Beitrag 8: Der Erste Weltkrieg als paradigmatischer Fall kriegsgesellschaftlicher Transformation (II)
Wie kann man die aktuelle Lage, die durch Kriege und Kriegsbedrohungen gekennzeichnet ist, soziologietheoretisch erfassen? Gängige soziologische Großtheorien konzipieren moderne Gesellschaft als zivile, also friedensbasierte Gesellschaft und blenden Kriege weitgehend aus.
Die hier vertretene Kriegsgesellschaftstheorie fokussiert hingegen, welche gesellschaftsstrukturellen Dynamiken moderne Kriege entfalten (können). Es geht also nicht um die Ursache, sondern um die Wirkung von Kriegen. Die Kriegsgesellschaftstheorie ist unterkomplex angelegt und versteht sich als heuristischer Rahmen für eine historisch-soziologische, gleichermaßen theoretische wie historische Analyse.
Die Kriegsgesellschaftstheorie operiert mit zwei Leitunterscheidungen. Die eine betrifft die Unterscheidung zwischen Frieden und Krieg, zwischen Zivilgesellschaft und Kriegsgesellschaft. Die zweite betrifft die Unterscheidung zwischen reiner Zivilgesellschaft und Zivilgesellschaft im Krieg. Eine idealtypisch reine Zivilgesellschaft ist „von Freunden umzingelt“ (so in den 1990er Jahren der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe über die deutsche Lage), frei von äußerer Bedrohung und Kriegsbeteiligung im Sinne eines Kampfeinsatzes der eigenen Streitkräfte. Die Zivilgesellschaft im Krieg ist hingegen indirekt an einem Krieg beteiligt, indem sie eine (angegriffene) Kriegsgesellschaft finanziell sowie mit Waffen und Munition unterstützt, ohne eigene Streitkräfte einzusetzen. Außerdem belegt u. U. die Zivilgesellschaft im Krieg den Gegner der unterstützten Kriegsgesellschaft mit Sanktionen.
Die Kriegspartei, die mehr Soldaten, Arbeiter, Waffen und Munition mobilisiert, gewinnt ceteris paribus den Krieg. Das ist kein Naturgesetz, aber eine plausible Erfahrungsregel (vgl. Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte, 1989). Im vorigen Beitrag 7 ging es um die Bereiche Waffen und Munition. Dieser Beitrag behandelt die Mobilisierung von Soldaten und Arbeitskräften. Aber zunächst noch einmal rückblickend zur Rüstungsproduktion.
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Die Rüstungsproduktion im Ersten Weltkrieg lässt sich bei allen beteiligten Großmächten nicht über den Markt regeln
Großbritannien und Russland versuchen 1914 und in den ersten Monaten 1915, die Rüstungsproduktion nach dem Prinzip „Business as Usual“ zu organisieren. Doch dieser Weg scheitert. Die hohe Nachfrage führte zu extrem hohen Preisen, die produzierte Menge an Munition bleibt unzureichend. Der Markt ist nicht in der Lage, die Produktion von genügend Waffen und Munition zu verträglichen Preisen zu gewährleisten.
Daher führen alle kriegführenden Großmächte – Österreich-Ungarn, Deutschland und Frankereich zu oder kurz nach Kriegsbeginn, Großbritannien und Russland im Frühsommer 1915 – Systeme zentraler Steuerung ein. Im Deutschen Reich übernimmt die an das Kriegsministerium angeschlossene Kriegsrohstoffabteilung (KRA) die Verteilung der kriegsnotwendigen Rohstoffe. In der KRA arbeiten Experten der Wirtschaft unter der Aufsicht des Militärs. In Österreich-Ungarn unterstehen dem Kriegsministerium alle Waffen- und Munitionsfabriken sowie andere kriegswichtige Betriebe. Auch in Frankreich ist anfangs das Kriegsministerium für die Rüstung zuständig, aber 1915 geht die Leitung in zivile Hände über. Die Rüstungsindustrie organisiert sich in regionalen Gruppen weitgehend selbständig, koordiniert vom Comité des Forges (Interessenverband der französischen Kohle- und Stahlindustrie). Ab 1917 steuert das Handels- und Industrieministerium die Wirtschaft über die Zuteilung der Rohstoffe. Die britische Regierung ruft, nachdem sie 1915 „business as usual“ als wirtschaftspolitisches Leitprinzip aufgegeben hat, ein Munitionsministerium ins Leben, welches die Kriegswirtschaft zentral organisiert und steuert und dabei auch über 200 „national factories“ gründet, die mit standardisierten Fertigungstechniken militärische Massenprodukte herstellt.
