen“. In: SozBlog, 10. Juni 2024, https://blog.soziologie.de/2024/06/rassismus-und-antisemitismuskritik-in-den-aktuellen-gewaltverhaeltnissen/#more-6061

[3] Quijano, Aníbal (2016): Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinmerika. Wien/ Berlin: Verlag Turia + Kant.

[4] Vgl. Zusammenfassend Kastner, Jens (2022): Dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika. Einführung und Kritik. Münster: Unrast Verlag.

[5] Vergès, Françoise (2024): „La liberación de Palestina sería una verdadera sacudida para el mundo“ Interview von Sarah Babiker. In: El Salto, 15.Mai 2024, https://www.elsaltodiario.com/palestina/francoise-verges-liberacion-palestina-seria-una-verdadera-sacudida-mundo [Übers. J.K.]

[6] Grosfoguel, Ramón (2024): „Gaza: The Warsaw Ghetto oft he 21st Century“. In: The Long View, Vol. 6, Issue 1, https://www.ihrc.org.uk/gaza-the-warsaw-ghetto-of-the-21st-century/

[7] Vergès, Françoise (2020): Dekolonialer Feminismus. [2019]. Wien: Passagen Verlag, S. 33.

[8] Vgl. Vergès (2020), S. 109ff.

[9] Vergès (2024).

[10] Vergès 2020, S. 33.

[11] Ocho Muñoz, Karina und María Teresa Gazón Martínez (2019): „Introducción“. In: Ocho Muñoz, Karina (Hg.): Mirada en torno al problema colonial. Pensamiento anticolonial y feminismos descoloniales en los sures globales. México D.F.: Ediciones akal, S. 5-32, hier S. 6.

[12] Stavenhagen, Rodolfo (1971): „¿Cómo descolonizar las ciencias sociales? “. In: Ders.: Sociología y Subdesarollo. México D.F.: Editorial Nuestro Tiempo 1971, S. 38-64, hier S. 39.

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