Der Anteil öffentlicher Ausgaben am Sozialprodukt liegt in Deutschland vor 1914 bei 17%, 1917 bei über 70%, in Großbritannien vor 1914 bei 13%, 1918 bei 48%. Damit einher geht ein Prozess der Bürokratisierung. So stellt Großbritannien während des Ersten Weltkriegs eine halbe Million neuer Staatsdiener ein (Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2014, S. 222).
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Die kriegführenden Großmächte mobilisieren jeweils Millionen von Soldaten
Die Mobilisierungsbilanz der fünf kriegführenden europäischen Großmächte im Ersten Weltkrieg, betreffend die Soldaten, sieht wie folgt aus.
Deutsches Reich: Die Gesamtbevölkerung 1914 beträgt 65 Mio. Im August 1914, also im ersten Kriegsmonat, stehen 3 Mio. Soldaten im Einsatz, 1915 um 4,35 Mio., Anfang 1918 7,7 Mio. Insgesamt dienen während des Ersten Weltkriegs 13,2 Mio. Männer in deutscher Uniform, d. h. ein Fünftel der Gesamtbevölkerung zu Kriegsbeginn, 41,4% der männlichen Bevölkerung und 85% der Männer im wehrfähigen Alter (Kruse, Kriegsgesellschaftliche Moderne, 2015, S. 55 f.; Statista 2024).
Österreich-Ungarn: Die Gesamtbevölkerung der Doppelmonarchie beträgt 1914 52 Mio. Das Reich mobilisiert insgesamt 8 Mio. Männer für das Militär, also 31,5% der männlichen Bevölkerung (Kruse, Kriegsgesellschaftliche Moderne, 2015, S. 56 f.; Statista 2024).
Großbritannien: Die Gesamtbevölkerung 1914 beträgt ca. 42 Mio., darunter 12 Mio. Männer zwischen 18 und 49 Jahren. Insgesamt dienen während des Krieges etwa sechs Mio. Männer. Der Dienst im Militär ist bis 1916 freiwillig. Bis Ende 1914 melden sich eine Mio., bis 1916 weitere zwei Mio. Ab 1916 werden unter Wehrpflichtbedingungen weitere 3 Mio. eingezogen (Enzyklopädie 2014, S. 51). Am Ende des Krieges umfasst das Heer 4,9 Mio. Soldaten (Enzyklopädie 2014, S. 226; Kruse, Kriegsgesellschaftliche Moderne, 2015, S. 52).
Frankreich: Die Gesamtbevölkerung 1914 beträgt ca. 39 Mio. In den ersten zwei Kriegswochen ruft die Republik 2,9 Mio. Soldaten zu den Waffen. In den folgenden zehn Monaten kommen weitere 2,7 Mio. dazu. Insgesamt mobilisiert Frankreich im Ersten Weltkrieg acht Mio. Soldaten, das sind 45% der männlichen Bevölkerung. Weitere 485.000 farbige Soldaten werden aus den Kolonien rekrutiert (Kruse, Kriegsgesellschaftliche Moderne, S. 54).
Russland: Die Gesamtbevölkerung 1914 beträgt 171 Mio. Einwohner, davon werden bis Anfang 1917 15,2 Mio. Soldaten mobilisiert (Kruse, Kriegsgesellschaftliche Moderne, S. 57).
Ein Großteil der männlichen Bevölkerung im kriegstauglichen Alter von 18 bis 50 wird also eingezogen, relativ am wenigsten in Russland. Ein kleinerer Teil von ihnen wird im Laufe des Krieges wieder aus der Front zurückgezogen und in der Produktion eingesetzt.
Dass das Deutsche Reich im Oktober 1918 um einen Waffenstillstand bitten muss, liegt nicht zuletzt daran, dass es sein Reservoir an potentiellen Soldaten im wesentlichen ausgeschöpft hat und den fortwährend durch amerikanische Soldaten verstärkten Soldaten aus den kriegstüchtigen Jahrgängen kaum noch etwas entgegenzusetzen hat. M. a. W.: Der Mobilisierungswettlauf ist für das Deutsche Reich verloren.
Übrigens: Von den Mobilisierungsquoten an Soldaten in den Kriegsgesellschaften des Ersten Weltkriegs sind Russland und die Ukraine aktuell noch weit entfernt.
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Die Mobilisierung von Millionen Soldaten lässt die Arbeitsmärkte kollabieren – Neue Formen industrieller Beziehungen
Die Mobilisierung von Millionen Soldaten führt zu einer schockartigen Verknappung von Arbeitskräften. So werden im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkriegs über vier Millionen Arbeitskräfte entzogen (Bessel, Mobilizing German Society for War, in: Chickering/Förster 2000, S. 438). Auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt der Zivilgesellschaft laufen, wie Marx es ausgedrückt hat, zwei Arbeiter einem Unternehmer hinterher. In der Kriegsgesellschaft verhält es sich umgekehrt. Denn nicht nur das Angebot auf dem Arbeitsmarkt ist dramatisch reduziert, auch die Nachfrage wächst kriegsbedingt. Die Folge: Die Löhne steigen, und die Arbeiter wechseln rasch den Arbeitsplatz, um noch höhere Löhne zu erlangen. Für eine Kriegsgesellschaft ist das kontraproduktiv, denn wenn die Löhne steigen, steigen auch die Kosten für Waffen und Munition. Daher tendieren Kriegsgesellschaften dazu, Arbeitsplatzwechsel zu unterbinden und die Arbeiter einer militärischen Dienstpflicht zu unterstellen. So geschehen in Frankreich, Österreich-Ungarn und Italien.
Auch in Deutschland sind es bezeichnenderweise die Unternehmer, die nach einer militärischen Dienstpflicht für die Arbeiter rufen (G. D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft … 1985, S. 60, 77). Im deutschen Militär setzt sich jedoch eine Fraktion durch, die auf freiwillige Arrangements zwischen Unternehmern und Arbeitern setzt. Gegen den Widerstand des Unternehmerlagers setzen sie durch, dass lokale oder regionale Kommissionen zur Konfliktschlichtung eingesetzt werden, paritätisch besetzt von Unternehmern und Gewerkschaftern (Kriegsausschüsse oder Schlichtungsausschüsse genannt). Außerdem müssen Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten Arbeiterausschüsse einrichten, denen das Recht zur Kollektivbeschwerde bei den Schlichtungsausschüssen zusteht. In gewisser Weise handelt es sich bei alledem um die eigentliche Geburtsstunde des Tarifvertragssystems und der innerbetrieblichen Mitbestimmung in Deutschland, aber darum geht es den Militärs nicht. Sie wollen innere soziale Konflikte um jeden Preis vermeiden und die Loyalität der Arbeiter erhalten.
Auch in anderen Kriegsgesellschaften des Ersten Weltkriegs entstehen Institutionen zur Konfliktschlichtung. In Österreich z. B. werden im März 1917 örtliche Beschwerdekommissionen eingerichtet mit Arbeitgebervertretern und Gewerkschaften und einem Vorsitzenden aus den Reihen des Militärs.
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Mobilisierung von Arbeitskräften für die Kriegswirtschaft
Millionen von Soldaten werden in den ersten Kriegswochen eingezogen, in den Folgemonaten und -jahren noch viel mehr. Sie fehlen als Bauern, Handwerker, Arbeiter. Zugleich steigt durch den Krieg die Nachfrage nach Arbeitskräften. Die im Mobilisierungswettlauf steigenden Anforderungen an Waffen und Munition müssen bewältigt werden. Zugleich ist ein Minimum für die Versorgung der Zivilisten sicherzustellen, insbesondere die Lebensmittelversorgung. Die leistungsfähigsten Jahrgänge sind an der Front. Wie gelingt es den Kriegsgesellschaften des Ersten Weltkriegs, diese Abgänge zu kompensieren und Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft zu mobilisieren? Welche Reservoirs werden abgeschöpft?
Frauen: Frauenarbeit nimmt im Ersten Weltkrieg zu, in Großbritannien zwischen Juli 1914 und Juli 1918 um 22%. Die Struktur der Frauenarbeit verändert sich. Die Frauenarbeit in kriegswichtigen Industriezweigen steigt deutlich, z. B. im Deutschen Reich in der Maschinenbauindustrie um das 30fache. Hingegen nimmt der Anteil der Dienstbotinnen ab, in Deutschland von 31% auf 17%, in Großbritannien von 28% auf 17%. Die landwirtschaftliche Arbeit lastet im Krieg noch stärker auf dem Rücken der Frauen. Zur Mobilisierung der Frauen muss man noch die Nationalen Frauendienste wie z. B. im Deutschen Reich zählen, die sich mit freiwilligen und ehrenamtlichen Kräften in der Lebensmittelversorgung, der Familienfürsorge und der Arbeitsvermittlung engagieren (Kruse, Kriegsgesellschaftliche Moderne, S. 61 f..
Zwangsarbeit durch Kriegsgefangene: Während des Krieges geraten 328.000 Soldaten in britische, 350.000 in französische, 916.000 in österreich-ungarische Kriegsgefangenschaft. Russland zählt 2,25 Mio. Gefangene, das Deutsche Reich 2,4 Mio. Die Kriegsgefangenen werden eingesetzt in der Landwirtschaft, in der kriegswirtschaftlich relevanten Produktion und für Infrastrukturprojekte, z. B. im Eisenbahnbau, vor allem im industriell rückständigen Russland (Enzyklopädie, S. 641).
Zwangsarbeit durch Zivilisten aus besetzten Gebieten: Die deutsche Führung lässt während des Krieges 120.000 Franzosen, 100.000 Belgier und einige hunderttausend Polen zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportieren (O. Janz, Der Große Krieg, 2013, S. 79).
Zwangsarbeit durch Zivilisten aus Kolonien: Großbritannien und Frankreich können nicht auf die Bevölkerungen besetzter Gebiete zurückgreifen, dafür schöpfen sie aus dem Menschenreservoir ihrer Kolonien. Z. B. kommen aus Nordafrika 184.000 Männer zum Arbeitseinsatz nach Frankreich. Übrigens kämpften auch viele aus den Kolonien rekrutierten Soldaten auf Seiten der Entente, z. B. 900.000 Inder (Enzyklopädie, S. 551).
Anwerbung ausländischer Arbeiter: In der Industrie Südrusslands und des Urals arbeiten Chinesen, Koreaner und Perser. Insgesamt wirbt Großbritannien etwa 100.000, Frankreich 35.000 und Russland 50.000 chinesische Arbeiter an. (vgl. Kruse 2015, S. 59-62, dort weiterführende Quellenangaben).
Im Zweiten Weltkrieg wird Zwangsarbeit eine zahlenmäßig ganz andere Dimension als im Ersten Weltkrieg erreichen, insbesondere im nationalsozialistischen Deutschen Reich und in der stalinistischen Sowjetunion.
Literatur:
Roger Chickering/ Stig Förster (Hg.), Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914-1918, Cambridge 2000.
Enzyklopädie Erster Weltkrieg, hg. von G. Hirschfeld, G. Krumeich, I. Renz, Paderborn 2014.
Gerald D. Feldman: Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918. Berlin/Bonn 1985 (zuerst amerik. 1966).
Volker Kruse: Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma, in: Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), S. 198-214.
Volker Kruse: Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege. Konstanz/München 2015.
Der Blog „Kriege, Kriegsgesellschaft, Zeitenwende“ wird im Oktober fortgesetzt, zunächst mit zwei weiteren Beiträgen zum Ersten Weltkrieg. Es geht dabei um patriotische Vergemeinschaftung sowie das kriegsgesellschaftliche Dilemma (vgl. Beitrag 6). Zielpunkt ist eine zeitdiagnostische Skizze zur aktuellen Lage der Bundesrepublik Deutschland, basierend auf den Leitdifferenzen Kriegsgesellschaft/Zivilgesellschaft sowie reine Zivilgesellschaft und Zivilgesellschaft im Krieg. Letztere ist dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Kriegsgesellschaft finanziell, mit Waffen und Munition sowie mit Sanktionen gegen deren Gegner unterstützt. Über dieses Verhältnis wirken die Imperative, denen die unterstützte Kriegsgesellschaft unterliegt und die hier anhand des Ersten Weltkriegs beschrieben werden, indirekt auf die unterstützende Zivilgesellschaft ein.
Nach den noch ausstehenden Beiträgen zum Ersten Weltkrieg geht es um Zivilgesellschaft im Krieg. Dieser Typus tritt in den beiden Weltkriegen kaum in Erscheinung. Wichtigste Ausnahme sind die USA zwischen Mai 1940 und Dezember 1941, als die US-Regierung unter Roosevelt den strikt neutralen Status der Zwischenkriegszeit aufgibt und das bedrängte Großbritannien mit Rüstungsgütern unterstützt. Die USA verstehen sich nunmehr als „Arsenal der Demokratie“, wollen aber zunächst den unpopulären Einsatz eigener Soldaten unbedingt vermeiden. Bis der japanische Angriff auf Pearl Harbour am 07. Dezember 1941 in den USA eine kriegsgesellschaftliche Transformation hervorruft. Die USA 1940/41 werden in einem Beitrag als Fall einer Zivilgesellschaft im Krieg vorgestellt, auch als historische Vergleichsfolie zur aktuellen Bundesrepublik.